Dietrich Bonhoeffer. Person und Werk[1]
Von Eberhard Bethge
I.
Dietrich Bonhoeffer wußte zwei Dinge. Er wußte, daß einer die Schönheit dieser Welt genießen kann, indem er bereit ist, sie zu opfern: die Früchte der Erde, die Wärme der Sonne, Freundschaften, Humor und die Spiele des Geistes. Er hatte eine Schwäche für Menschen, die mit Geschmack aus einer Mahlzeit etwas zu machen verstanden. Er lehrte, wie man Feste feiert. Er konnte diese Dinge opfern, und als er sie opferte, liebte er, anderen zu zeigen, wie man mit den Schönheiten der Erde umgeht. „Genießt, was Euch noch begegnet“ schrieb er mitten in Verhören und unter Bombenteppichen. Er war immer sehr großzügig.
Zum anderen: Er wußte, daß Worte nur Gewicht haben, wenn sie die Ermächtigung der Situation und der Persönlichkeit mit sich tragen. Sein Werk war ständig begleitet von Experimenten und Wagnissen. Er war gequält von der Zungenfertigkeit und von der langweiligen Gedehntheit des christlichen Redens und Predigens, des Dreinredens und Darüberhinredens. Er hat gemeint, daß man eher Gefahren der Mißverständnisse eingehen und lieber vor den Kopf stoßen soll, als die Kostbarkeit des Evangeliums weiter aufs Spiel zu setzen.
Mir scheint jetzt, daß dieses Wissen um die Kostbarkeit des Wortes Jesus Christus das durchgehende Thema in Bonhoeffers Leben ist; die Sorge ob der lästerlichen Verschleuderung der geheime Antrieb durch alle drei Perioden seines Werkes und Seins.
Die Partner und Adressaten seiner Arbeit haben gewechselt. Zunächst sind es die Theologen gewesen, in deren Gespräch er sich souverän und präzis hineinarbeitet; ihnen sagt er wider alle vage Verflüchtigung, daß Jesus Christus nirgends anders zu haben ist als in den konkreten und armselig konsistorial verfaßten Kirchen. Dann ist es die Kirche selber, in deren Kampf er von Beginn an in voller Parteinahme eintritt; ihr sagt er, daß sie mit der bindungslosen billigen Verschleuderung der Gnade die Welt um die Gnade Christi betrügt. Und am Ende sind es schuldbeladene Teilhaber an dem rasenden Ablauf eines Weltabschnittes: Juristen, Soldaten, Wächter und Gefangene, Verschwörer und Atheisten; ihnen zeigt er, daß Jesus Christus keine Gestalt einer verdrängten religiösen Provinz ist, ein Stück aus dem religiösen Warenhaus zu herabgesetzten Preisen, sondern ein brüderlicher Herr dieser modernen Welt.
Weil seine Sache so kostbar ist, muß Bonhoeffer soviel offen lassen. Nie ist er fertig, nie weiß er schon alles; nie wiederholt er, wenn er einmal seinen Beitrag gegeben hat. Das Kostbare kommt nicht auf das literarische Produktionsband. Jesus Christus bedeutet für ihn in jedem Abschnitt eine verwirrende Fülle neuer Entdeckungen, reich und herausfordernd, enthüllend und beschämend, er bindet und kommt daher mit lauter freundlichen Erlaubnissen. Ein Rabbiner schrieb mir nach dem Erscheinen von „Widerstand und Ergebung“, durch Bonhoeffer sei ihm zum erstenmal verständlich geworden, daß einer zur Anbetung der Person Jesu kommen könne.
II.
Zweimal hatte Bonhoeffer eine folgenreiche Entscheidung zu treffen. Jedesmal brach sie ab, was er sich für seinen eigenen Weg gewünscht hatte.
1. Als er 1934 Pfarrer in London war, bekam er eine Einladung nach Indien, Gandhi zu treffen. Schon in New York war er 1930 von den verschiedenen Formen des Pazifismus und von den Problemen des Stadtteiles Harlem angezogen. Zwar findet sich in seinem damaligen Amerikabericht die jugendlich-stolze Bemerkung: „Wir haben diesen amerikanischen Studenten und Professoren gegenüber eine ganze Dimension mehr“, aber er war frei, Tatbestände zu entdecken, und neugierig, die wesentliche Stelle aufzuspüren, wo Christus sich in anderen Breiten aufhalten könnte. Die non-violence mit eigenen Augen studieren zu können, reizte Bonhoeffer brennend. C. F. Andrews, Freund und Biograph Gandhis, war der Vermittler. Es war damals für einen jungen Deutschen noch eine Seltenheit, ein Stück Welt sehen zu sollen, das so völlig von der eigenen differierte.
Mitten in die Vorbereitungen für Indien kam der Ruf, eines der neu einzurichtenden Predigerseminare der Bekennenden Kirche zu übernehmen. Die Bekennende Kirche war zu dem Entschluß gekommen, keinen ihrer Theologen mehr auf die Seminare der offiziellen Kirche zu schicken. Ein Aufschub konnte nicht riskiert werden. So fiel die Entscheidung im Frühjahr 1935: zurück in ein pommersches strohgedecktes Provisorium, in dem Humor und Kirchenkampfbegeisterung über vieles hinweghalfen.
Diese Entscheidung Bonhoeffers bedeutete noch keine Lebensbedrohung. Trotz aller Ungewißheit und persönlicher Opfer war sie ein Teil der ersten Kirchenkampfjahre, die jetzt im Rückblick voller Optimismus erscheinen.
Aber aus der gehorsamen Entscheidung resultierte eine neue Konzentration auf den Gehorsam der Kirche. Die erste Vorlesung des Seminars führte uns mitten in seine Auslegung der Bergpredigt. Es entstand die „Nachfolge“, die ihn damals bekanntgemacht hat. Die Formel klang anstößig, aber sie blieb hängen: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt“ (N 19). Wir protestierten, aber er lehrte uns, die Frage des Gehorsams in eigenem Gehorsam zu überprüfen, um zu erfahren, daß nur die teure Gnade Gnade ist, die billige aber aus der Kirche einen Kramladen macht.
In dieser Zeit entstand das Bruderhaus in Finkenwalde, dessen Fama von einem düsteren klösterlichen Leben alsbald die Runde machte. So heißt es in dem Brief Bonhoeffers vom 6. 9. 1935 an den Bruderrat der APU:
„1. … Die Last der Verkündigung ist heute für den einzelnen Pfarrer, der nicht Prophet, sondern Amtsträger der Kirche ist, besonders groß. Sowohl in der Frage nach dem Inhalt der Verkündigung wie in der tatsächlichen Ausrichtung der– Verkündigung bedarf er der brüderlichen Hilfe und Gemeinschaft … Nicht nur Theologische Arbeitskollegien und gelegentliche gottesdienstliche Gemeinschaft, sondern eine fest geordnete und geregelte Gemeinschaft des Lebens tritt als neue Aufgabe auf. Eine Verkündigung, die aus praktischer, gelebter und erfahrener Bruderschaft kommt, wird sachlicher und unerschrockener sein können und weniger in der Gefahr der Versandung stehen …
2. Die Frage nach dem christlichen Leben ist unter der jungen Theologenschaft neu erwacht. Ihr ist heute nicht mehr glaubwürdig zu begegnen mit Schlagworten wie Schwarmgeisterei oder unlutherische Haltung. Das wird nur noch als Ausflucht empfunden. Die Antwort auf diese Frage aber wird nicht abstrakt, sondern nur durch ein konkretes, nüchternes Zusammenleben und gemeinsames Sich-Besinnen auf die Gebote gegeben werden können. Der vagen Empfindung, als sei im Leben des Pfarrerstandes etwas nicht in Ordnung, wird zur Klarheit verhülfen allein durch den praktischen Versuch einer gemeinsamen Übung im Gehorsam gegen die Gebote …
3. Um in den gegenwärtigen und kommenden kirchlichen Kämpfen das Wort Gottes zur Entscheidung und zur Scheidung der Geister zu predigen, um in jeder neu erwachsenden Notlage sofort zum Dienst der Verkündigung bereit zu sein, bedarf es einer Gruppe völlig freier einsatzbereiter Pastoren. Sie müssen bereit sein, unter allen äußeren Umständen, unter Verzicht auf alle finanziellen und sonstigen Privilegien des Pfarrerstandes zur Stelle zu sein, wo der Dienst gefordert wird. Indem sie aus einer Bruderschaft herkommen und immer wieder in sie zurückkehren, finden sie dort die Heimat und die Gemeinschaft, die sie für ihren Dienst brauchen. Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den Dienst nach außen ist das Ziel.
4. Der vereinzelt im Amt stehende Pfarrer braucht immer wieder ein geistliches Refugium, in dem er sich in strenger, christlicher Lebensführung, im Gebet, Meditation, Schriftstudium und brüderlicher Aussprache für sein Amt stärkt. Solche Zufluchtsstätten sollen geschaffen werden, wobei zugleich die Frage der Vertretung im Amt von der Bruderschaft aus leicht zu regeln ist. Auch Laien muß solche Zufluchtsstätte geboten werden.
5. In der Erkenntnis, daß jeder junge Pfarrer heute im Dienst der Gemeinde gebraucht wird, und bei aller Schwere des Entschlusses, sich diesem Dienst zeitweilig zu versagen, ist es dennoch unsere gewissenhaft geprüfte Meinung, daß der Dienst von einigen jungen Pfarrern an dieser über die Gemeinde hinausgehenden Arbeit unerläßlich ist. Die Entscheidung muß in jedem Einzelfall im Einverständnis mit dem Provinzialbruderrat gesucht werden …“
Bis zur Auflösung des Seminars durch einen Himmler-Erlaß im August 1937 lebte dieser Versuch eines Bruderhauses. So sind nicht Forderungen und Wünsche, sondern praktische Erfahrungen in das Büchlein „Gemeinsames Leben“ eingegangen. Anstöße liegen schon in Bonhoeffers Zeit in England, wo er aufmerksam anglikanische evangelische Klöster besucht und manche Anregung für den praktischen Ablauf des Tages einer solchen Gemeinschaft empfangen hatte.
2. Die andere Entscheidung griff tiefer. Diesmal rührte sie an das Leben. Ende Mai 1939 ging er an Bord der Europa nach USA. Die Gründe für diese Reise sind ein ganzes Bündel und die Begründungen auch.
Es lagen Einladungen vor vom Federal Council of Churches und vom Union Theological Seminary, wo Bonhoeffer 1930 studiert hatte. Niebuhr, der die Sache betrieb, hatte nicht ohne Grund gemeint, diesen Mann aus der kommenden Entscheidung heraushalten zu müssen, wenn es an ihn komme, den Dienst mit der Waffe zu tun. Bonhoeffer war tatsächlich in den Jahren seiner Beschäftigung mit dem christlichen Pazifismus so weit gekommen, daß er zu dieser Zeit die Kriegsdienstverweigerung für seine eigene Person in Betracht zog. Der Bruderrat der Bekennenden Kirche hatte nach langen Überlegungen endlich eingewilligt, den brennend benötigten Lehrer im Namen der wenigen noch existierenden ökumenischen Verbindungen gehen zu lassen.
Kaum in USA, begann Bonhoeffer aber schon wieder, mit den Einladenden darüber zu verhandeln, wie er sich den Weg zurück offen halten könne. So steht in einem Tagebuch: „Ich begreife nicht, warum ich hier bin … Das kurze Gebet, in dem wir an die deutschen Brüder dachten, hat mich fast überwältigt… Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland… Ich will für den Kriegsfall nicht hier sein …“ Und wenig später heißt es: „Seit ich auf dem Schiff bin, hat die innere Entzweiung über die Zukunft aufgehört.“ Paul Lehmann, Professor für Ethik in Princeton, war noch auf das Schiff gekommen, um ihn vielleicht doch noch herunterzuholen. Er ahnte wohl, was diese Reise bedeutete.
1935 war der Weg vom Westen nach Osten ein Schritt innerhalb des „Mandates der Kirche“ und es wehten noch ganz lustig Kirchenfahnen. Diesmal war es bereits einer bewußt in den Mandaten der politischen Gemeinschaften, der eigenen und der anderen Nationen, freilich ganz ohne Fahnen. Es war kein Kreuzzug von West nach Ost: Kampf dem Tyrannen, befreit die Unterdrückten!, sondern es war die „Schuldübernahme“, getrieben von Scham und Liebe. Er war in den Westen gegangen, um das Schwert nicht nehmen zu müssen, und er kehrte um, es zu nehmen. Er hat gewußt und ausgesprochen, daß, wer es nimmt, auch dadurch umkommen wird. Die Bereitschaft, diesen Richtspruch willig anzunehmen, war das innere Thema, das zunächst tastend und dann immer klarer die Jahre beherrschte. Als er damit spielte, sich herauszuhalten und seine reichlichen Möglichkeiten zu nutzen, wußte er doch, daß er zu zahlen hatte. Wie — das war nicht sofort deutlich. Aber nun ging er aus den „letzten“ in die „vorletzten Dinge“. Die letzten schienen klar und einfach, die vorletzten waren verwickelt und mußten es auf sich nehmen, nicht mehr eindeutig sein zu können und dennoch mit Blut bezahlt werden zu sollen. Gleichwohl begann jetzt nicht etwa eine Zeit der Düsternis und der Bedrücktheit; es erschien kein Glanz des Tragischen, des ungelösten Konfliktes über ihm, sondern eine neue Freiheit und Freude an Menschen, Spielen und Farben. In dieser Zeit hat er sich auch verlobt.
1935 begann er die „Nachfolge“ zu schreiben, 1939 machte er sich an die „Ethik“. Später hat er selbst gesagt, daß die Nachfolge einen Abschluß bedeute, von dem er freilich auch nicht zurücktreten wolle (WE 248). Es war lange keine Ethik mehr geschrieben worden, und er war der erste, der sich bewußt wieder an dieses eine zeitlang verpönte Fach der Theologie heranmachte. Er hätte sich damit freilich nicht antibarthisch ausnutzen lassen. Er hätte es überhaupt nicht erlaubt, ihn zu einem Schulhaupt wider Barth zu machen; wenn er Fragen an diesen hatte, so verstand er sie als eine Kritik innerhalb Barth’s und nicht an diesem vorbei. 1939 hatte Professor John Baillie Bonhoeffer nach Edinburgh eingeladen, die Croal- Lectures zu halten. Sie kamen nicht mehr zustande, aber die Entwürfe dafür sind der Anfang seiner neuen Arbeit. Wieder ist es kein rein intellektuelles Arbeiten. Er hat zwar die abstrakte Luft der akademischen Tradition, in der er aufgewachsen war, niemals billig verlästert; aber Denken und Existenz durchdringen sich bei ihm unlöslich. Er kommt aus Amerika zurück und es entsteht eben ein Kapitel mit der Überschrift „Schuldübernahme“ (E 186). Wie so oft, ist es nicht zu entscheiden, ob die Gedanken seine neue Existenz und ihre Aktionen bestimmen, oder ob die spezifische Existenz und ihre Erfordernisse die Gedanken ins Leben riefen. Die Verantwortung, über die er schreibt und lehren will, kam mit jedem Tag kompakter auf ihn zu.
Zum Verständnis dieser Jahre noch ein anderes. In der „Ethik“ bestreitet er die absolute Ethik. Es komme alles darauf an, den eigenen relativen Standort zu erkennen und von diesem aus im Glauben zu handeln und zu gehorchen. Christus wird nicht im Absoluten, sondern in diesem Relativen nur ernsthaft angenommen. Darum hat jeder das Seine, die Verantwortung und Schuld der eigenen Sphäre anzunehmen. Bonhoeffer wurde es jetzt immer dringender, die Verantwortung seiner persönlichen Herkunft und ihr Gericht zu erkennen. Er wurde sich immer mehr seiner bürgerlichen Herkunft bewußt. Er konnte es jetzt weniger gut vertragen, wenn der Bürger verächtlich gemacht wurde. Er bekam eine neue Vorliebe für das 19. Jahrhundert. In der Finkenwalder Zeit hatte er versucht, uns aus den bürgerlichen Bindungen zu lösen: die großen Feste sollten nicht mehr der Familie, sondern den Brüdern gehören. Jetzt genoß er, was er nur immer von dem Elternhaus noch haben konnte — die Gestapo versuchte seit 1940, ihn davon abzuschneiden. Das Fragment des Romanes, den er in der Zelle begann, ist nichts anderes als eine Liebeserklärung an seine bürgerliche Heimat. Und in dem anderen, ebenso abgebrochenen Versuch eines Dramas läßt er den sehr gesunden, durch den Krieg freilich vom Tode gezeichneten Sohn eines bürgerlichen Hauses (eines Arzthauses) mit einem jungen Proletarier in einen Disput kommen:
„Christoph: ‚… Aber auch Du kennst meine Welt nicht. Ich stamme aus einem sogenannten guten Haus, d. h. aus einer alten angesehenen Bürgerfamilie, und ich gehöre nicht zu denen, die sich schämen, das auszusprechen. Im Gegenteil, ich weiß, was für eine stille Kraft in einem guten Bürgerhaus lebt. Das kann keiner wissen, der nicht hineingewachsen ist … Aber eins mußt Du wissen: Wir sind groß geworden in der Ehrfurcht vor dem Gewordenen und dem Gegebenen und damit in der Achtung vor jedem Menschen. Mißtrauen gilt uns als gemein und niederträchtig. Das unbefangene Wort und die unbefangene Tat des anderen Menschen suchen wir und wollen wir ohne Argwohn hinnehmen …‘
Heinrich: ‚… Wir wollen etwas viel Einfacheres. Boden unter den Füßen, um leben zu können. Das ist es, was ich das Fundament nannte. Spürst Du den Unterschied nicht? Ihr habt ein Fundament, Ihr habt Boden unter den Füßen, Ihr habt einen Platz in der Welt, für Euch gibt es Selbstverständlichkeiten, für die Ihr einsteht und für die Ihr Euch auch ruhig den Kopf abschlagen lassen könnt, weil Ihr wißt, daß Eure Wurzeln so tief liegen, daß sie wieder treiben werden … Diesen Boden haben wir nicht; … darum haben wir nichts, wofür wir uns den Kopf abschlagen lassen können und wollen …‘
Christoph (nachdenklich geworden): ‚Boden unter den Füßen. Ich habe das so nicht gewußt. Ich glaube, Du hast recht. Ich verstehe, Boden unter den Füßen — um leben und sterben zu können.‘
Heinrich: ‚… welche Schuld trifft die, die man ins Leben hineingestoßen hat, ohne ihnen Boden unter die Füße zu geben? Kannst Du an ihnen vorübergehen und vorbeireden? …‘„
Hier sind Bonhoeffers Erlebnisse mit den Konfirmanden aus dem Berliner Wedding 1929 und die Wohnlaube in Biesental, die er für sie einrichtete, wieder da — in dem Moment, als es für ihn darauf ankam, in Tegel das Vertrauen der Wächter und Zellennachbarn zu haben. „Ja, Boden unter den Füßen … ich habe das so nicht gewußt.“ Er wußte um das vage Existenzrecht des Bürgertums. Er war bereit, einzustehen für das auf dem Höhepunkt angelangte Aufgeben der Verantwortlichkeit für das öffentliche und dem Namen des Bürgers wiederzugeben, was er verloren hatte.
Ein Mensch wird so weit in das Gedächtnis der Menschen eingeschrieben, wie er seinen Ort wahrnimmt und an ihm tut, was auf ihn — und nicht auf seinen Nebenmann — zukommt. Er wird so wirksam, wie er seine spezifische — und nicht eine immer gleichbleibende — Aufgabe sieht und angreift. Vielleicht darf hier schon aus den Briefen zitiert werden:
„Anfangs beschäftigte mich die Frage, ob es wirklich die Sache Christi sei, um derentwillen ich Euch allen solchen Kummer zufüge, aber bald schlug ich mir diese Frage als Anfechtung aus dem Kopf und wurde gewiß, daß gerade das Durchstehen eines solchen Grenzfalles mit aller seiner Problematik mein Auftrag sei, und wurde darüber ganz froh und bin es bis heute geblieben“ … „Du mußt wissen, daß ich noch keinen Augenblick meine Rückkehr 1939 bereut habe, noch auch irgend etwas von dem, was dann folgte. Das geschah in voller Klarheit und mit bestem Gewissen. Daß ich jetzt sitze, rechne ich auch zu dem Teilnehmen an dem Schicksal Deutschlands, zu dem ich entschlossen war“ (WE 92 und 129).
Diese Zitate von der Grenzsituation gehören nun freilich auch in die spezifische Situation von Kenntnis und Beteiligung, in der Bonhoeffer durch seine engste Umgebung stand. Hans von Dohnanyi, Freund und Schwager, war einer der Hauptbeauftragten des Generals Beck. Er hatte u. a. die Dokumente zu sammeln, die nach Gefangennahme oder Beseitigung Hitlers dem deutschen Volk die Hintergründe und Verbrechen des Regimes evident machten. Damit sollte das Entstehen einer Dolchstoßlegende verhindert werden. Ein gewisser Höhepunkt dieser Tätigkeit war mit der General-Fritsch-Krise im Februar 1938 erreicht. Von nun an war Bonhoeffer ständig über Fortschritt und Rückfall der Widerstandsarbeit unterrichtet. Etwa diese Zeit markiert den Wendepunkt.
Er fand sich mehr und mehr aus der mittelbaren Mitverantwortlichkeit am deutschen Schicksal in die unmittelbare Mitschuld und Mitverhaftung hineingezogen. In der mittelbaren konnte man mit seinem Einsatz für die Kirche das Übrige ruhig Gott befehlen. In der unmittelbaren war es aber gerade dieses „Übrige“, in dem Gott nach Leuten rief, die sich endlich bewährten. Wenn die Bürger in den verschiedenen Mandaten des Rechtes, der Verwaltung, des Heeres, der Forschung die ihnen befohlene Verantwortlichkeit Schritt um Schritt delegierten an einen, der jenseits der Verantwortung stand, wenn sie Würde gegen Würden eintauschten, dann konnte es unter den Sehenden eben auch an einen Pastor kommen: willst Du in dieser Notstands- und Grenzlage stellvertretend ein Stück der Verantwortlichkeiten mitübernehmen, die nicht genug Träger mehr finden? Als ein italienischer Mitgefangener beim Spaziergang auf dem Hof Bonhoeffer einmal fragte, wie er denn als Christ und Pfarrer sich an einem Komplott beteiligen könne — es war keine Zeit, lange zu argumentieren —, sagte er: „Wenn ein Wahnsinniger auf dem Kurfürstendamm sein Auto über den Gehweg steuert, so kann ich als Pastor nicht nur die Toten beerdigen und die Angehörigen trösten; ich muß hinzuspringen und den Fahrer vom Steuer reißen, wenn ich eben gerade an dieser Stelle stehe.“ Der Gedanke findet sich übrigens schon sehr früh in einem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“: „Die dritte Möglichkeit (der Kirche) besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen …“ (Der Vormarsch, Juni 1933, S. 174).
Wieviel Gedanken man sich gemacht hat, ob es denn erlaubt und recht sei, den Mann am Steuer abzuschießen oder ihn zu verhaften (lange Zeit der Plan Becks) und vor ein Gericht zu stellen, ist inzwischen genügend bekannt. Bonhoeffer, der mit Moltke 1942 eine längere gemeinsame Reise im Auftrag der Abwehr nach Norwegen machte, teilte dessen Ansicht nicht, daß man das Gericht am deutschen Volk bis zum Ende sich austoben lassen müsse. Er war an den Überlegungen über die Art der Gewaltanwendung in vielen Stadien beteiligt. Er führte jetzt sein Leben zwischen den Aufträgen der Bekennenden Kirche und den durch das Amt Canaris ermöglichten Reisen u. a. nach Basel oder Stockholm; zwischen Visitationen, theologischer Arbeit an der „Ethik“ im Kloster Ettal, auf dem Kleistschen Gut in Klein-Krössin und der zwielichtigen Beantragung von Pässen und Kurierausweisen mit dem Stempel der Abwehr — so zwielichtig, daß selbst Karl Barth an Bonhoeffers Loyalität einmal zweifelte, als dieser allzu glatt bei ihm in Basel erschien. Deshalb war Dietrich Bonhoeffer die Zigarre so wichtig, die ihm Barth als einen sakramental-leiblich greifbaren Gruß der Gemeinschaft in die Zelle nach Tegel schickte (WE 106)!
Bonhoeffer hat wohl unterschiedene Perioden der Verantwortlichkeit in seinem Leben gesehen, aber er hat keinen inneren Bruch zwischen der Zeit der „Nachfolge“‘ und der Zeit der „Ethik“ gespürt und anerkennen wollen. Er hat nicht gemeint, von dem klaren, freilich ganz anders gearteten Zeugnis Paul Schneiders aus Dickenschied getrennt zu sein. Wie es an ihn gekommen ist, wäre es ihm als eine unerlaubte Flucht erschienen, sich den ihm zugewachsenen Kontakten zu entziehen in einen sündlosen Raum. Das war ja gerade die Sünde seiner Klasse vor Gott und Menschen: die Flucht vor der Verantwortung, gleichgültig ob in einen frommen Raum oder in private Versicherungen oder in öffentliche Würden. Nicht jeder sollte so handeln wie er, aber jeder sollte den Ruf an seinem Ort vernehmen und ihm nicht ausweichen. „Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethische Begriffe auf. Es bleibt ein Rest, das Wagnis des Handelns“ (E 268).
Paul Schneider stand für das erste Gebot und die erste Tafel. Dietrich Bonhoeffer stand für die zweite Tafel, ja für das fünfte Gebot. Im Jahr 1934 in Fanö (s. Unterwegs, 1954, H. 3) unmittelbar, jetzt mittelbar und willig, das Gericht dieses fünften Gebotes auf sich fallen zu lassen. Beide sind darin vereint, daß sie mit keinem weltlichen Mittel und keiner paktierenden Klugheit die Kirche Christi schützen oder verteidigen wollten. Beide haben ihre Sorge ausgesprochen, daß selbst die Bekennende Kirche mit dem besorgten Kampf um Stempel und Finanzen ihre Vollmacht aufs Spiel setzte, statt sie mit dem Ruf für die Juden zu gewinnen.
Die Kirche hat heute einen leichten Zugang zu Paul Schneider, aber sie fühlt sich in offiziellen Gremien unwohl bei der Herausforderung ihres Dieners Bonhoeffer. Vor der Einweihung einer Tafel in der Kirche des Todesortes gab es ein Zögern in einer Kirchenleitung: es müßte erst geprüft werden, ob Bonhoeffer wirklich für Christus den Tod erlitten habe. So sucht man sich den Bonhoeffer der „Nachfolge“ oder des „Gemeinsamen Lebens“ heraus. Aber er läßt keine Ruhe. Paul Schneider ruft die Welt zur Kirche! Dietrich Bonhoeffer ruft die Kirche zur Welt. Paul Schneider predigt die Gottlosigkeit der Welt. Dietrich Bonhoeffer predigt die Gottlosigkeit der Kirche. 1946 schrieben Pastoren einer norddeutschen Stadt an Bonhoeffers Vater, daß der sozialistische Stadtrat neue Straßennamen beschließen und mitten unter den politischen und sozialistischen Opfern auch Dietrichs Namen anbringen wolle. Er möchte doch etwas tun, daß Dietrichs Name nicht in dieser Umgebung auftauche. Er antwortete kurz: sein Sohn sei mit lauter Verschwörern zusammen gestorben, er sähe nicht, warum er daran etwas verfälschen solle!
Die Kirche sollte nicht Paul Schneider ohne Dietrich Bonhoeffer haben wollen — auch nicht Dietrich Bonhoeffer ohne Paul Schneider. Sie beide sind der volle Reichtum unserer gegenwärtigen Kirchengeschichte. Nur der Kirchengeschichte?
III.
Dieser Mann hat nun ein Werk hinterlassen, das übersehbar ist. Kein sehr dicker Band ist unter den Büchern. Keine verbesserten und veränderten Neuauflagen sind zu vergleichen und zu studieren. Es beginnt mit sehr gerafften und geschlossenen Arbeiten und endet mit posthumen Fragmenten. Es fängt an mit einer souveränen Fähigkeit zu argumentieren und sich der Fülle der theologischen Gesprächspartner zu stellen und es schließt ab weit vorn bei der ungemütlichen, ungesicherten Vorhut. Es ist schwer, mit dem schwerfälligen Gros zu folgen und die Verbindung nach vorn intaktzuhalten.
1. Mit 21 Jahren schrieb er das eben wieder aufgelegte Buch „Sanctorum Communio“, eine strenge dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche. Ernst Wolf, der es wieder herausgegeben hat, sagt davon: Diese Dissertation sei „fast unbekannt geblieben oder es geworden“ aber sie sei „innerhalb der verhältnismäßig geringen Zahl neuerer Monographien zur Lehre von der Kirche wohl die scharfsinnigste und vielleicht tiefsinnigste Behandlung der Frage nach der wesenhaften Struktur der Kirche … E. Brunner hätte seine Broschüre über das ‚Mißverständnis der Kirche‘ (1952) vielleicht nicht so ungeschützt der von Bonhoeffer bereits (1927) vorweggenommenen theologischen Kritik ausgeliefert …“ (SC 5).
Es folgte „Akt und Sein“, die Habilitationsschrift 1930/31. Leider ist sie noch nicht wieder verfügbar. Mit einigen Aufsätzen, der Antrittsvorlesung und der sehr schönen Rede zu Harnacks Begräbnis im Namen von dessen Schülern (1930) bezeichnen diese zwei Bücher die erste Periode. Es sind strenge systematische Untersuchungen — so geschlossen wie schwer lesbar. Aber in beiden wird schon deutlich, wie es Bonhoeffer um die erdhafte, empirische ecclesia geht, die Gegenwart Christi in der damaligen konsistorialen Volkskirche. „Liebe und tiefer dogmatischer Einblick in den Sinn der Geschichtlichkeit der Kirche haben es Luther schwer gemacht, sich von der römischen Kirche loszureißen. Ressentiment und dogmatischer Leichtsinn sollen uns nicht kurzer Hand unsere geschichtliche evangelische Kirche nehmen können“ (SC 166). — „Die Versammlung der Gläubigen bleibt unsere Mutter“ (SC 171). Er fragt nach der Soziologie des Leibes Christi. „Christus als Gemeinde existierend“ (so der ständig wiederkehrende Begriff) hat seine eigentümliche Gestalt mitten unter uns als eine Personengemeinschaft, als Kollektivperson und (leider auch) als ein Herrschaftsverband. Die Offenbarung Gottes ist nichts anderes als Christus mitten unter uns als Gemeinde existierend; diese ist eine Gemeinschaft, in der man stellvertretend für einander da ist. Einige der frühen Freunde Bonhoeffers meinen, Karl Barth sei von dem hier schon bei Bonhoeffer auftauchenden Begriff der „Mitmenschlichkeit“ angeregt worden. Die zentralen Begriffe aus den letzten erregenden Blättern der Gefängniszeit, die Stellvertretung und das Füreinanderdasein, sind hier schon voll entwickelt. Der dänische Theologe Glenthoj meint, er wisse niemanden unter den Modernen, der so durchgehend und tief in allen seinen Arbeiten über die Stellvertretung etwas zu sagen gewußt hat. Um die Gegenwärtigkeit geht es ihm ebenso, wenn er gegen ein Verschwinden Gottes in der damaligen dialektischen Terminologie in „Akt und Sein“ festhält: Gott ist nicht Subjekt, frei vom Menschen, sondern für den Menschen; er ist nicht da in ewiger Nichtgegenständlichkeit, sondern habbar in der Kirche (AS 76).
2. So kreist sein Denken um die Gegenwärtigkeit Christi in der Kirche. Bisher hatte es sein Schwergewicht in der Herausarbeitung, daß Christus in der armseligen empirischen Kirche am Ort gegenwärtig sei. Später wird es sein Schwergewicht haben in der Verantwortung, daß es auch wirklich Christus sei, der da gegenwärtig ist und kein neuer oder zahmer Herr. Das verändert mit dem Wechsel der Atmosphäre für das Theologisieren um 1933 den ganzen Stil der folgenden Periode. Das Predigen rückt in den Vordergrund. Die Schrift wird befragt. Bonhoeffer ist sich nicht mehr sicher, ob er bei der Systematik bleiben soll. Seine ganze Leidenschaft ist bei der Auslegung von Stücken des Neuen und vor allem auch des Alten Testaments. Reich und fruchtbar ist seine Exegese, und es ist zu hoffen, daß aus dieser Zeit noch dies und das zugänglich gemacht werden kann. Das Argumentieren tritt in den Hintergrund; die Stimme Christi zu vernehmen und das Gehörte weiterzugeben, bedarf aller Aufmerksamkeit; und wenn es ans Argumentieren kommt, hat es eine neue gefährliche Schärfe. Stellung beziehen ist kein Spiel mehr, sondern confessio und damnamus.
Diese zweite Periode reicht von „Schöpfung und Fall“ (1934) über die „Nachfolge“ (1937) bis etwa zum „Gemeinsamen Leben“ (1938).
Die alte Frage ist geblieben, was der Leib Christi sei. Und es gibt immer neue Gelegenheiten und Herausforderungen, das zu verstehen und zu beschreiben. Wie er in der Form der Bekennenden Kirche unter den anderen Bekenntnissen der Oekumene existiert (Bonhoeffer trifft als Mitglied der Vorbereitungskommission der Bekennenden Kirche für Oxford 1937 auf die Delegation der Marahrens’schen Reichskirchenregierung). Wie der Leib Christi sich von seinen Verfälschungen im Kirchenkampf befreit. Was seine Lebensgesetze sind im täglichen Leben einer christlichen Gemeinschaft.
„Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft“ ist der Aufsatz in der Evangelischen Theologie 1936, der einen Sturm entfesselt hat, entzündet an dem wieder und wieder isoliert zitierten Satz: „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche trennt, scheidet sich vom Heil“ (Ev. Th. 1936, S. 231). Gollwitzer stellte kritische Fragen und Bonhoeffer antwortete wieder mit „Frage n“ (Ev. Th. 1936, S. 405 ff.). Ich fürchte, er wäre uns heute ein unbequemer Zeitgenosse in der Auseinandersetzung um den Charakter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
„Ist die Bekenntnisunion mit den Reformierten für den Lutheraner ein definitiv verbotener Weg? Verbietet es das Wort Gottes ein für allemal, die nicht wegzuleugnenden Lehrdifferenzen zwischen Reformierten und Lutheranern in der Einen Bekennenden Kirche zu ertragen? Oder bleibt gerade für ein rechtes Verständnis der lutherischen Bekenntnisse auch diese Möglichkeit offen für das Wort Gottes selbst? Bleibt sie aber endgültig verschlossen, dann ist die Bekennende Kirche wirklich nicht Kirche, sondern eben eine der vielen genannten Größen, die der Unwahrheit und Verfälschung des Evangeliums Raum gibt …“ (Ev. Th. 1936, S. 409).
Hätte es Bonhoeffer mit angesehen, das Wort „Union“ unter die nicht mehr stubenreinen Begriffe fallen zu lassen?
In dem anderen Aufsatz, „Die Bekennende Kirche und die Oekumene“ (Ev. Th. 1935, S. 245—261), trägt er seine Sorge vor, daß wir den Schritt Christi mit seinen zertrennten Kirchen verpassen könnten, im Zurückbleiben oder auch im Vorschnellen, mit Subtraktions- und Additionsverfahren. Nicht eine etwa endlich gefundene und zu beschließende Lösung der alten Differenzen, die einmal unter ganz anderen Voraussetzungen entstanden sind, bringt die Einheit voran, sondern daß die Getrennten in einer gegenwärtigen Not und Herausforderung den Namen Christi gemeinsam aussprechen — und dieses dann allerdings dankbar wahrhaben wollen.
„Die Bekennende Kirche ist die Kirche, die nicht aus ihrer Reinheit, sondern in ihrer Unreinheit lebt — die Kirche der Sünder, die Kirche der Buße und der Gnade, die Kirche, die allein durch Christus, allein durch die Gnade, allein durch den Glauben leben kann. Als solche Kirche, die täglich in der Buße steht, ist sie Kirche, die ihre Schuld an der Zerrissenheit der Christenheit bekennt … sie ist frei für das Hören auf den anderen, der sie zur Buße ruft … Weil diese Kirche nicht aus sich selbst, sondern von außen her ihr Leben empfängt, darum existiert sie immer schon in jedem Wort, das sie sagt, von der Ökumene her. Das ist ihre innerste Nötigung zur ökumenischen Arbeit“ (S. 260).
Von Heinrich Vogel hörte ich kürzlich den Satz, daß man in die ökumenische Arbeit auch nicht mit einem bekenntnis-kapitalistischen habemus ein treten könne, sondern mit Luthers Satz: Wir sind Bettler, das ist wahr.
3. Die letzte Periode, die unter dem Veröffentlichungsverbot der Reichsschrifttumskammer stand und deren Manuskripte und Blätter im Schreibtisch verborgen, zeitweise bei der Gestapo lagen oder unter Dachziegeln geschoben überdauerten, hat nun posthum eine überraschende Wirkung hervorgerufen, zunächst durch die Briefe (es fehlen noch ganz die Briefe an seine Verlobte), dann durch die fragmentarische Ethik.
Ich habe viermal einen kräftigen Rumor um Bonhoeffer miterlebt. Da war der Rumor um den Satz vom Heil in der Bekennenden Kirche — man hielt Bonhoeffer für einen kompletten Schwärmer. Da war der andere um die teure Gnade — man hielt ihn für einen finsteren Pietisten. Da war der Rumor um die „Feindkontakte“ — man hält ihn für einen Hoch- und Landesverräter. Und nun der um das religionslose Christentum — auf einem Pfarrkonvent meinte ein wohlwollender Pfarrer: man dürfe doch hoffen, daß Bonhoeffer ganz am Ende zu seinem Glauben wieder zurückgefunden habe.
Der erste Rumor hat einmal viel Druckerschwärze beansprucht, er ist eingeschlafen, es ließe sich manches wieder aufwecken. Der zweite ist durch die neueren überdeckt, aber es ist doch gut zu wissen, daß der letzten Periode dies vorangegangen ist, wie eben Luthers Entdeckung der puren Gnade der bittere Kampf um den gnädigen Gott voranging. Der dritte bedarf aufmerksamer Beobachtung; er könnte sich festsetzen, nachdem der Vorsitzende im Braunschweiger Remer-Prozeß sein Entsetzen über den konspirierenden Pfarrer mit breitem Presseecho geäußert hat und nachdem Huppenkothen und Thorbeck, zwei Standgerichtsmitglieder aus der Nacht zum 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg, zunächst haben freigesprochen werden können. Wenn eine Gemeinschaft ihr Haus mit dem Namen Bonhoeffers nennt, sollte sie dafür besonders bedankt sein, wenn das in Richtung gegen den dritten Rumor eine Stellungnahme sein darf.
Der vierte ist nun in Gang gekommen und geht erst seiner vollen Stärke entgegen. Die einen spüren, daß ihnen eine große Befreiung ihres Glaubens an Christus durch Bonhoeffers Vorstoß widerfährt. Andere möchten ihm am liebsten einen Vorwurf machen, daß seine briefliche Meditation abbricht, als es gerade verspricht, aufregend und konkret zu werden: „Ich freue mich … schon, das Positive schreiben zu können“, ist sein letzter Satz zum Thema (WE 268).
Ich habe lange Jahre gezögert, ehe ich den Mut fand, Auszüge aus den Briefen zu veröffentlichen. Zunächst dachte ich nur daran, die streng theologischen Entwürfe zugänglich zu machen. Aber ich merkte, daß es nötig war, sie in ihrer brieflichen Umgebung erscheinen zu lassen. Denn es sind Briefe, es sind nicht Diskussionsbeiträge. Das mag ihre Schwäche sein, es ist ebenso ihre Stärke. Diskussionsbeiträge kommen aus einem Lager und versuchen, Breschen in den Zaun des anderen Lagers zu reißen. Briefe aber reden von Person zu Person, und es ist schwerer, sich ihnen zu entziehen. Sie bitten und raten, sie drängen um Hilfe und suchen die Stelle, wo einer des neuen Wortes bedarf. Beiträge aber kommen mit der Diplomatie der Wissenschaft daher, die keine Blöße zeigen darf. Die Briefe sind unbekümmert um Sicherung und Allgemeingültigkeit und suchen den Menschen am gegenwärtigen Ort, in der gegenwärtigen Zeit und in den gegenwärtigen Umständen. Ein Professor hat mir geschrieben, „Widerstand und Ergebung“ läge als ein Brevier auf seinem Nachttisch. Das tut man nicht mit Dissertationen und kaum mit Episteln, aber mit Briefen, und sie setzen die Erkenntnis mächtiger in Bewegung als jene. Bonhoeffers Briefe gehen wohl einmal bis an die Grenze der Epistel, als er sich entschuldigt, daß er unversehens in die unleserliche deutsche Handschrift verfallen sei, die er nur anwende, wenn er für sich allein arbeite (WE 185 und 268). Bonhoeffer hat nicht die Form der Epistel gewählt, um in ihr eine Abhandlung besonders geschickt einzukleiden. Er hat Briefe hinterlassen, die um Rat und Hilfe in einer sehr dringenden Sache bitten und die uns an einer gegenwärtigen, gebundenen Stelle frei machen wollen. Da ist kein Katheder zwischen ihm und den Lesern und auch kein Talar. Man kann nur sagen, der Brief ist nicht an mich gerichtet, er betrifft mich nicht — oder man hört seine Stimme und dann begleitet sie einen in den Aufgaben, die er schon gesehen hat, und denen zehn Jahre Restauration nichts an Dringlichkeit haben nehmen können.
Wer Christus in einer religionslosen, mündigen Welt sei, diese Frage hat er zurückgelassen. Wie diese Frage wieder in seinen Lebensumständen, in dem Kontakt mit angespannt tätigen Menschen verwurzelt ist, zeigt ein Brief, der mir jetzt wieder in die Hände fiel:
„25. 6. 42 (im D-Zug Berlin—München): … Meine in der letzten Zeit doch stark auf dem weltlichen Sektor liegende Tätigkeit gibt mir immer wieder zu denken. Ich wundere mich, daß ich tagelang ohne die Bibel lebe und leben kann — ich würde es dann nicht als Gehorsam, sondern als Autosuggestion empfinden, wenn ich mich dazu zwingen würde. Ich verstehe, daß solche Autosuggestion eine große Hilfe sein könnte und ist, aber ich fürchte auf diese Weise eine echte Erfahrung zu verfälschen und letzten Endes doch nicht die echte Hilfe zu erfahren. Wenn ich dann wieder die Bibel aufschlage, ist sie mir neu und beglückend wie nie, und ich möchte einmal wieder predigen. Ich weiß, daß ich nur meine eigenen Bücher aufzuschlagen brauche, um zu hören, was sich gegen dies alles sagen läßt. Ich will mich auch nicht rechtfertigen, sondern ich erkenne, daß ich »geistlich« viel reichere Zeiten gehabt habe. Aber ich spüre, wie in mir der Widerstand gegen alles »Religiöse« wächst. Oft bis zu einer instinktiven Abscheu, — was sicher auch nicht gut ist. Ich bin keine religiöse Natur. Aber an Gott, an Christus muß ich immerfort denken; an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit liegt mir sehr viel. Nur sind mir die religiösen Einkleidungen so unbehaglich. Verstehst Du? Das sind alles gar keine neuen Gedanken und Einsichten; aber da ich glaube, daß mir hier jetzt ein Knoten platzen soll, lasse ich den Dingen ihren Lauf und setze mich nicht zur Wehr. In diesem Sinne verstehe ich eben auch meine jetzige Tätigkeit auf dem weltlichen Sektor.“
Zum Thema selbst einige Hinweise.
a) Zunächst sollte man den früheren Bonhoeffer nicht von dem letzten trennen und jenen etwa löschen, im Namen eines neuen Programmes: „Nicht-religiöse Interpretation“. Das meiste, was er jetzt sagt, ist — wenn auch nicht so scharf erfaßt — in früheren Schriften schon angesetzt. Es geht dem Bonhoeffer dieser letzten Periode um die gleiche kostbare Gegenwärtigkeit Christi wie dem der ersten und zweiten. Es sind keine Sorgen der Exegese und der Interpretation zunächst, die einer am Schreibtisch hat, sondern Bonhoeffer ist von der brennenden Glaubens- und Lebensfrage getrieben, „wer Christus für uns heute eigentlich ist“ (WE 178). Das bedeutet aber, daß man nicht darauf hoffen kann, die Forderung der „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“ (WE 233) am Schreibtisch zu erfüllen. Es wird kein Nachschlagewerk geben, in dem man alles Nötige auf „weltlich“, auf „nicht-religiös“ nachsucht, wenn man eine wirksamere Evangeliums-Crusade unter Modernen zu starten gedenkt. Zunächst wird mehr zu zahlen sein als ein monatlicher Subskriptionspreis. Bonhoeffer hat selbst deutlich genug gemacht, daß seine Frage eine an die Existenz der Kirche ist und erst dann eine an ihr „Gedächtnis“, die Theologie (AS 124). Das allzu ungeduldige Fragen, was Bonhoeffer wohl gemeint haben könnte, will es aber umgekehrt. Wir werden hier gewiß nicht wissen, was wir nicht tun. Rezepte werden erst aufgeschrieben, nachdem man das Kochen probiert hat. Es ist nicht ausgemacht, wer hier Kompetenteres zu sagen hat: das Katheder oder ein Versuch wie etwa Mainz-Kastel.
b) Der Terminus „die mündige Welt“ hat Zweifel und Fragen hervorgerufen. Die Analyse stimme nicht zu unserer Umgebung und Bonhoeffer führe eine neue Anknüpfungstheologie herauf, nun mit einem negativen Anknüpfungspunkt, dem negativum absolutum.
Bonhoeffer hätte sicher nicht bestritten, daß es noch einen zähen Bestand an „Religion“ um ihn herum gab: auch ohne daß er die späteren Restaurierungen und die erstaunlich erwachten religiösen Geborgenheitsbedürfnisse noch miterlebte! Er weiß auch einiges über die ungeheuerlichen Entmündigungsversuche moderner Staaten zu sagen, wie man leicht in der „Ethik“ feststellen kann. Ebenso hat er kaum die Selbstverständlichkeit übersehen, daß Christus auch Herr der Religiösen ist und sein wird. Er hat auch nicht lieblos Altes zerbrochen, wo es noch lebt. Welche Rolle spielen in den Briefen die Paul-Gerhardt-Lieder! Aber er möchte in der Mixtur und der Verzahnung der Zeitalter mit Christus offene Augen für die neuen Ströme haben. Und er meint eben, daß von Feuerbach und Marx her eine Welt schon heraufgekommen ist, der man im Namen Christi keine „religiösen Bedingungen“ stellen und der man nicht mit der ausgesparten religiösen Provinz kommen kann. Nicht um ihrer willen, sondern um Christi willen. Bonhoeffer hat sehr genau um die Gefahren des „Anknüpfungspunktes“ gewußt und diese moderne Welt nicht ernster genommen, als ihr zukommt. Aber er wollte nachkommen, wie und wo Christus sie ernst nimmt und dahinter möglichst wenig Zurückbleiben. Es scheint mir wichtig, zu beobachten, daß Bonhoeffer nie mehr das Wort „Säkularisierung“ gebraucht. Er spürt in dem häufigen Gebrauch dieser Formel das Rückschauen der Kirche in eine goldene Zeit, das nur Schwäche ist. Darum redet er nur noch von der „Mündigkeit“ der Welt. Mit Christus ist er fähig, ohne Romantik und Betäubung gegenwärtig zu sein. Und er ist schon darauf gespannt, wie Christus seinen merkwürdig ohnmächtigen Angriff auf die militant mündige Welt auszuführen beginnt. In den letzten Lebenstagen ließ er sich von einem Mitgefangenen, einem Neffen Molotows, Russisch beibringen und er lehrte diesen, was das Christentum sei!
c) Was mag er diesem Manne gesagt haben? Ob es sich wohl ablesen läßt an den entscheidenden Stellen der Briefe? Ob dort nicht doch schon die Ansätze der nicht-religiösen Interpretation sichtbar sind? Da, wo er den großen Sprung vom Glauben an den Deus ex machina zu der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt vollzieht? An dem Gedicht „Christen und Heiden“ hat ihm viel gelegen. Er meinte, daß es in Kürze alles aussage: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not…“ — „Menschen gehen zu Gott in Seiner Not …“ (WE 246 f.). Christ werden heißt nun nicht mehr, an die eigenen Fragen und Ängste denken, sondern sich mit Christus in die gottlose Welt hineinbegeben und ihre Gottferne teilen, „sich in den Weg Jesu Christi mit hineinreißen lassen“ (WE 244). Bonhoeffer gewinnt hier eine seltene, unorthodoxe Freiheit, mit neuen und zwingend einfachen Worten von der Person Jesu zu reden, ohne einen Augenblick den Anschein zu erwecken, als wäre dieser etwa nicht sein Gott. „Bonhoeffer war einer der sehr wenigen Menschen, die ich jemals getroffen habe, für die Gott real und immer nahe war“, erzählt Payne Best, ein englischer Genosse seiner letzten Tage, der vorher nichts von ihm gewußt hatte.
Ob er seinem russischen Mitgefangenen auch von seinem geliebten Alten Testament erzählt hat? Weil es das Buch derer ist, die in keinen frommen Raum fliehen können, sondern im Segen oder im Trotz, mit dem verspotteten Jahwe oder unter seinem herrlichen Namen auf dieser Erde leben müssen oder leben dürfen? Weil er dieses Buch für das große Zeugnis von der Überwindung des Religiösen hält? Denn Jahwe nimmt dieses volle irdische Leben in Anspruch in seinem Gericht und seinem Segen.
Ob er seinem Mitgefangenen hat klarmachen können, daß seine Welt eine falsche Zahl in ihre Rechnung stellt, weil sie die Lehre Christi für eine Größe der Metaphysik und des Individuums hält, deren Zeit vorüber ist (WE 183)? Ob er schließlich eine Interpretation und ein Siegel auf die Worte Bonhoeffers in dem schweigenden Weg zum 9. April 1945 hat spüren können?
d) Endlich noch eine Bemerkung zu dem wiederholten Hinweis Bonhoeffers auf die Arkandisziplin, die altkirchliche Geheimhaltung des zentralen Gottesdienstes vor Außenstehenden (WE 180, 184). Sie gibt uns Rätsel auf und man kann sie leicht übersehen. Ich glaube aber, daß sie kein Feldweg neben der Hauptstraße ist. Hammelsbeck wendet dieser Komponente in Bonhoeffers Denken mit vollem Recht seine ganze Aufmerksamkeit zu (siehe S. 192 ff.). Es ist der Gedanke, der u. a. schon hinter der Formel von der billigen und teuren Gnade steckte (N 1). Es ist der Gedanke, daß die Kirche durch Zeiten des Schweigens zu gehen habe, da sie nur noch im Beten und Tun des Gerechten lebt (WE 207). Rosenstock sagt: durch lange Zeiten des incognitum. „Arkandisziplin“ könnte, wie Hammelsbeck vorschlägt (S. 194), der Untertitel der Schrift „Gemeinsames Leben“ sein.
Der Schutz des Zentralen vor der Profanierung im Arkanum heißt bei Bonhoeffer nicht die Errichtung einer unangreifbaren — nun doch wieder religiösen Provinz. Das Bruderhaus in Finkenwalde war gerade kein refugium vor der Welt, sondern eine konzentriertere Ermöglichung eines Dienstes in und für die Welt. Bonhoeffer hatte keinen besonders ausgeprägten Sinn für Weihehandlungen. Nur „wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“, hat er mir in jenen Jahren einmal gesagt. Und vergessen waren die Sätze nie, die in einem Vortrag 1933 stehen („Dein Reich komme“ aus: Das kommende Reich, Furche-Verlag 1933 S. 29):
„Hinterweltlerisch sind wir, seit wir den bösen Kniff herausbekamen, religiös, ja sogar ‚christlich‘ zu sein auf Kosten der Erde. Im Hinterweltlertum läßt es sich prächtig leben. Man springt immer dort, wo das Leben peinlich und zudringlich zu werden beginnt, mit kühnem Abstoß in die Luft und schwingt sich erleichtert und unbekümmert in sogenannte ewige Gefilde.“
Nein, kein Rückzug, aber die Verantwortung, die kostbare Perle um der Welt willen nicht zu verschleudern. Die Verantwortung um den Zeitpunkt, um das „suum cuique“ (E 99) auch in der Verkündigung, um die Ermächtigung und die Besorgnis darum, daß nicht jedes Wort jederzeit in jeden Mund und vor jedes Ohr gehört (E 283 ff., 204). Jesus hat so oft geboten, zu schweigen, und an bestimmten Punkten nur drei Jüngern aus den vielen zugemutet, mit ihm zu sein.
Wie der frühe und der späte Bonhoeffer nicht zertrennt werden dürfen, so darf man auch nicht die Dialektik auflösen zwischen dem Bonhoeffer der Arkandisziplin und dem, der sich an die Welt verschwendet. Wer den einen für sich in Anspruch nimmt, soll nachdrücklich an den anderen erinnert werden. Man hörte nicht das Christuszeugnis, das er gibt. Man würde nicht einmal seine Persönlichkeit in ihrer Wirkung verstehen können, wenn man nicht die Existenz eines Arkanum in diesem Leben annähme und spürte, das jedem Dozieren und jeder geschwätzigen Ausbreitung entzogen blieb. Eben darum war er ja der gute Lehrer, weil so wenig an ihm dozierte; deshalb der gute Überzeuget, weil er die eigene Entscheidung nicht jedem zumutete. Er konnte sehr eindringlich sein, aber nie zudringlich. Die Offenheit und die Fähigkeit, jedem Menschen zuzuhören, hatte ihre Kraft gerade aus einem sensiblen Gefühl für die Distanz.
IV.
Zu Beginn beschrieb ich den Cantus firmus in Bonhoeffers Leben als das Wissen um die Kostbarkeit des Wortes Jesus Christus. Das ist zugleich das Geheimnis seiner Konzentration wie seiner Offenheit, seiner Unbeugsamkeit wie seiner Biegsamkeit. „Je ausschließlicher wir Christus als unseren Herrn erkennen und bekennen, desto mehr enthüllt sich uns die Weite seines Herrschaftsbereiches“ (E 161). Die Konzentration machte ihn nicht einlinig, sondern gab ihm gerade die Wendigkeit. Und je enger und endgültiger ihn der Gehorsam in seiner Bewegungsfreiheit hemmte, um so freier und weiter schritt sein Geist hinaus in die Weite der Erde.
Es hat etwas Verwirrendes, wie er in den verschiedenen Perioden Themen und ihren zugehörigen Stil aufnimmt und wieder verläßt. Wenn es erlaubt ist, zu vereinfachen, kann man sagen: Der Bonhoeffer der zwanziger Jahre hat den Theologen gesagt: Euer Thema ist die Kirche! Der Bonhoeffer der dreißiger Jahre hat der Kirche gesagt: Dein Thema ist die Welt! Und der Bonhoeffer der vierziger Jahre hat der Welt gesagt: Dein Thema, die Verlassenheit, ist Gottes Thema selbst; und mit seinem Thema betrügt er dich nicht um das volle Leben, sondern er schließt es dir auf!
Bonhoeffer hatte die seltene Fähigkeit des Gegenwärtig-seins, das Thema der jeweiligen Zukunft aufzuspüren und seine Formel zu finden in einer zwingenden Einheit von Denken und Handeln. Leider gehört die Skizze, die er über das Phänomen der Zeit, des Vergangenen und des Kommenden, geschrieben hat, zu den verlorenen Papieren aus der Tegeler Zelle. Aber es gibt Stellen, die zeigen, wie er sich mit dem Zurücksinken und der Last des Vergangenen auseinandersetzt; die schöne Stelle, in der er bittet, doch das Gegenwärtige zu ergreifen und „Gott in dem zu finden und zu lieben, was er uns gerade gibt“ (WE 123 f.); und es geht durch das ganze Werk der Humor dessen, der um Christi willen keinen letzten Feind und Gegensatz mehr anerkennt und den Raum des Teufels immer schon umstellt und verloren sieht, weil „alle Versuchung in Jesus Christus überwunden ist für alle Zeit bis ans Ende“ (Versuchung S. 63), wie scharf und leidenschaftlich Bonhoeffer auch werden kann, wie unheimlich er auch den Anfall durch die acedia, die Traurigkeit, kannte.
In diesem Leben und Werk sind Leib, Seele und Geist nicht unterernährt. Ihre Möglichkeiten sind reichlich ergriffen, wo Gottes Erlaubnisse sie freigeben; und sie werden unter echten Schmerzen vermißt, wo sie geschmälert und geopfert werden müssen. Die Vielfalt der Dimensionen dieses Lebens, seien sie genossen, seien sie erlitten, macht es zu einem Ganzen, so stark er selbst auch von dem Fragment seines Lebens gesprochen hat (WE 80, 153). Fernstehende hat er leicht schockiert; sowie sie ihm näherkamen, stellte sich heraus, wie alles zueinander stimmte.
Bonhoeffer hat den abschiednehmenden Moses an der Grenze des gelobten Landes besonders geliebt. Er versuchte sich an einem Gedicht, in dem es heißt:
So erfüllst du, Herr, was du versprochen,
niemals hast du mir dein Wort gebrochen,
Deine Gnade rettet und erlöst
und dein Zürnen züchtigt und verstößt,
Treuer Herr, dein ungetreuer Knecht
weiß es wohl: du bist allzeit gerecht.
So vollstrecke heute deine Strafe,
nimm mich hin zum langen Todesschlafe,
Von des heilgen Landes voller Traube
trinkt allein der unversehrte Glaube,
Reich dem Zweifler drum den bittren Trank
und der Glaube sagt dir Lob und Dank.
Wunderbar hast du an mir gehandelt,
Bitterkeit in Süße mir verwandelt,
Sinkend, Gott, in deine Ewigkeiten
seh mein Volk ich in die Freiheit schreiten,
Der die Sünde straft und gern vergibt,
Gott, ich habe dieses Volk geliebt.
Daß ich seine Schmach und Lasten trug
und sein Heil geschaut — das ist genug,
Halte, fasse mich! Mir sinkt der Stab,
treuer Gott, bereite mir mein Grab.
Vortrag gehalten am 13. November 1954 zur Einweihung des Dietrich Bonhoeffer-Hauses in Bonn.
Quelle: Evangelische Theologie 15 (1955), Heft 4/5, S. 145-163. Ebenfalls abgedruckt in: Eberhard Bethge (Hrsg.), Die mündige Welt. Dem Andenken Dietrich Bonhoeffers. Vorträge und Briefe, München: Chr. Kaiser, 31959, S. 7-25.
[1] Für die zahlreichen Zitate aus den Schriften Bonhoeffers werden folgende Sigla gebraucht: SC = Sanctorum Communio. 1930, Neudruck in Theol. Bücherei, Bd. 3, 1954 – AS = Akt und Sein. 1931 – SchF = Schöpfung und Fall. 1933. 3. Aufl. 1955. – N = Nachfolge. 1936, 4. Aufl. 1952. – WE = Widerstand und Ergebung. 1952. – E = Ethik. 1953.