Wenn Patienten sagen, dass sie sterben wollen
Von Cicely Saunders
Menschen, die in einem aktiven interdisziplinären Team arbeiten, finden, daß sie sowohl eine Sensibilität im Zuhören entwickeln als auch Vertrauen, daß sie in schwierigen Situationen mit der Unterstützung der Gruppe rechnen können.
Beides wird ganz besonders dann gebraucht, wenn Patienten sagen, sie wollen sterben. Solche Bitten tauchen häufig ganz unerwartet auf, wenn man mit dem Patienten unter vier Augen ist. Dann muß man ganz aufmerksam zuhören, ohne zu streiten oder gar zu verurteilen. Manche benutzen diese Worte, um etwas ganz anderes zu vermitteln. Es ist wesentlich, daß der wirkliche Sinn dieser besonderen Bitte sorgfältig ans Licht gehoben wird. Das Thema sollte soweit wie möglich an Ort und Stelle geklärt werden. Dann muß sich das Versprechen anschließen, das Thema weiter zu besprechen. Man sollte auch um Erlaubnis bitten, mit dem Rest des Teams darüber reden zu dürfen. Das wird selten verweigert, denn die betreffende Person ist so verzweifelt, daß sie es nicht mehr allein ertragen kann.
Mit solcher Bitte gemeint sein kann: „Laß mich sterben“ oder: Ich möchte gern sterben“ und seltener: „Töte mich.“ Die Antwort auf das jeweils Gemeinte wird unterschiedlich ausfallen, und die meisten Teammitglieder werden wahrscheinlich damit zu Um haben.
„Laß mich sterben!“
Laß mich sterben“ ist die Bitte, mit jeder geplanten lebensverlängernden Behandlung jetzt aufzuhören. Der Patient fürchtet sich davor, in einer Lebensqualität weiterleben zu müssen, die er nicht länger ertragen kann. Viele Menschen haben heutzutage Angst davor, unvermeidbar auf der Intensivstation mit all ihren Prozeduren zu landen und wenig oder gar nichts dagegen tun zu können. Nachdem das Team die in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten erwogen hat, muß die für den Patienten als richtig erachtete mit ihm und seiner Familie im Vergleich zu den anderen Möglichkeiten besprochen werden. Vielleicht brauchen sie auch die Zusicherung, daß die verabreichten Medikamente und Anwendungen nur die Symptome kontrollieren sollen und damit die verbleibende Zeit leichter machen, aber nicht verlängern sollen. Ein kompetenter Patient kann eine spezielle oder die gesamte Behandlung verweigern. Er muß aber entsprechend informiert und seine Wahl dann respektiert werden. Das versteht nicht jeder Patient. Jede Entscheidung sollte neu überdacht werden können. Es muß ihnen klar sein, daß sie frei sind, ihre Meinung zu ändern. Nur für einen Patienten, der nicht mehr dazu in der Lage ist, können Familienangehörige Entscheidungen in seinem Interesse treffen (Kennedy 1984). Ein Team muß diese Frage vielleicht ausführlich erörtern, sowohl mit als auch ohne die Familie. Niemals sollte man den höchst traurigen Satz sagen: „Da kann weiter nichts mehr getan werden.“ Es kann nämlich noch viel Behandlung in Form von Symptomkontrollen und allgemeiner Unterstützung angeboten werden; und das muß dem Patienten, der Familie und dem Personal vielleicht mehr als einmal deutlich gemacht werden.
Das Team sollte gleichzeitig herauszufinden versuchen, was das Weiterleben eigentlich so schmerzlich macht. Das kann aus einer Reihe von Gesprächen mit den verschiedenen Teammitgliedern herauskommen. Die Patienten haben verschiedene Fragen und diskutieren die verschiedenen Themen mit den unterschiedlichen Fachleuten. Häufig hilft es, ihnen einen Eindruck von der wahrscheinlich verbleibenden Lebensspanne zu vermitteln, denn einige Leute glauben, daß sie noch Monate so weiterleben müssen, während es sich in Wirklichkeit eher nur noch um Wochen oder Tage handelt. Und wir müssen uns gleichzeitig darüber im klaren sein, wie schwer es überhaupt ist, auf diesem Gebiet sicher zu sein. Das zu erklären kann genügen, um das Beschwerliche, das noch zu erwarten ist, zu erleichtern.
Schmerzen, Schwäche und auch das demütigende Gefühl, abhängig zu sein, das kann alles in Angriff genommen werden. Schmerzen sind offensichtlich am leichtesten zu beheben, doch das Pflegeteam kann dem Patienten auch ersparen, sich allzusehr abhängig zu fühlen, indem es bei der Pflege darauf achtet. Jemand, der sich nicht mehr ohne Hilfe im Bett umdrehen kann, kann die Erfahrung machen, daß er diese Prozedur kaum zu merken braucht, wenn sie behutsam erfolgt und wenn ihm aufmerksam zugehört wird.
Um Angstzustände zu verringern, kann es sehr wohl notwendig sein, die Patienten über die voraussichtliche Art des endgültigen Sterbens zu beruhigen und ihnen alles zu erklären. Hospizpatienten, die abseits von anderen Patienten liegen, kann es helfen, wenn sie sehen, wie andere gestorben sind. „Ich will so friedlich sterben wie die alte Dame da drüben“, sagte eine ältere Frau im Vertrauen darauf, daß auch ihre letzten Symptome unter Kontrolle gehalten und auch sie nicht allein gelassen würde.
„Ich will sterben“
„Ich will sterben“ ist Ausdruck einer Qual, die aufmerksames und erfahrenes Hinhören erfordert. Das Teammitglied muß unbedingt versuchen, die Gründe für diesen Wunsch zu entwirren. Oft taucht er auf, wenn eine vorausgegangene Behandlung gegen Kummer und Leid unangemessen gewesen ist und wenn nur oberflächlich zugehört wurde. Es gibt da wahrscheinlich viel emotionalen Schmerz aus der Vergangenheit, den man nur erraten kann. Der Arzt muß analysieren und die Symptome behandeln und die Krankenschwester die Behandlung überwachen. Hier sind jedoch der Sozialarbeiter oder das Seelsorgemitglied des Teams angesprochen, die beide an negative Gefühle oder Verzweiflung gewöhnt sind. Ihre Aufgabe ist es jedoch, beim Ausdruck solcher Gefühle zu helfen. Ihre verletzende Kraft kann dadurch vermindert werden. Um mit dem Gesagten zurechtzukommen, braucht der Helfer vielleicht die Diskussion mit anderen Teammitgliedern. Manchmal kommt eine Depression zum Vorschein, die behandelt werden kann. Oft reicht es schon, wenn der Patient erkennt, daß er weiterhin besucht und betreut wird, ganz gleich, was gesagt wurde. So wird er allmählich von seinem persönlichen Wert überzeugt. Man kann einer anderen Person nicht vermitteln, welchen Sinn es hat, die letzte, verbleibende Zeit aus-zu-leben. Sie müssen das selbst herausfinden, und das tun sie auch häufig. Wir können das Gefühl, wertlos zu sein, lindern helfen. Ein sehr stark verändertes Körper-Bewußtsein, die quälende Sorge, eine übernommene Verantwortung nicht mehr erfüllen zu können, das verhaßte Gefühl, nach einem aktiven Leben nun passiv sein zu müssen, das alles kann als die Last, die es einfach ist, erkannt werden. Die Fähigkeit und die nur zu bewundernde Ausdauer, mit solchen Widrigkeiten umzugehen, können von einem Teammitglied gefördert werden, das die Fähigkeit hat, am Bett zu sitzen, ohne fertige Antworten zu haben. Aber dieser Mensch braucht dann hinterher in seiner eigenen Suche nach Sinn die Unterstützung des übrigen Teams. Sich einer solchen Situation immer wieder auszusetzen kann in der Isolation von Hausbetreuung äußerst schwierig sein. Denn man ist dabei ja allein. Und wenn man weiterhin wirklich ganz da-sein will, sind solche Besprechungen im Team unbedingt notwendig.
„Töte mich!“
Die spezifische Bitte „Töte mich“ oder „Mein Vater sollte nicht mehr aufwachen“ kommt immer noch äußerst selten vor trotz der – oft verworrenen – Aufmerksamkeit, die die Medien diesem Thema widmen. Die betroffene Person weiß fast mit Sicherheit, daß wir dies nicht tun können, sie ist sich aber vielleicht doch nicht ganz gewiß. Wir müssen eine klare Antwort geben, und diese ganz bestimmte Stellungnahme vermittelt eine eigene Sicherheit. Ich betone noch einmal: Das jeweilige Teammitglied muß zuhören und zeigen, daß die Verzweiflung erkannt und verstanden wird, die zu dieser Bitte geführt hat. Wir wissen, daß sie auf unbewältigte Ängste zurückführen kann oder – nur allzu verständlich – die Folge einer unzureichenden Schmerzbehandlung ist. Es muß alles, was in der palliativen Behandlung getan werden kann, angeboten und mit dem Versprechen verbunden werden, daß das unter gar keinen Umständen aufhört oder daß der Patient allein gelassen wird. Einige brauchen die Beruhigung, daß der Tod selbst ganz einfach kommen wird, wenn es gute Betreuung gibt. Und die Befreiung von Schmerzen kann dazu führen, daß die Bitte immer schwächer und schließlich vergessen wird.
Der Arzt oder die Krankenschwester dürfen nichts mit der primären Absicht tun, den Tod des Patienten zu verursachen (Kennedy 1984). Sie können dem Patienten helfen, mehr zu schlafen, wenn er es wünscht. Sie dürfen ihn aber nicht bis zum permanenten Koma sedieren. Das muß klar und deutlich erklärt und mit dem Patienten, seiner Familie und dem Team besprochen werden. Das Team muß zu jeder Zeit wissen, was sie tun und warum sie es tun. Die Pflege, das Anbieten von Getränken usw. müssen in die Zeiten fallen, in denen der Patient wach ist. Das Team muß jederzeit bereit sein, die Situation neu zu überprüfen. Einige der wenigen, die die Bitte nach aktivem Töten stellen, werden es ablehnen, mehr zu schlafen, aber sie müssen wissen, daß das Angebot bleibt und sie ihre Meinung wieder ändern können.
Gelegentlich einmal gibt es Bitten von Seiten der Familienmitglieder, mit denen man sich wirklich auseinandersetzen muß. Es kann dazu beitragen, Unstimmigkeiten zu lösen, wenn sie ihre Wut ausdrücken können. Doch das muß nicht immer der Fall sein. Das Team als Ganzes muß dann seine Gefühle untereinander austauschen und so die Erfahrung machen, daß die Stärke der zusammenhaltenden Gruppe größer ist als die einfache Summe ihrer Teile. Anläßlich einer sehr seltenen und daher außergewöhnlichen Begebenheit, als die Gruppe sich wegen eines solchen Notfalls versammelt hatte und die Stärke erkannte, die der vorher nicht diskutierte Konsens ihr gebracht hatte, stellte eine Sozialarbeiterin den Unterschied zwischen individueller Ethik und der Ethik einer Institution heraus. Die fordernde Person wurde weder mit Beschuldigungen noch mit Argumenten konfrontiert. Die Patientin selbst war eher ambivalent eingestellt, obwohl sie sehr verzweifelt war. Die Entlassung aus dem Hospiz und eine Hausbetreuung wurden veranlaßt, aber die Patientin wünschte nach einer kurzen Zeit, wieder ins Hospiz zurückzukommen, und starb – ohne physische Qualen – drei Wochen, nachdem das Team mit der Bitte konfrontiert worden war. Sie kam mit ihrer Lage überhaupt nicht zurecht, und das kleine Pflegeteam, das für sie zuständig war, brauchte die ganze Unterstützung des restlichen Teams. Sowohl das Gesetz als auch unser Berufsverständnis machten es uns unmöglich, ihr zu geben, um was sie immer noch von Zeit zu Zeit fragte, doch niemand aus der Betreuung verweigerte ihr das Zuhören.
„Alles, was recht und notwendig ist“
Mitarbeiter/innen in Hospizen und in der palliativen Betreuung vertreten den oben beschriebenen Standpunkt. Die rechtliche Grundlage dafür wird von Kennedy (1984) diskutiert und von Devlin (1985) wie folgt zusammengefaßt:
„Wenn die erste Absicht in der Medizin, die Wiederherstellung der Gesundheit, nicht mehr erreicht werden kann, gibt es für einen Arzt immer noch viel zu tun. Er ist berechtigt, alles zu tun, was recht und notwendig ist, um Schmerzen und Leiden zu erleichtern, selbst wenn die Maßnahmen, die er ergreift, zufällig vielleicht das Leben verkürzen. Damit sollen nicht etwa die Mediziner besonders geschützt werden, denn kein Akt ist Mord, der nicht unmittelbar den Tod verursacht. Wir fragen hier nicht philosophisch oder technisch, sondern mit dem gesunden Menschenverstand. Die Ursache des Todes ist die Krankheit oder die Verletzung. Eine angemessene ärztliche Behandlung, die zufällig für den genauen Zeitpunkt des Todes mitverantwortlich ist, ist nach keinem vernünftigen Gebrauch des Ausdruckes die Ursache des Todes. Aber… kein Arzt, noch irgendein anderer Mensch hat das Recht, weder bei Sterbenden noch bei Gesunden, absichtlich den Lebensfaden durchzuschneiden.“
Diese Rechtslage schützt viele Menschen, die genau dieser Gefahr ausgesetzt sind, weil für sie das Recht zu sterben zur mutmaßlichen Pflicht werden kann: „Ich bin jetzt nur noch eine wertlose Last.“ Ich habe zur Hospizbetreuung vor vielen Jahren einmal folgendes formuliert: „Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind, und Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig. Wir werden tun, was wir nur können, um Ihnen zu helfen, nicht nur in Frieden zu sterben, sondern auch bis zuletzt zu leben.“ Wir wollen die nicht verurteilen, die ihrem eigenen Leben ein Ende bereiten. Aber wir glauben, als professionelles Team sollten wir nicht freiwillig den Schritt tun, eine solche Entscheidung zu unterstützen. Patienten werden ständig mit Medikamenten nach Hause entlassen, die für einen beträchtlichen Zeitraum reichen, so wie auch die oben erwähnte Patientin. Trotzdem kommt es ganz selten vor, daß Patienten absichtlich eine Überdosierung nehmen. Es ist ihre Entscheidung. Das muß immer erinnert werden, wenn ein Team meint, versagt zu haben. Die grundsätzliche Philosophie von der Natur der Person und ihre Freiheit zu wählen sind hier sowohl auf den Patienten als auch auf das Team zu beziehen. Sich im fachlichen und betreuenden Rahmen immer wieder zu fragen, was dies bedeutet, kann zu einer erhellenden Diskussion führen.
Die beiden ersten oben erwähnten Bitten sind viel häufiger als die dritte, aber jedesmal und in jedem einzelnen Fall müssen wir uns damit auseinandersetzen, uns darüber austauschen und dem betreffenden Patienten so gut wie möglich durch seine Verzweiflung hindurchhelfen. Der Gebrauch, den die Patienten und ihre Familienangehörigen so oft von der bleibenden Zeit noch machen, zeigt sehr genau die positive Seite der Einstellung, die Hospizhelfer gegen eine freiwillige Lebensverkürzung haben.
Es ist selbstverständlich, daß zugleich alles unternommen wird, um körperliches Leiden und soweit wie möglich auch seelische Belastung zu erleichtern. Es kommt nicht häufig vor, daß die Verabreichung von Medikamenten gegen Schmerzen und Unruhe im Endstadium an sich das Leben verkürzt. Doch das ist ein Risiko, das manchmal eingegangen werden muß, wenn es keine Alternative gibt. Jede Injektion, die gegen Ende oder am Ende gegeben wird, muß der Familie erklärt werden, und manchmal muß dies auch mit neuen oder unerfahrenen Teammitgliedern besprochen werden. Devlins Ausführungen sind hier hilfreich, aber nichts kann eine sorgfältige Diskussion im ganzen Team ersetzen. Denn nur dann gibt es in solchen Situationen die nötige gegenseitige Unterstützung.
Daß solche Bitten überhaupt an ein Hospizteam gestellt werden, ist ein Zeichen dafür, daß die Patienten die Freiheit haben, auch solche Gefühle frei zu äußern, die ihrer Meinung nach nicht akzeptabel sind. Die meisten Anliegen werden letzten Endes in Ruhe gelöst, und zu keiner Zeit wird das ganze Team mehr gebraucht als hier.
DEVLIN, P. (1985), Easing the Passing – The trial of Dr. John Bodkin Adams. The Bodley Head, London.
KENNEDY, IAN McC. (1984), The Treatment relating to the terminally ill, in: Saunders, C. (Hrsg.), The Management of Terminal Malignant Disease (2. Aufl.). Edward Arnold, London.
Quelle: Cicely Saunders (Hrsg.), Hospiz und Begleitung im Schmerz, Freiburg i.Br.: Herder, 1993, S. 117-124.