Martin Luther über das wahrhaft schauende Leben (Auslegung zu Genesis 19,14): „Lasst uns zu die­sem Kind gehen, das im Schoß seiner Mutter Maria liegt, zu dem Opfer, das am Kreuz hängt: Dort werden wir Gott wahrhaft betrachten, dort werden wir ungehindert in sein Herz schauen und sehen, dass er barmherzig ist und dass er keinen Gefallen hat am Tod des Sünders, sondern dass er umkehre und lebe. Aus einer solchen Schau bzw. Betrachtung er­wächst wahrer Friede und wahre Freude des Herzens.“

Vom wahrhaft schauenden Leben (Auslegung zu Genesis 19,14)

Von Martin Luther

Wer in rechter Weise Gedanken entfalten will (recte speculari), der soll auf seine Taufe sehen, seine Bibel lesen, Predigten hören, Vater und Mutter ehren und dem Bruder in Not zu Hilfe kommen. Er soll sich nicht wie das ekelhafte Mönchs- und Nonnenpack (sordidum monachorum et monacharum vulgus) in einem Winkel ein­schließen und sich an seinen eigenen Frömmigkeitsübungen (devotiones) delek­tieren, die schließlich dazu führen, dass er glaubt, er sitze in Gottes Schoß und habe Umgang (commercium) mit Gott, ohne Christus, ohne Wort, ohne Sakra­mente.

Solche Leute reden vom tätigen Leben (vita activa) mit größter Verachtung. Auch mich kam es teuer zu stehen, bis ich von diesem Irrtum befreit war. Denn dieser Irrtum gefällt der Vernunft und scheint ihr, wie Paulus es nennt, die Religion der Engel zu sein (Kol 2,18). Witzel, der Heuchler und abtrünnige Gotteslästerer, warf mir einmal vor, unsere Lehre sei zu äußerlich; man müsse bei den geistlichen Din­gen bleiben. Die Vernunft möchte sich tatsächlich gern in der Wunderwelt über ihr aufhalten. Aber ihr sollt euch vor diesen Schlingen des Satans hüten und sollt das schauende Leben anders definieren, als man in den Klöstern gelehrt hat, und zwar folgendermaßen: Das wahre schauende Leben (vita speculativa) besteht darin, dass man das gesprochene Wort (verbum vocale) hört, ihm glaubt und nichts an­deres wissen will als »Christus, den Gekreuzigten« (1. Kor 2,2). Denn allein dieser ist in seinem Wort der nützliche und heilbringende Gegenstand der Schau. Hüte dich, von ihm abzuweichen; denn wer, wie die Mönche, jetzt auch Schwenckfeldund andere, bei der Schau Gottes die Menschheit bzw. das Fleisch Christi verwirft oder außer Acht lässt, fällt entweder in Verzweiflung, niedergedrückt von der Herrlichkeit (claritas) der göttlichen Majestät, oder fängt an, sinnlos zu jubeln und zu träumen, er sei bereits im Himmel, da ihn der Satan täuscht und mit solchem Blendwerk irreführt. Aber den Verzweifelnden kann man wenigstens helfen, de­nen, die sich trunken vor Freude schon in Gottes Schoß wähnen, dagegen nicht.

Auch Gerson schreibt über das schauende Leben und preist es mit großen Wor­ten. Wenn unerfahrene Leute so etwas lesen, nehmen sie es an wie Gottes Wort (pro divinis oraculis). In Wirklichkeit aber ist es wie im Sprichwort: »Ein Schatz aus Kohlen«. Lass dich deshalb von denen, die mit ihrer Schau prahlen (vani speculatores isti), ruhig als »äußerlicher« oder »weltlicher« (civilis) Mensch be­schimpfen und kümmere dich nicht darum. Für dich kommt es darauf an, dass du Gott für sein Wort, eben für jene äußerlichen Dinge, dankst und die hochgestoche­nen Schauungen anderen überlässt.

Ich habe solche Bücher mit großem Eifer gelesen und ermahne euch, dass ihr sie auch lest, aber kritisch (cum iudicio). Es ist nicht ohne Grund, dass ich darauf dränge und es euch immer wieder einhämmere, auf die Selbstbindung Gottes (in ordinatam Dei potentiam) zu schauen und auf jene Mittel, die Gott eingesetzt hat. »Wir wollen uns nicht mit Gott an sich (Deus nudus) befassen, dessen Wege unerforschlich und dessen Gerichte unbegreiflich sind«, wie es Röm 11(,33) heißt.

Die Selbstbindung Gottes, d.h. den Fleisch gewordenen Sohn, lasst uns annehmen, »in welchem verborgen sind alle Schätze der Gottheit« (Kol 2,3). Lasst uns zu die­sem Kind gehen, das im Schoß seiner Mutter Maria liegt, zu dem Opfer (ad victimam), das am Kreuz hängt: Dort werden wir Gott wahrhaft betrachten (contemplabimur), dort werden wir ungehindert in sein Herz schauen und sehen, dass er barmherzig ist und dass er keinen Gefallen hat am Tod des Sünders, sondern dass er umkehre und lebe (Ez 33,11). Aus einer solchen Schau bzw. Betrachtung er­wächst wahrer Friede und wahre Freude des Herzens. Deshalb sagt Paulus (1. Kor 2,2): »Ich halte nicht dafür, dass ich etwas wüsste außer Christus.« Uns dieser Schau hinzugeben, wird Frucht bringen.

Quelle: WA 43,72,9-73,10 (Genesisvorlesung), übersetzt von Heiko A. Oberman.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar