Gustav Radbruch zur Schuldfrage und Strafverfolgung bezüglich der NS-Verbrechen (Rechtsphilosophie): „Uns genügt, dass zum mindesten die Unmenschlichkeitsverbrechen nach einem jedem Menschen bewußten übergesetzlichen, natürlichen Recht ein schweres Unrecht darstellen. Verschuldetes Unrecht ist aber, wie Kant gezeigt hat, mit Strafwürdigkeit identisch, und solchen zu dienen, die trotz erkennbarer Straf­würdigkeit sich auf mangelnde positive Strafbarkeit berufen, kann nicht wohl der Sinn des Prinzips nulla poena sein.“

Zur Schuldfrage und Strafverfolgung bezüglich der NS-Verbrechen

Von Gustav Radbruch

Ein Spruch von Theodor Storm lautet: „Vom Unglück erst zieh ab die Schuld; was übrig bleibt, trag mit Geduld“. Mit jedem überstandenen Massenunglück ver­knüpft sich gerade bei den Besten ein Gefühl der Belastung: Scham in dem Bewußtsein, selbst verschont geblieben zu sein, selbst überlebt zu haben, ein Schuld­gefühl vor Gott, der Demut allmenschlicher Sündigkeit und unverdienter Bevor­zugung. Auch der deutsche Zusammenbruch 1945 hat solche allmenschlichen Schuldgefühle ausgelöst, nicht nur in den besiegten, sondern auch in den Sieger­nationen. So haben deutsche und ausländische Kirchen gegenseitige Schuldbe­kenntnisse ausgelauscht. Diese metaphysische oder religiöse Schuld schließt jedoch keineswegs sittliche, moralische Schuld in sich ein. Die sittliche Schuld setzt eine unmittelbare Mitwirkung an dem verschuldeten Ereignis voraus, ein schuldhaftes Handeln oder ein schuldhaftes Unterlassen. Sie erstreckt sich in zahllosen Ab­schattierungen von einem Höchstgrad zu einem Geringstmaß. An dem deutschen Zusammenbruch tragen sittliche Schuld nicht nur die überzeugten Nationalsozia­listen, sondern auch die opportunistischen Achselträger, diejenigen, die gleich­gültig und feige daneben standen, die, welche um des Lebens willen notgedrungen das Parteiabzeichen trugen und den Parteigruß leisteten, selbst die, welche in dem Wahne, „Schlimmeres zu verhüten“ das vermeintlich weniger Schlimme auf sich nahmen. Mit weniger differenzierten Mitteln arbeitet der Gedanke der politischen Schuld, besser der politischen Haftung. Sie ist Kollektivhaftung, trifft das staatliche Ganze und mittelbar oder unmittelbar jeden einzelnen Staatsangehörigen: quidquid delirant reges, plectuntur Achivi [Das wahnwitzige Beginnen der Könige büßen die Völker]. Soweit jedoch Mitschuldige durch die Gerichte des eigenen Staates oder fremder Staaten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, ist ihre kriminelle oder juristische Schuld in noch engere Schranken eingeschlossen als die sittliche Schuld, gebunden an die rechtswidrige und schuldhafte Verwirkli­chung strafbarer Tatbestände.

Juristisch zur Verantwortung gezogen wurden nach der Niederlage deutsche Staatsangehörige durch deutsche Gerichte, durch die Gerichte der Siegerstaaten, insbesondere den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und die Gerichte der einzelnen Besatzungsmächte, endlich in dem deutschen Denazifizierungsverfahren. In allen drei Zusammenhängen entstand das schwere Problem, ob sich Strafen rechtfertigen lassen für Verhaltensweisen, die zur Zeit ihrer Begehung nicht unter Strafrecht standen. Auf der einen Seite stand die von Feuerbach aufgestellte Formel: nulla poena sine lege praevia [keine Strafe ohne vorheriges Gesetz], und zwar mit umso größerer Autorität, weil sie vom nationalsozialistischen Staat beiseite geschoben war und ihre Wiederherstellung durch die Gesetzgebung der Besatzungsmächte sie zu einem Symbol des erneuerten Rechtsstaats gemacht hatte. Auf der anderen Seite stand die Unmöglichkeit, jene nationalsozialistischen Gesetze, welche die Strafbarkeit für offenkundige Verbrechen, z. B. den Anstalts­mord, ausgeschlossen hatten, nach der Beseitigung des Nationalsozialismus als wahres Recht anzuerkennen.

So entstand für die deutschen Gerichte die Frage, ob fanatische oder böswillige De­nunzianten, welche Gegner des Nationalsozialismus schwerer Bestrafung durch eine nationalsozialistisch gefärbte Justiz zugeliefert hatten, nunmehr, nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, wegen Mordes oder Freiheitsentzugs bestraft werden können. Zu ihrer Bestrafung kann man nur durch die Erwägung gelan­gen, daß die damalige Straflosigkeit „gesetzliches Unrecht“ darstelle. Damit würde dem ein Jahrhundert hindurch unanfechtbar gebliebenen Positivismus für die Zu­kunft die Gefolgschaft versagt und die seit dem Zusammenbruch des Naturrechts unerhörte Annahme eines „übergesetzlichen Rechts“ postuliert, das als Maßstab zu dienen habe für die Bewertung eines positiven Gesetzes als Unrechts.

Die gleiche Frage taucht in noch quälenderem Maße gegenüber der Nürnberger Gerichtsbarkeit der Besatzungsmächte auf. Schon die Begründung der Besatzungsge­richtsbarkeit über Deutsche macht Schwierigkeiten. In den Äußerungen der An­kläger wird ausgeführt, daß aufgrund der bedingungslosen Kapitulation Deutsch­lands die Bestrafung sogar ohne Verteidigung und Gericht möglich gewesen wäre: die Angeklagten könnten „auf kein anderes Gesetz verweisen, das ihnen das Recht gäbe, überhaupt gehört zu werden“.26 Durch das völkerrechtlich vereinbarte Statut über Zuständigkeit und Verfahren des Internationalen Gerichtshofes sei ihnen eine Rechtslage gewährt worden, auf die sie sonst kein Recht gehabt hätten. Worauf zu erwidern ist, daß der Begriff rechtloser Menschen und ihrer Bestrafung ohne richterliche Feststellung ihrer Schuld dem Naturrecht widerspreche, das seinem Wesen nach durch die unbedingte Kapitulation nicht ausgeschlossen werden konnte.

Aber nicht nur Zuständigkeit und Prozeß der Gerichtshöfe der Besatzungsmächte, vielmehr auch das von ihnen angewandte materielle Recht fordert eine übergesetzliche Rechtfertigung. Freilich ist der Satz nullum crimen sine lege, welcher der Anwendung dieses Rechts auf vorbegangene Straftaten entgegenstehen soll, eine Forderung nicht der Gerechtigkeit und also des Naturrechts, sondern nur der Sicherheit des positiven Rechts, um derentwillen so unter Umständen sogar auf die Gerechtigkeit, nämlich auf die Bestrafung strafwürdigen Unrechts, verzichtet wer­den muß. Jene Maxime kann zudem nur im Rahmen einer Strafrechtskodifikation gellen, nicht aber dort, wo neben vereinzelten Gesetzen das Strafrecht wesentlich auf Richterrecht beruht – für Richterrecht gilt nirgendwo das Prinzip nulla poena, auch bei uns nicht, vielmehr die sofortige Anwendung einer neuen Gesetzes­auslegung auf den gerade vorliegenden Fall, der also unter der Herrschaft der früheren Auslegung begangen worden ist. Das Völkerrecht aber kann, solange es noch keinen völkerrechtlichen Gesetzgebungsapparat gibt, nur in der allmählichen Fortbildung des Rechts von einem Fall zum anderen wirksam werden, gerade auch in der Rechtsprechung Internationaler Gerichtshöfe. Aber selbst wenn wir dem Prinzip nulla poena auch für das Völkerrecht anerkennen, würde dies kein ent­scheidender Einwand gegen die Nürnberger Rechtsprechung sein. In unserem jet­zigen Zusammenhänge ist es nicht nötig, den (durchaus möglichen) Beweis zu führen, daß die Tatbestände des Gerichtsstatutes wie des Kontrollratsgesetzes 10: Herbeiführung eines Krieges, Kriegsverbrechen, Unmenschlichkeitsverbrechen, schon nach deutschem Recht strafbar waren, ebenso wenig dafür, daß diese Hand­lungen schon vor Statut und Kontrollratsgesetz völkerrechtliche Verbrechen ge­wesen seien. Uns genügt, daß zum mindesten die Unmenschlichkeitsverbrechen nach einem jedem Menschen bewußten übergesetzlichen, natürlichen Recht ein schweres Unrecht darstellen. Verschuldetes Unrecht ist aber, wie Kant gezeigt hat, mit Strafwürdigkeit identisch, und solchen zu dienen, die trotz erkennbarer Straf­würdigkeit sich auf mangelnde positive Strafbarkeit berufen, kann nicht wohl der Sinn des Prinzips nulla poena sein.

Quelle: Gustav Radbruch, Entwurf eines Nachworts zur „Rechtsphilosophie“ [um 1947], in: Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hrsg. v. Ralf Dreier/Stanley L. Paulson, Heidelberg 22003, S. 200-202.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar