Über Entzeitlichung und Entewigung in der Multioptionsgesellschaft
Von Peter Gross
Das flexibilisierte Verhältnis von Arbeits- und Freizeiten ist indes nur die öffentlich diskutierte Oberfläche der fundamentalen Deregulierung verbindlicher Obligationszeiten. Zu Hause und in den Selbstbedienungsgaststätten kann man essen, wann man will. Das Mittagessen ist – zumindest am Wochenende – unverbindlich geworden. Feste Bettzeiten oder Schlafzeiten gibt es nicht mehr. Man treibt zu jeder Tages- und Nachtzeit Sport. Der morgendliche Jogger ist uns so selbstverständlich wie der Nachbar, der abends zehn Uhr seine Tennisstunde absolviert. Bezüglich des Sexes gibt es keine Rhythmen zwischen enthaltsamen und nicht enthaltsamen Zeiten mehr. In den Kaufläden kaufen wir das ganze Jahr Rosen; die Jahreszeiten werden, wie auch die biologischen Rhythmen, technisch übertölpelt.
Die weggeschmolzenen Verbindlichkeiten betreffen alle Zeitdimensionen. Wir tragen Uhren, auf denen alle Zeiten der Orte angegeben sind, wo wir gerade nicht sind. Die Uhr zeigt nur eine Zeitdimension, die physikalisch kontrollierte Uhrzeit. Erst im 16. Jahrhundert begann man sich an eine Zeitmessung zu gewöhnen, zuerst für den Gottesdienst und von den Turmuhren, dann von den Rathäusern, schließlich von den Stand-, Wand-, Tisch- und Taschenuhren, heute von den Armbanduhren. Als fabelhafte und unsinnige Kunstwerke, die immer genauer messen (auf die 1/100 sec.!), deren Ganggenauigkeit in die nächsten Jahrtausende reicht (genauer als die planetarische Zeit) und deren Resistenz unterdessen Wassertiefen erreicht, in die wir ohne gepanzerte Unterseeboote überhaupt nicht vorrücken können, gaukeln sie uns ein immer präziseres Zeitmanagement vor. Sowohl die Zäsuren zwischen Arbeits- und Freizeit, als auch alle marktgängigen Kalendarien und Zeitplanungssysteme bewegen sich ebenfalls in der Uhrzeitdimension. Das moderne Zeitbewußtsein mag sich in die Esperanto-Zeit flüchten, lebenspraktisch wissen wir um die Vordringlichkeit, die lebenspraktische Dominanz der erlebten Zeit und der Lebenszeit. Die Schrecksekunde dauert ewig und die schönen Stunden und Tage, ach – wie fliehen sie dahin! In der Mitte des Lebens beginnen wir unser noch zu erwartendes Alter zu zählen und wir wissen um die Verteilung von Zeitwohlständen und Zeitnöten im Lebenslauf; z. B. davon, daß trotz Zeitwohlstand im Alter die Zeit, je näher man dem Tode rückt, um so schneller zerrinnt.
Mit dem Verlust der religiösen Rahmenerzählungen haben wir auch die Ewigkeit verloren, die Weltzeit ist geschrumpft auf die individuelle Lebenszeit. Wir suchen uns Ewigkeitssubstitute in den Kindern, dem Laub der Erde, aber das Diesseits erfährt eine enorme Verdichtung, ein einziges Leben muß genügen, um die Träume vom Jenseits im Diesseits zu realisieren. Der Druck wird erhöht durch die Verkürzungen, welche die für die materiellen Wunschparadiese notwendigen Erwerbszeiten erfahren: die Arbeitszeit wird am Tag, in der Woche, im Jahr und auch als Lebensarbeitszeit verkürzt, die Ausbildungszeiten andererseits verlängert, der Tod künstlich hinausgeschoben, ganze Gruppen der Bevölkerung auf ein kalendarisches Signal hin aus dem Erwerbsstand gekippt. Das Verblassen der religiösen Rahmenerzählungen läßt nicht nur die Ewigkeit verschwinden, sondern auch die Geschichte als Heilsgeschichte, als Universalgeschichte. Wie die Zukünfte optioniert, werden auch die geschichtlichen Deutungen beliebig. Hat Tell gelebt oder nicht, gab es den Rütlischwur, wann lebte eigentlich Jesus?
Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 80f.