Ernst Lange, Die Kerzen: „Denn am Tag darauf, eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst, kam Sergej in die Kirche. Er kam auf mich zu und wollte mir gerade seine Hand geben, als sein Blick auf den Altar fiel. Da zog er die Hand wieder zurück. „Ihr habt sie nicht genommen?“ fragte er, und es war einen Augenblick lang, als wollte er anfangen zu weinen. „Ihr habt sie also nicht genommen!“, und jetzt war seine Stimme schwer und böse vor Zorn und Enttäuschung. „Kerzen von einem Kommunisten sind wohl nicht gut genug für … für den da!“

Die Kerzen

Von Ernst Lange

Als ich meinen zweiten Weisen traf, war der große Krieg schon vorbei. Allerdings erst drei oder vier Tage.

Mein Freund Theo, der Pfarrer, und ich waren damals gerade dabei, unsere Kirche wie­der herzurichten, denn wir wollten so bald wie möglich wieder Gottesdienst in ihr hal­ten. Sie sah schlimm aus. Die letzten Kriegstage hatten ihr arg mitgespielt. Der Boden war mit Schutt und Putz bedeckt, auf der Empore hatte es gebrannt, der Wind pfiff durch die Fensterhöhlen. Aber die Decke war heil, einen Teil der Bänke konnte man noch ge­brauchen, und auch Altar und Kanzel waren unversehrt. Darum waren wir mit Eifer bei der Sache. Die Arbeit war allerdings ziemlich schwierig. Denn wir hatten gar kein Ge­rät. keine Schubkarren, keine Schaufeln, keine Bretter. Wir hatten nur einen alten Be­sen, zwei Eimer und unsere beiden Hände. Alles andere hatte der Krieg gefressen.

Plötzlich hörten wir schwere Schritte. „Was ihr da machen?“ fragte eine rauhe, tiefe Stimme. Wir fuhren herum und erschraken. Denn da stand ein russischer Soldat, die Maschinenpistole unter dem Arm. Und wir hatten damals alle Angst vor Russen. Es wurden viele schlimme Dinge von ihnen berichtet. Und vor allem wußten wir, daß die kommunistischen Soldaten von Gon und der Kirche gar nichts wissen wollten.

„Wir räumen auf“, sagte Theo. „Wir wollen hier nächsten Sonntag Gottesdienst halten.“ „Nicht gutt“, sagte der Soldat. „Die Menschen draußen haben keine Häuser. Häuser wichtiger als Kirchen.“

„Die Menschen draußen haben keinen Mut. ihre Häuser wieder aufzubauen“, sagte Theo. „Hier werden sie Mut gewinnen.“

„Mut hier?“ sagte der Soldat. „Warum hier?“

„Der da“, sagte Theo und zeigte auf den Gekreuzigten über dem Altar. „war auch kaputt, genau wie wir. Und Gott hat ihm geholfen.“

Der Soldat sah zum Altar hin. Dann brummelte er etwas Unverständliches, drehte sich um und stapfte hinaus. Eine Stunde später hörten wir ein Auto vor der Kirche stoppen. „He Pfarrer!“ schrie es. Wir gingen hinaus. Da stand unser Soldat vor seinem Lastauto, und auf dem Wagen — wir trauten unseren Augen nicht! — waren Schubkarren. Schau­feln, grobe Besen, ein Stapel Bretter und zwei Rollen Drahtglas, lauter Dinge, die wir für unsere Kirche so nötig brauchten und die doch damals nirgends aufzutreiben waren. „Komm, faß an!“ sagte der Soldat zu mir und lachte. So brachten wir all die Herrlichkei­ten hinein in die Kirche.

„Vielen Dank“, sagte Theo und wollte dem Soldaten die Hand geben. „Nix“, sagte der. „los. arbeiten, arbeiten!“ Und damit fing er an zu arbeiten. Wir waren einfach sprach­los. Da kam ein Feind, ein Kommunist, einer, der von Gott nichts wissen wollte, und half uns, unsere Kirche wieder herzurichten. Warum tat er das? Ganz beschämt gingen wir wieder ans Werk. Damit ging es nun viel schneller voran. Wir hatten gutes Werk­zeug. und unser Soldat schuftete wie ein Wilder. In ein paar Stunden hatten wir den gan­zen Schutt hinausgeschafft. Dann sagte Theo: „Schluß für heute!“ und wir stellten un­ser Gerät fort.

Draußen drehte sich unser Soldat eine Zigarette. „Ich Sergej“, sagte er. Auch wir stellten uns vor. Dann fragte Theo: „Warum hilfst du uns, Sergej? Glaubst du auch an Gott?“

Sergej lachte. „Ich, nein. Ich Kommunist. Aber meine Mutter. Alte Leute sind so.“

„Und von dem da“, Theo zeigte zum Altar hin, „hat dir deine Mutter erzählt?“ Sergej nickte. „Deine Mutter ist eine gute Frau, denn sie hat einen guten Sohn“, sagte Theo ernst. „Nicht gut“, meinte Sergej leise. „nein, gar nicht gut.“ Dann sprang er in seinen Wagen und fuhr davon.

Von nun an half Sergej uns jeden Tag ein paar Stunden bei unserer Arbeit. Und am Sonn­abendmittag waren wir fertig. Da holte Sergej einen länglichen, offenbar ziemlich schweren Gegenstand aus dem Auto. „Ich habe etwas … wie sagt ihr? … organisiert.“ Er lachte verlegen und doch glücklich wie ein Junge, der eine Überraschung vorhat. Er packte sein Paket aus. Zum Vorschein kamen vier riesige Wachskerzen, über einen Me­ter lang und dicker als ein Männerarm, wie man sie in katholischen Kirchen manchmal findet.

„Junge, Junge“, sagte ich, denn Kerzen waren damals eine große Kostbarkeit. Dann tat Sergej etwas sehr Merkwürdiges. Er trug die vier Kerzen auf den geöffneten Händen wie eine Opfergabe zum Altar und legte sie dort nieder. Dann beugte er sich und küßte den Altartisch. Er sah sehr schön aus, der Soldat, als er sich vor dem Gekreuzigten neig­te. Dann kam er zu uns zurück und war sehr verlegen. Aber er sagte leise: „Für euren Altar, für … für den da!“ Und gab uns die Hand und verschwand. Als er fort war, ging Theo zum Altar und nahm eine der Kerzen in die Hand! „Schön sind sie“, sagte er. „Schade, daß wir sie nicht gebrauchen können. Sie sind viel zu schwer für unsere klei­nen Leuchter. Aber ich kann sie vielleicht bei den Katholiken gegen kleinere umtau­schen.“

Er hatte natürlich recht. Die Kerzen waren wirklich zu groß für unsere Leuchter. Und doch war es ein Fehler, ein schwerer Fehler, daß wir sie nicht aufsteckten für unseren ersten Gottesdienst nach dem Krieg.

Denn am Tag darauf, eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst, kam Sergej in die Kirche. Er kam auf mich zu und wollte mir gerade seine Hand geben, als sein Blick auf den Altar fiel. Da zog er die Hand wieder zurück. „Ihr habt sie nicht genommen?“ fragte er, und es war einen Augenblick lang, als wollte er anfangen zu weinen. „Ihr habt sie also nicht genommen!“, und jetzt war seine Stimme schwer und böse vor Zorn und Enttäuschung. „Kerzen von einem Kommunisten sind wohl nicht gut genug für … für den da!“ Aber diesmal war das „den da“ nicht voll heimlicher Ehrfurcht, sondern voller Enttäuschung. Ohne ein weiteres Wort ging er davon.

Plötzlich war mir klar, wie schrecklich wir ihn verletzt hatten. Ich lief ihm nach. Aber es war zu spät. Er saß schon im Wagen, und gleich darauf war er verschwunden. Wir haben ihn nie wieder gesehen.

Die ersten Gemeindeglieder, die schon in ihren Bänken saßen, werden sich gewunden haben, als ihr Pfarrer etwas später eigenhändig vier riesige Kerzen mit Wachs auf den Altartisch klebte. Aber sie mußten sich nicht lange wundern. Denn in seiner Predigt er­zählte Theo von Sergej und seinen Kerzen und auch davon, daß wir in unserer Blindheit einen Menschen hatten davongehen lassen, den das Kind in der Krippe zu sich gerufen hatte.

Hier der Text als pdf.

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