Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke (1920)
Von Karl Barth
Was uns die Bibel an Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten hat, fragen wir. Diese Frage kehrt sich aber sofort um, richtet sich an uns selbst und lautet dann, ob und inwiefern wir denn in der Lage sind, uns die in der Bibel gebotene Erkenntnis zu eigen zu machen.
Auf unsere Frage muss ja ohne Besinnen die Antwort gegeben werden: Erkenntnis Gottes bietet uns die Bibel, also keine besondere, nicht diese oder jene Erkenntnis, sondern den Anfang und das Ende, den Ursprung und die Grenze, die schöpferische Einheit und die letzte Problematik aller Erkenntnis. Was fragen wir lange? «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde» und «Amen, ja komm Herr Jesu!». Das ist die Deutung des Weltgeschehens, die sich aus der in der Bibel gebotenen Erkenntnis ergibt. Uns selbst und unser Tagewerk und unsere geschichtliche Stunde in Gott dem Schöpfer und Erlöser zu begreifen, das ist die Aufgabe, an deren Bearbeitung sich diese Deutung bewähren muss. Sie hat neben einer andern Deutung keinen Platz und eine andre Deutung keinen Platz neben ihr. Denn in dieser Deutung sind alle Deutungen, die naturwissenschaftliche, die historische, die ästhetische und die religiöse zugleich inbegriffen und aufgehoben – und mit der philosophischen Deutung wird sie, sofern es sich um eine Philosophie handelt, die sich selbst versteht, letzten Grundes identisch sein. Sie ist die außer Konkurrenz und außer Diskussion stehende Deutung schlechthin, die Deutung sub specie aeterni. Was wollen wir mehr?
Das können wir uns sagen; aber sind wir auch in der Lage, das zu hören, «etwas damit anzufangen», wie eine beliebte Redensart das ausdrückt? Sind wir dieser Antwort gewachsen? Gerade ihre Einfalt und Universalität ist es, die uns offenbar in Verlegenheit setzt. Hätte sie ohne weiteres Raum in uns, wir würden auf die Frage: Was bietet uns die Bibel? gar nicht kommen. Es kann sich ja eigentlich gar nicht fragen: Was bietet die Bibel? Sie hat schon |71| geboten, unsre ganze Erkenntnis lebt von Erkenntnis Gottes. Wir sind nicht draußen, sondern drinnen. Erkenntnis Gottes ist nicht eine Möglichkeit, mit der wir es zur Deutung des Weltgeschehens versuchen oder allenfalls auch nicht versuchen können, sondern die Voraussetzung, von der wir belehrt oder halbbelehrt oder unbelehrt immer schon herkommen bei all unsern Deutungsversuchen. Ist uns aber die Bibel aus der Urkunde des Selbstverständlichen zu einer Urkunde historischer, gegenständlicher Neuigkeit geworden, stehen wir ihr überhaupt fragend gegenüber, als ob sie uns etwas sagen könnte, was wir nicht im tiefsten Sinne schon wissen, ist uns Erkenntnis Gottes statt der Voraussetzung, mit der wir angefangen haben, ein Philosophem oder Mythologumen, mit dem man erst etwas anzufangen suchen muss – dann bekunden wir eben damit, dass in uns jedenfalls teilweise die Einfalt und Universalität nicht ist, die uns in den Stand setzt, die Bibel so zu verstehen, wie sie sich selbst versteht und wie sie allein verstanden werden kann. Wir bekunden damit, dass wir wenigstens teilweise der Erkenntnis Gottes nicht fähig und gewachsen sind. Wir bekunden mit unserer Frage an die Bibel, dass uns ihre uns nur zu wohl bewusste Antwort in Verlegenheit setzt. In Verlegenheit setzt, sage ich, nicht mehr und nicht weniger. Unsre Frage an sie wird zur Frage an uns. Und dieser an uns gerichteten Frage gegenüber kommen wir zwischen Ja und Nein, Nein und Ja, seltsam ins Gedränge. Dass das so ist, das müssen wir uns vor allem offen eingestehen.
Wir sind drinnen und nicht draußen, sagten wir, drinnen in der Erkenntnis Gottes, drinnen in der Erkenntnis der letzten Dinge, von denen die Bibel redet. Dem Einfältigen und Universalen, das uns die Bibel bietet, kommt ein ebenso Einfältiges und Universales in uns selbst freudig entgegen. «Der Geist bezeugt, dass der Geist Wahrheit ist.». Ein rätselhaft-unerklärliches finsteres Draußensein widerspricht dem offenbar. Als ferne, fremde, problematische Größen treten uns die letzten Dinge gegenüber. Gegen die Einfalt der Gotteserkenntnis sträubt sich unsere Kompliziertheit, unsere Dies-und-Das-Kultur, gegen ihre Universalität unser Individualismus. Der vom Schöpfergeist abgesplitterte unerlöste Menschengeist wird zum Leugner seines Ursprungs, zum Leugner seiner selbst. Das ist wahr. Aber wie kommt es nur, dass es keine Beruhigung gibt bei diesem Widerspruch, dass das Nein das Ja nicht verschlingen kann ein für allemal, obwohl doch das Nein seit den |72| ältesten Tagen soviel mehr Beweiskraft für sich hatte als das Ja? Wie kommt es nur, dass kein Durchbruch sich ereignen will zu der endgültigen Klärung und Entscheidung, dass es nichts sei mit unserm Drinnensein? Liegt nicht schon in der Tatsache, dass wir nach Erkenntnis Gottes immer wieder fragen müssen, ein Hinweis darauf, dass wir vom Ja und nicht vom Nein herkommen? Das Dasein von Theologie und Kirche erklärt ja diese Tatsache wirklich nicht; denn Theologie und Kirche haben seit Anbeginn der Welt mehr für das Einschlafen als für das Wachwerden der Gottesfrage getan. Das Dasein der Einfältigen (im vulgären Sinne dieses Wortes) erklärt diese Tatsache auch nicht. Es braucht ja wirklich mehr Geist dazu, in Einfalt an Gott zu glauben gegen die ganze erdrückende Beweiskraft des Nein, das in uns allen ist, als dazu, die Gottesfrage für erledigt zu erklären. War es in der Tat letztlich der Glaube der Einfältigen, der die Gottesfrage immer wieder aufgerollt hat, so spricht das sehr für den Geist in den Einfältigen, aber nicht gegen das irgendwie vorhandene, gegebene Eigengewicht dieser Frage. Die natürliche Stärke des sogenannten religiösen Gefühls erklärt die Tatsache, dass nach Gott immer wieder gefragt wird, auch nicht; denn das religiöse Gefühl kann den Menschen ebensowohl von der Gottesfrage ablenken als zu ihr hinführen. Religion und Sinn für Gott sind noch nie gleichbedeutend gewesen. Es ist offenbar, dass die Frage nach Gott eine letzte Unvermeidlichkeit ist, dass schon unser Fragen voller Antwort ist, dass wir bedrängt und gefangen genommen sind von einem vorausgesetzten anfänglichen Ja. Wir würden nicht verneinen, wenn uns nicht die Realität des Ja so stark beunruhigte. Wir können die ursprüngliche Einheit und Gründung der Seele in Gott nicht ganz vergessen. Wir könnten nicht Grenzen der Humanität aufrichten und bewachen, wenn wir uns nicht gleichzeitig des Begrenzenden erinnern würden. Wir würden nicht suchen, wenn wir nicht schon gefunden hätten. Wie sollte also Erkenntnis Gottes nicht Raum haben in uns?
Aber indem wir das sagen, sprechen wir auch unsere Verlegenheit aus. Also hat doch noch anderes in uns Raum neben Erkenntnis Gottes? Also konstatieren wir selbst, indem wir an unserem teilweisen Drinnensein festhalten, gleichzeitig unser teilweises Draußensein? Also richten wir selber ein Zweierlei, einen Dualismus auf? Also hat auch Erkenntnis Gottes nicht anders Raum in uns denn als Gegensatz zu anderen Erkenntnissen? Erkenntnis |73| Gottes im Gegensatz zu anderen Erkenntnissen! Wie kommt es nur, dass wir es ehrlicherweise nicht weiter zu bringen scheinen als zu diesem absurden Selbstwiderspruch? Wie kommt es nur, dass auch unser Ja nicht zur Beruhigung, zur Fülle, zur Bewährung vorzudringen vermag? Warum auch hier kein Durchbruch zur Klärung, zur Entscheidung, dass es mit allem Draußensein, mit allem Naturalismus, Historismus und Ästhetizismus nichts ist? Woher die entgegengesetzte Tatsache, dass wir es fertigbringen, immer teilweise auch nicht nach Gott zu fragen? Die Überwindung des dogmatischen Denkens durch die antike und moderne philosophische Aufklärung begründet diese Tatsache nicht; denn wenn des Menschen Seele sich tatsächlich ihrer Autonomie, ihrer Freiheit bewusst wird, so bedeutet das nicht eine Abschwächung, sondern eine Verstärkung des Gewichts der Frage nach der Einheit, der Gottesfrage. Die Fortschritte der theoretischen und praktischen Naturbeherrschung erklären unseren stumpfen Protest auch nicht; denn er ist 5 oder 10 Jahrtausende älter als die moderne Wissenschaft und Technik, und die ausgesprochene Diesseitigkeit des modernen Bewusstseins ist eine Bejahung, nicht eine Verneinung der Wahrheit, dass unser Dasein in den Angeln von Anfang und Ende hängt. Keine Erklärung ist auch der Hinweis auf die natürliche Schwäche des religiösen Gefühls der meisten Menschen. Denn wenn die Stärke dieses Gefühls den Sinn für Gott nicht zu begründen vermag, so kann ihn seine Schwäche auch nicht verunmöglichen. Es sind schon oft gerade ausgesprochen unreligiöse Menschen gewesen, die den ganzen Ernst und das ganze Gewicht der Gottesfrage viel stärker empfunden, viel schärfer zum Ausdruck gebracht haben als die innigsten und eifrigsten Frommen. Ich denke an das merkwürdig ausgetrocknete Gemüt Immanuel Kants. Ich denke an das ausgesprochene und scheinbar unvermeidliche religiöse Philistertum fast aller Begründer und Führer des Sozialismus. Ich denke an den Theologen, der keiner sein wollte, den Skeptiker Franz Overbeck. Sie haben mit oder ohne Gefühl tatsächlich in der Gottesfrage gelebt. Wie kommt es denn, dass wir mit oder ohne Gefühl tatsächlich teilweise auch nicht in der Gottesfrage leben können? Es ist offenbar, dass auch unser stumpfer Protest kein historisch-psychologisch erklärlicher Zufall, sondern eine letzte Unvermeidlichkeit ist. Unser Fragen nach Gott kann auch ein Ausdruck davon sein, dass es uns gar nicht ernst ist mit unserm |74| Fragen, dass wir der gegebenen und uns wohl bewussten Antwort ausweichen, weil wir sie nicht hören können oder nicht hören wollen, was wohl eins und dasselbe ist. Wir bringen es eben fertig, nicht an das zu denken, was wir doch wissen, die ursprüngliche Einheit der Seele teilweise zu vergessen. Wir sind imstande, uns ein Stück weit zu beruhigen bei einem in die verschiedensten Gebiete, Richtungen und Problemkreise gespaltenen Erkennen, mit eifersüchtiger Begeisterung die Teile in der Hand zu halten, ein jeder den seinen – hie Biologie! hie Geschichte! hie Religion! du in deiner Ecke, ich in meiner hier – und auf das geistige Band Verzicht zu leisten. Es ist ebenso unerklärliche wie unleugbare Tatsache, dass es auch ein vorausgesetztes anfängliches Nein gibt, das uns gefangen hält, dass wir fähig sind, bald im vermeintlichen Interesse der bedrohten Religion, bald umgekehrt im vermeintlichen Interesse der bedrohten Kultur einer besonderen Weltwahrheit eine besondere Gotteswahrheit metaphysisch gegenüberzustellen, eine doppelte Buchführung einzurichten und so die in der Bibel gebotene Erkenntnis Gottes in ihr Gegenteil zu verwandeln. Denn nicht nur Raum haben neben anderen, sondern der Weisheit Anfang sein will die Furcht des Herrn, die uns in der Bibel geboten ist.
So kommen wir angesichts des Ja und Nein, Nein und Ja, in dem wir uns befinden, in Verlegenheit, in die Krisis des Wortes: Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Alle vorletzten Begründungen und Erklärungen dieser Verlegenheit versagen. Es ist die Frage der Erwählung, mit der die Bibel antwortet auf unsere Frage, was sie uns zu bieten habe. Was man Religion und Kultur nennt, das mögen irgendwie jedermanns Dinge sein, das Einfältige und Universale aber, der Glaube, der in der Bibel geboten ist, ist nicht jedermanns Ding: er liegt nicht zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht in jedermanns Möglichkeit. Einfalt ist eben nichts so Einfaches. Universalität, Allheit ist nicht Allgemeinheit. Das erste Gegebene ist nie eine Gegebenheit. Die letzte Voraussetzung ist nie ein gesetztes Ding unter Dingen. Das Selbstverständliche ist nie selbstverständlich. Wir werden durch die Erkenntnis, die die Bibel uns bietet und gebietet, auf eine schmale Felsenkante hinausgedrängt, in eine Schwebelage hart zwischen Ja und Nein, zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Erde. «Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirket, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlge-|75|fallen.» Die Entscheidungen in dieser Frage der Erwählung sind das eigentliche Lebendige, das Geheimnis der Geschichte und unseres Daseins. Augustin und die Reformatoren haben sie drastisch, aber allzu kurzschlüssig auf die psychologische Einheit des Individuums bezogen und so zu einmal für allemal aufgestellten Naturgesetzen über dessen Seligkeit oder Verdammnis gestempelt. In Wirklichkeit beziehen sie sich gerade auf die Freiheit des Individuums und fallen darum nicht ein für allemal, sondern immer wieder. Ja nebeneinander stehen die entgegengesetzten Entscheidungen gleichzeitig im gleichen Individuum. Kein noch so entschiedenes Ja, das nicht die Möglichkeit des Nein in sich trüge, kein noch so entschiedenes Nein ohne die Möglichkeit, ins Ja umzuschlagen. Kein Erwähltsein, aus dem nicht Verworfensein, kein Verworfensein, aus dem nicht Erwähltsein werden könnte. Ewig ist allein Gottes Erwählen, zeitlich alle psychischen und geschichtlichen Bestimmungen, die sich daraus ergeben. Das ist’s, was uns die Bibel vor allem zu bieten hat: die Einsicht, dass Erkenntnis Gottes das ewige Problem unsres persönlichsten Daseins ist, der Ursprung, von dem wir leben und doch nicht leben, von dem wir getrennt sind und doch nicht getrennt. Das ist’s, was in der Bibel vor allem zu lernen ist: Höchste Dämpfung in den Beteuerungen unseres Glaubens oder Unglaubens, Silentium vielleicht, bis wir gemerkt, um was es sich da eigentlich handelt:
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub ihn!
Und wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: Ich glaub ihn nicht!
Wir sind Staub und Asche mit unserm Ja und Nein, das ist wahr. Wer heißt uns, statt ruhig unsern sogenannten religiösen oder sogenannten kulturellen Bedürfnissen nachzugehen, uns gerade mit der Bibel einzulassen? Haben wir es aber einmal getan, so kann es zunächst nichts anderes gelten, als endlich einmal verlegen zu werden, endlich einmal in Furcht und Zittern Respekt zu bekommen vor den letzten Notwendigkeiten, unter denen wir stehen, bevor wir unsere Frage ausgesprochen und die Antwort gehört haben. Auf das Unternehmen christlicher Theologie haben wir uns heute mit der Frage nach dem, was die Bibel zu bieten hat, eingelassen. Wir wollen uns bewusst sein, dass es kein gefährlicheres, zweideutigeres |76| Unternehmen gibt, kein Unternehmen, das dem Unternehmer so zum Gericht wird wie dieses. Anders als aus der Bedrängnis des Erwählungsgedankens heraus lässt sich kein Wort reden und kein Wort hören von dem, was die Bibel uns zu sagen hat von der Herrlichkeit Gottes im Angesichte Jesu Christi.
Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kultreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel. Also ein menschliches Dokument wie ein anderes, das auf eine besondere Beachtung und Betrachtung einen apriorischen dogmatischen Anspruch nicht machen kann. Aber das ist eine Einsicht, die heute als verkündigt in allen Zungen und geglaubt in allen Zonen vorausgesetzt werden darf. Wir brauchen diese offene Türe nun nicht immer wieder einzurennen. Dem sachlichen Inhalt dieser Einsicht bringen wir unsre ernste, wenn auch etwas kühle Aufmerksamkeit entgegen, die religiöse Begeisterung aber und das wissenschaftliche Pathos zum Kampf gegen «starre Orthodoxie» und «toten Buchstabenglauben» bringen wir nicht mehr auf. Es ist denn doch zu offenkundig, dass das vernünftige und fruchtbare Gespräch über die Bibel jenseits der Einsicht in ihren menschlichen, historisch-psychologischen Charakter anfängt. Möchte sich doch der Lehrkörper unsrer hohen und niedern Schulen und mit ihm der ohnehin fortschrittliche Teil der Geistlichkeit unsrer Landeskirchen recht bald entschließen, ein Gefecht abzubrechen, das seine Zeit gehabt, aber nun auch wirklich gehabt hat. Der sonderbare Inhalt dieser menschlichen Dokumente, die merkwürdige Sache, um die es den Schreibern dieser Quellen und denen, die hinter den Schreibern standen, gegangen ist, das biblische Objekt, das ist die Frage, die uns heute bedrückt und beschäftigt.
Wir stoßen in der Bibel mit den Historikern und Psychologen zunächst auf die Tatsache, dass es offenbar einmal Menschen mit einer ganz außerordentlichen geistigen Haltung und Blickrichtung gegeben hat. Es gibt zweifellos ein Mehr und Weniger dieser Absonderlichkeit innerhalb der Bibel. Die biblischen Dokumente haben Ränder, und an diesen Rändern kommen die Unterschiede gegenüber der Haltung anderer Menschen ins Fließen. Eine gewisse Einheit auffallender Orientierung gerade dieser Menschen ist darum |77| doch nicht zu verkennen. Auch das ist sofort zu sagen, dass uns die Tatsache gerade solcher Orientierung nicht nur aus der biblischen Welt dokumentiert ist. Aber die Häufung, die Intensität, die einheitliche Mannigfaltigkeit und mannigfaltige Einheit, in der sie gerade auf dieser nach rückwärts im Dunkel des antiken Morgenlandes, nach vorwärts im Düster des modernen Abendlandes sich verlierenden geschichtlichen Linie auftritt, mit ihrem höchst rätselhaften Mittelpunkt an der Wende unsrer Zeitrechnung – das ist darum nicht weniger bemerkenswert, weil die Spuren gleicher Haltung und Blickrichtung auch in Griechenland, im Wunderlande Indien und im deutschen Mittelalter nachweisbar sind. Ich greife wahllos nach einigen Beispielen: Was war das für eine Geistesverfassung, in der ein Buch von so «gebändigtem Enthusiasmus» wie der Prediger Salomo geschrieben werden konnte? Was war das für ein Mensch – und wenn es auch nur einer von den berüchtigten Abschreibern gewesen ist! –, der einen historischen Schnitzer von der Genialität begehen konnte, wie sie in der Verbindung der beiden Hauptteile des Jesajabuches zu einer Schrift liegt? Wie konnte jemand in die Lage kommen, so etwas wie 1. Kor. 15 zu denken und zu Papier zu bringen? Was war das für ein Publikum, dem eine Erbauungslektüre vom Kaliber des Römer- oder Hebräerbriefes offenbar einmal zugemutet worden ist? Was für eine Konzeption von Gott und Welt, die es Menschen möglich machte, altes und neues Testament nicht nur nebeneinander zu ertragen, sondern eins im Lichte des andern zu verstehen? Wir kennen wohl alle die Beunruhigung, die über uns kommt, wenn wir vom Fenster aus die Menschen plötzlich Halt machen, die Köpfe zurückwerfen und, die Hände an die Augen gelegt, steil gen Himmel blicken sehen nach einem Etwas, das uns durch das leidige Dach über uns verborgen ist. Die Beunruhigung ist überflüssig: es wird wahrscheinlich ein Flieger sein. Gegenüber dem plötzlichen Stillgestelltsein und steilen Aufwärtsblicken und angespannten Lauschen, das für die biblischen Menschen so bezeichnend ist, wird uns die Beruhigung nicht so leicht fallen. Mir persönlich ist es zuerst an Paulus aufgegangen: dieser Mensch sieht und hört ja offenbar etwas, was aus allen Vergleichen herausfällt, was sich meinen Beobachtungsmöglichkeiten und Denkmaßstäben zunächst ganz und gar entzieht. Mag ich mich zu dem Kommenden, nein Gegenwärtigen, nein doch erst Kommenden, das er da in rätselhaften Worten zu sehen und zu hören behauptet, stellen wie ich will, darum komme |78| ich nicht herum, dass jedenfalls er, Paulus, oder wer es immer sein mag, der z.B. den Epheserbrief geschrieben hat, Auge und Ohr ist in einer Weise, zu deren Beschreibung Ausdrücke wie Begeisterung, Entsetzen, Ergriffenheit, Überwältigung einfach nicht genügen. Es erscheint mir da hinter dem Transparent eines solchen Dokuments eine Persönlichkeit, die vom Sehen und Hören dessen, was ich meinetwegen nicht sehe und höre, tatsächlich aus allen üblichen Bahnen und vor allem aus ihrer eigenen Bahn geschleudert, gerade als Persönlichkeit sozusagen aufgehoben ist, um nun als Gefangener von Land zu Land geschleppt zu werden zu seltsamem, hastigem, unberechenbarem und doch geheimnisvoll planmäßigem Tun. Und wenn ich allenfalls zweifle, ob ich nicht selbst halluziniere, so sagt mir ein Blick auf die gleichzeitige Profangeschichte, auf die im Kreis sich ausbreitenden Wellen des historischen Teiches, dass da in der Tat irgendwo ein Stein von ungewöhnlichem Gewicht in die Tiefe gegangen sein muss, dass unter all den hunderten von vorderasiatischen Wanderpredigern und Wundermännern, die damals durch dieselbe appische Straße ins kaiserliche Rom eingezogen sein mögen, gerade dieser eine Paulus mit seinem Sehen und Hören wenn nicht alle, so doch die beträchtlichsten Dinge daselbst ins Rollen gebracht haben muss. Und das ist ja nur der eine Einschlag, «Paulus» mit Namen. Daneben der wahre Wirbel von ganz eigenartigem und doch mit jenem auch wieder gleichartigem Sehen und Hören, dem «Johannes» den Namen gegeben hat. Daneben ein so originales, Altes und Neues kühn kombinierendes Auge wie das des Verfassers des ersten Evangeliums. Daneben des Paulus Freund und Schüler, der mehr als «religiös-soziale» Mediziner Lukas. Daneben ein gerade in seiner moralischen Nüchternheit um so beunruhigenderer Seher und Hörer wie Jakobus. Dahinter namenlose und geschichtslose Gestalten in Jerusalem und weiter zurück an den Ufern des galiläischen Meeres. Aber immer dasselbe Sehen des Unsichtbaren, dasselbe Hören des Unerhörten, dasselbe ebenso unbegreifliche wie unleugbare epidemische Stillgestelltsein und Umgekehrtwerden der Menschen. «Diese 12 sandte Jesus aus». Oder waren es 70, oder 500? Wer gehörte dazu? Wer gehörte nicht dazu? Genug, mögen sie alle für uns in fremden Zungen reden, wir können nicht nicht sehen, dass da sehr seltsam geöffnete Augen, sehr merkwürdig lauschende Ohren sind. Und nun dieselben Augen und Ohren, aller historischen Kausalität spottend, schon vorher, schon in der Zeit vor der Zeit. Ein Volk wie andere, gewiss, |79| das Volk Israel-Juda, aber ein Volk, in dem immer wieder in dieser Weise gesehen und gehört wurde, ein Volk, in dem jene steile Aufmerksamkeit auf ein ganz Anderes nie ganz auslöschen wollte. Oder erliegen wir wieder einer historischen Halluzination, wenn wir das sagen? Der Blick auf das unheimlich bewegte und bewegliche Volk der Juden und Judenchristen, wie es noch heute in unserer Mitte lebt, mag uns darüber belehren, dass da einst auf alle Fälle neue befremdliche Dinge im Werk gewesen sein müssen. Mögen sie Propheten sein, in der fruchtbaren Mitte der biblischen Linie, oder Priester, mehr an den Rändern, dort, wo die Bibel aufhört, Bibel zu sein, mögen sie es in Psalmen oder Sprüchen sagen oder im behaglichen Strom historischer Erzählung, das Thema ist in allen Variationen gleich erstaunlich. Was kommt darauf an, ob Gestalten wie Abraham und Mose Gebilde späterer Mythendichtung sind – das glaube, wer’s glauben mag! –, es waren einmal, ein paar Jahrhunderte früher oder später, Menschen, die glaubten wie Abraham, die waren Fremdlinge im verheißenen Land wie Isaak und Jakob und gaben zu verstehen, dass sie ihr Vaterland suchten, die hielten sich wie Mose an den, den sie nicht sahen, als sähen sie ihn. Es waren einmal Menschen, die wagten es. Mögen wir von dem Etwas, mit dem sie es wagten, um das diese Seher und Hörer sich bewegten, halten, was wir wollen und können, die Bewegung selbst, in der sie alle, die Benannten, die Namenlosen und die Pseudonymen, sich befanden, können wir ebensowenig in Abrede stellen, wie die Rotation des Fixsternhimmels um eine unbekannte Zentralsonne. Die Tatsache dieser Bewegung tritt uns in der Bibel in unentrinnbarer Weise entgegen. Wir denken an Johannes den Täufer auf Grünewalds Kreuzigungsbild mit seiner in fast unmöglicher Weise zeigenden Hand. Diese Hand ist’s, die in der Bibel dokumentiert ist.
Doch dieses Phänomen bedarf der Deutung. Indem wir die zeigende Hand bezeichnen und beschreiben als Religion, Frömmigkeit, Erlebnis u. dgl., und wenn es mit noch so viel Sachkunde und Liebe geschähe, ist für ihre Deutung noch nichts geleistet. Diese wird vielmehr gerade davon auszugehen haben, dass der ganze Vorgang mit den Kategorien der Religionskunde nicht einmal erschöpfend bezeichnet und beschrieben ist, geschweige denn, dass damit etwas gewonnen wäre für das Verständnis der Sache. Es steckt im biblischen Erlebnis ein entscheidendes Element, das lässt sich mit keinen Mitteln psychologischer Einfühlung und Nachkonstruk-|80|tion als Erlebnis anschaulich machen. Die biblische Frömmigkeit ist nicht eigentlich fromm; viel eher müsste man sie als eine wohl überlegte, qualifizierte Weltlichkeit bezeichnen. Die biblische Religionsgeschichte hat die Eigentümlichkeit, dass sie in ihrem Kern, in ihrer tiefsten Tendenz weder Religion noch Geschichte sein will, – nicht Religion, sondern Wirklichkeit, nicht Geschichte, sondern Wahrheit, könnte man vielleicht sagen. Doch wir wollen nicht vorgreifen.
Wir stehen hier vor dem unterscheidenden Merkmal der biblischen Linie gegenüber all dem, was wir sonst Religionsgeschichte nennen. Eine tiefste Tendenz der Jenseitigkeit, der weltlichen Sachlichkeit, der Ungeschichtlichkeit wohnt freilich letztlich allem inne, was wir als «Religion» zu bezeichnen pflegen. Den Inhalt und nicht nur eine Form, die Bewegung und nicht nur die Funktion des Bewegtseins, das Göttliche und nicht nur ein Menschliches, das Leben und nicht ein Heiligtum neben dem Leben meinten und meinen sie zu allen Zeiten an allen Orten. Nur dass auch immer und überall die Untreue gegenüber dieser tiefsten Tendenz unverkennbar ist: Die Religion vergisst, dass sie nur dann Daseinsberechtigung hat, wenn sie sich selbst fortwährend aufhebt. Sie freut sich statt dessen ihres Daseins und hält sich selbst für unentbehrlich. Sie täuscht sich und die Welt über ihren wahren Charakter; sie kann es vermöge ihres Reichtums an sentimentalem und symbolischem Gehalt, an interessanten Seelenzuständen, an Dogma, Kult und Moral, an kirchlicher Dinglichkeit. Sie erträgt ihre eigene Relativität nicht. Sie hält das Warten, die Pilgrimschaft, das Fremdlingsein, das allein ihr Auftreten in der Welt rechtfertigt, nicht aus. Sie begnügt sich nicht damit, hinzuweisen auf das X, das über Welt und Kirche steht. Sie tut, als ob sie im Besitz überweltlicher und überkirchlicher Goldbarren wäre, und sie fängt in der Tat an, klingende Münzen, sogenannte «religiöse Werte» auszugeben. Sie tritt als konkurrenzfähige Macht neben die andern Mächte des Lebens, als vermeintliche Überwelt neben die Welt. Sie treibt Mission, als ob sie eine Sendung hätte. Jene höchst außerordentliche Blickrichtung wird eine mögliche, anerkannte, nicht unpraktische und darum auch nicht unseltene Haltung neben andern. Gottvertrauen wird der erstaunten Welt als ein durchaus erreichbares und ganz nützliches Requisit fürs Leben empfohlen und für die erste beste Gründung unbedenklich in Anspruch genommen. Die zeigende Hand Johannes des Täufers wird eine nicht ungewohnte |81| Erscheinung – auf Kanzeln. Das Erlebnis des Paulus wird da und dort von ernsten jungen Leuten auch gemacht. Das Gebet, diese letzte Möglichkeit, nach der jene von Gott gefangenen Geister in höchster Not oder Freude griffen, wird ein mehr oder weniger anerkannter Bestandteil bürgerlicher Haus- und Kirchenordnung. Ohne zu erröten, redet man von «christlichen» Sitten, Familien, Vereinen und Anstalten. «Gott in uns» – ich in dir, du in mir – warum nicht auch das? Der religiöse Übermut erlaubt sich einfach alles. Als ob es so sein müsste, reiht sich an die Physik eine Metaphysik. Die Form traut es sich eben zu, für den Inhalt einzustehen. Das Erlebnis wird zum Selbstgenuss, zum Selbstgenügen, zum Selbstzweck. Das Bewegtsein will selbst Bewegung sein. Der Mensch hat das Göttliche in Besitz genommen, in Betrieb gesetzt. Niemand merkt es, niemand will es merken, dass alles auf Supposition beruht, auf einem enormen «Als ob» und Quidproquo. Wie kam es nur? Wer ist verantwortlich? Das Volk, das in den Ruf nach Göttern ausbricht, weil es sich in der Wüste gar so verlassen fühlt, oder Moses unvermeidlicher priesterlicher Bruder Aaron, der dem Volke nur allzu gut zu sagen weiß, wie man zu solchen Göttern kommt? Genug, die Religionsgeschichte, d. h. aber die Geschichte der Untreue der Religion gegen das, was sie eigentlich meint, beginnt. Denn mit dem Moment, wo Religion bewusst Religion, wo sie eine psychologisch-historisch fassbare Größe in der Welt wird, ist sie von ihrer tiefsten Tendenz, von ihrer Wahrheit abgefallen zu den Götzen. Ihre Wahrheit ist ihre Jenseitigkeit, ihre Weltlichkeit, ihre Nicht-Geschichtlichkeit. Ich sehe hierin das entscheidende Merkmal der Bibel gegenüber der Religionsgeschichte – zu der selbstverständlich vor allem auch die christliche Kirchengeschichte gehört –, dass in der Bibel eine ganz auffallende Linie von Treue, von Beharrlichkeit, von Geduld, von Warten, von Sachlichkeit der unfassbaren, unpsychologischen, unhistorischen Wahrheit Gottes gegenüber sichtbar wird. Das Geheimnis, auf das der Blick aller Religion gerichtet ist, leistet in der Bibel den menschlichen Versuchen, es zu verraten und zu kompromittieren, erfolgreichsten Widerstand.
Die biblische Frömmigkeit ist sich ihrer eigenen Schranken, ihrer Relativität bewusst. Sie ist in ihrem Wesen Demut, Furcht des Herrn. Sie weist, indem sie über die Welt hinaus weist, zu-|82|gleich und vor allem über sich selbst hinaus. Sie lebt ganz und gar von ihrem Gegenstand und für ihren Gegenstand. Am biblischen Erlebnis ist nichts unwichtiger als das Erleben als solches. Es ist Amt und Auftrag, nicht Ziel und Erfüllung, und darum elementares, seiner selbst kaum bewusstes Ereignis, das immer nur ein Minimum an Reflexion und Konfession nötig macht. Die Propheten und Apostel wollen nicht sein, was sie heißen, sie müssen es sein. Eben darum sind sie es. Gerade im Zentralpunkt des typisch religiösen Interesses: in den Äußerungen über das persönliche Verhältnis des Menschen zu Gott ist die Bibel merkwürdig zurückhaltend, nüchtern, farblos, verglichen mit dem in allen Regenbogenfarben verdrängter Sexualität schillernden Reichtum, mit dem der Mythus und die Mystik diesen Gegenstand behandeln. Es ist offenbar, dass das Verhältnis zu Gott, auf das die biblischen Äußerungen hinzielen, nicht in den purpurnen Tiefen des Unbewussten stattfindet, nicht etwa identisch sein will mit dem, was die seelische Tiefseeforschung unsrer Tage als Libidoerfüllung im engern oder weitern Sinn bezeichnet. Man beachte gerade in diesem Zusammenhang die höchst umsichtige und distante Behandlung des der ganzen Religionsgeschichte so wichtigen Opferbegriffs. Schon im alten Testament ein beständiges Hinausweisen über das Opfer auf sein Letztes, Eigentliches, das mit dem größten und reinsten Opfer nicht erledigt ist und das letztlich alle Opfer überflüssig macht. Nicht Opfer will Gott, sondern – ja was denn? mochten die Religiösen schon damals fragen! Gehorsam, Gerechtigkeit, Liebe, offene Ohren, Dank, ein geängsteter Geist, ein zerschlagenes Herz! lauten die rätselhaft negativen Antworten, bis es im neuen Testament zum Durchbruch kommt, dass durch ein Opfer alle Opfer erledigt sind: «Wo Vergebung ist, da ist nicht mehr Opfer für die Sünde.». In bemerkenswerter Einsamkeit steht die Stephanuserzählung der ganzen Flut christlicher Märtyrergeschichten gegenüber. Von der Erlösung durch Opfer, die wir zu bringen haben, kommt fortan in der Bibel nichts mehr vor. Und so richtet sich die Polemik der Bibel nicht wie die der Religionen bis auf diesen Tag gegen die gottlose Welt, sondern gerade gegen die religiöse Welt, ob sie nun unter dem Vorzeichen Baal oder Jahwe stehe, gegen die Heiden nur, insofern ihre Götter eben jene ins Metaphysische erhobenen Relativitäten, Mächte und Gewalten darstellen, die als solche dem Herrn ein Greuel und in Christus abgetan sind. Im übrigen muss |83| im alten und neuen Testament gerade eine ganze Reihe von Heiden einen Glauben bekunden, wie er in Israel nicht gefunden wird, und so ad oculos demonstrieren, wie sehr der biblische Mensch vaterlos, mutterlos, ohne Geschlecht dasteht, immer wieder ein Neuling, ein Erstling, aller Geschichte gegenüber nur auf sich selbst, auf Gott gestellt, Melchisedek, der König von Salem, sein klassisches Paradigma. Auf der gleichen Linie liegt das auffallend geringe Interesse der Bibel am Biographischen, am Werden ihrer Helden. Keine ergreifende Jugend- und Bekehrungsgeschichte des Jeremia, kein Bericht vom erbaulichen Sterben des Paulus. Zum Leidwesen unserer theologischen Zeitgenossen vor allem kein «Leben Jesu». Was wir von diesen Menschen hören, ist nie von ihnen aus erzählt, nie als ihre «Leben, Taten und Meinungen». Der biblische Mensch steht und fällt mit seiner Aufgabe, seinem Werk. Darum entfaltet sich auch der biblische Schöpfungsgedanke nirgends zur Kosmogonie. Auf ein solennes Distanzschaffen zwischen dem Kosmos und dem Schöpfer, gerade nicht auf metaphysische Welterklärung ist es abgesehen. Gott sprach: Es werde!, das ist alles. Alles Sein hat ein Wort Gottes, alles Vergängliche ein Unvergängliches, alle Zeit Ewigkeit zur Voraussetzung. Aber kein An sich ist das Wort Gottes, das Unvergängliche, die Ewigkeit, kein Etwas neben anderem. «Wo will man die Weisheit finden und wo ist die Stätte des Verstandes? Niemand weiß, wo sie liegt, und sie wird nicht gefunden im Lande der Lebendigen. Die Tiefe spricht: sie ist in mir nicht! und das Meer spricht: sie ist nicht bei mir!» Die Grenze, der Ursprung und das Problem der Welt, «der König aller Könige und Herr aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnet in einem Lichte, da niemand zu kann» – das ist «Gott» in der Bibel. Und gerade darum und von daher: Alles was Odem hat, lobe den Herrn! Und so ist die biblische Geschichte eigentlich im alten und neuen Testament gerade keine Geschichte, sondern von oben gesehen eine Reihe von freien göttlichen Handlungen, von unten gesehen eine Reihe von ergebnislosen Versuchen eines an sich unmöglichen Unternehmens, unter den Gesichtspunkten von Entwicklung und Pragmatik im Einzelnen und im Ganzen schlechthin unverständlich, wie jeder Religionslehrer, der nicht faule Künste treibt, nur zu gut weiß. So ist die biblische Kirche bezeichnenderweise die Stiftshütte, das Wanderzelt; von dem Moment an, wo sie zum Tempel wird, existiert sie wesentlich nur noch als Angriffsobjekt. Man lese einmal nach, wie |84| in der Stephanusrede der Apostelgeschichte die Summe des alten Testaments gezogen wird. Das zentrale Interesse der beiden Testamente ist unleugbar nicht dem Aufbau, sondern dem notwendig drohenden und eintretenden Abbruch der Kirche zugewendet. Im himmlischen Jerusalem der Offenbarung endlich ist nichts bezeichnender als ihr gänzliches Fehlen: «Und ich sah keinen Tempel darinnen.» So ist es die Eigenart biblischen Denkens und Redens, dass es aus einer Quelle fließt, die über den religiösen Begriffsgegensätzen z.B. von Schöpfung und Erlösung, Gnade und Gericht, Natur und Geist, Erde und Himmel, Verheißung und Erfüllung liegt. Wohl setzt es ein, jetzt auf dieser, jetzt auf jener Seite der Gegensätze, aber es führt sie nie pedantisch zu Ende, es beharrt nie bei den Konsequenzen, es verhärtet sich weder in der Thesis noch in der Antithesis, es versteift sich nirgends zu endgültigen Positionen oder Negationen. Es hat kein Verständnis für das, was unser schwerfälliges Zeitalter «ein ehrliches Entweder-Oder» heißt. Es liegt ihm am Ja immer so viel und so wenig als am Nein; denn die Wahrheit liegt nicht im Ja und nicht im Nein, sondern in der Erkenntnis des Anfangs, aus dem Ja und Nein hervorgehen. Es ist ein ursprüngliches Denken und Reden, ein Denken und Reden vom Ganzen her und aufs Ganze hin. Es wird sich mit jeder ihres Namens werten Philosophie ausgezeichnet zu verständigen vermögen, mit sämtlichen Psychologismen von der gröbern und von der feinern Sorte niemals. Denn es will immer völlig ernst, aber nie beim Wort genommen sein. Es will nicht akzeptiert, sondern verstanden werden: pneumatikoĩs pneumatiká, Geist durch Geist [1.Kor. 2,13]. Es ist durch und durch dialektisch. Caveant professores! Die biblische Dogmatik ist die grundsätzliche Aufhebung aller Dogmatik. Die Bibel hat eben nur ein theologisches Interesse und das ist rein sachlich: das Interesse an Gott selbst.
Das ist’s, was ich die Jenseitigkeit, die Ungeschichtlichkeit, die Weltlichkeit der biblischen Linie nennen möchte. Ein Neues, Unvergleichliches, Unerreichbares, ein nicht nur Himmlisches, sondern Überhimmlisches: Gott hat die Aufmerksamkeit dieser Menschen auf sich gezogen. Gott verlangt ihr volles Gehör, ihren ganzen Gehorsam. Denn er will sich selbst treu sein; er will heilig sein und bleiben. Er will nicht an sich gerissen, in Betrieb und Gebrauch gesetzt sein, er will nicht dienen. Er will herrschen. Er will selbst an sich reißen, beschlagnahmen, betreiben, gebrauchen. Er will |85| keine anderen Bedürfnisse befriedigen als seine eigenen. Er will nicht Jenseits sein neben einem Diesseits, er will alles Diesseits verschlingen ins Jenseits. Er will nicht Etwas sein neben Anderen, sondern das ganz Andere, der Inbegriff aller bloß relativen Anderheit. Er will nicht Religionsgeschichte begründen, sondern der Herr unsres Lebens, der ewige Herr der Welt sein. Darum handelt es sich in der Bibel. Auch anderswo? Gewiß, auch anderswo. Nur dass das, was anderswo das Letzte, ein erhabener Hintergrund, ein esoterisches Geheimnis und darum doch nur eine Möglichkeit ist, in der Bibel das Erste ist, der Vordergrund, die Offenbarung, das eine, alles beherrschende Thema. Wohl lassen sich für alle genannten Merkmale der biblischen Linie auch biblische Gegenbeispiele anführen. Die biblische Linie ist ja nicht identisch mit dem Bibelbuch. Sie liegt in der Bibel selbst ungeschützt mitten in der allgemeinen Religionsgeschichte, und kaum ein Punkt, wo sie nicht von andern, fremdartigen Linien geschnitten würde. Jene Ränder in der Bibel, wo die biblischen Menschen nicht nur andern Menschen, sondern religiösen Menschen sehr ähnlich sehen, sind besonders im alten Testament oft verwirrend breit und fehlen auch im neuen Testament durchaus nicht. Die Fülle der Variationen lässt streckenweise das Thema fast vergessen. Die Meinung, es sei auch die Bibel nur ein Teil des allgemeinen religiösen Chaos, ist also begreiflich. Aber nicht unvermeidlich! Nicht unvermeidlich wenigstens in einer Zeit, der die Relativität des Christentums, sofern es Erlebnis, Metaphysik und Geschichte ist, so handgreiflich, so unverkennbar vor Augen gestellt, der die Frage nach einem Neuen, nach dem ganz Andern, nach der Realität Gottes so auf der Zunge liegt wie unsrer Zeit. Wir könnten in der Lage sein, den Charakter und die Richtung der biblischen Linie nicht unvermeidlich misszuverstehen, nicht unvermeidlich unsre Velleitäten in sie hineinzulesen. Eine auch sonst sehr lichtvolle Kirchenordnung aus der Reformationszeit, der Berner Synodus von 1532 trägt als Motto das sehr unkirchliche paulinische Wort: «Ob wir auch Christum nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr.» Biblische Einsicht ist also trotz ihrer Verdunkelung durch die christliche Kirchengeschichte auch späteren Jahrhunderten nicht unzugänglich gewesen.
Wir lassen wieder Grünewald reden. Neben der gewaltig zeigenden Gestalt seines Johannes stehen die Worte: Illum oportet crescere, me autem minui. Das ist des Propheten, des Gottesmannes, des Sehers und Hörers Einstellung gegenüber dem, dem sein |86| mächtiges Zeigen gilt. Der Gegenstand, die Sache, das Göttliche selbst und als solches in wachsender, die Funktion, die Frömmigkeit, die Kirche als solche in abnehmender Bedeutung! Das ist’s, was man biblische Linie, biblische Einsicht nennen kann.
Er muss wachsen! Aber wer vermöchte ohne tiefstes Erschrecken zu reden und zu hören von dem, der da gesehen von den biblischen Menschen, vielleicht von Weitem auch von uns gesehen, wachsen will? Es umgibt uns, nachdem wir dem bunten Jahrmarkt der Religionsgeschichte den Rücken gekehrt haben, etwas von der erdrückenden, nur Ehrfurcht und nichts weiter einflößenden Stille und Einsamkeit der Wüste, die in der Bibel nicht umsonst eine so wichtige Stätte ist. In der Tat ein mysterium tremendum muss es sein, das die biblischen Menschen vor unsern Augen hinaus- und immer weiter hinausdrängt, an den Rand des Erlebbaren, Denkbaren und Tunlichen, an den Rand der Zeit und der Geschichte, sie treibt, sich in die Luft zu stellen, wo man scheinbar nur noch fallen kann. Würden wir nicht um unsrer Ruhe willen besser tun, hier umzukehren? Werden wir es wagen, der zeigenden Hand des Grünewaldschen Täufers mit unserm Blick zu folgen? Wir wissen, wohin sie zeigt. Sie zeigt auf Christus. Aber auf Christus den Gekreuzigten, müssen wir sofort hinzufügen. Das ist’s! sagt die Hand. «Er schoss vor uns auf wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwertste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn nichts geachtet.» Die eine einzige Quelle unmittelbarer realer Offenbarung Gottes liegt im Tode. Christus hat sie erschlossen. Er hat aus dem Tode das Leben ans Licht gebracht.
Aus dem Tode! Wir können uns das nicht ruhig und eindringlich genug sagen. Die Bedeutung, die Kraft Gottes leuchtet den biblischen Menschen auf an den Grenzen der Humanität, dort «wo Sinnen und Gedanken mir ausgehn wie ein Licht, das hin und her muss wanken, weil ihm die Flamm gebricht». Das menschliche Korrelat zu der göttlichen Lebendigkeit heißt weder Tugend, noch Begeisterung, noch Liebe, sondern Furcht des Herrn, und zwar |87| Todesfurcht, letzte, absolute, schlechthinige Furcht. Ich meine das, was in Michelangelos Prophetengestalten ausgesprochen ist. «Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.» «Was ist alles Fleisch, dass es hören möge die Stimme des lebendigen Gottes und lebendig bliebe?» Menschen können den Leib töten, er aber kann Leib und Seele verderben in die Hölle. Er überfällt den Jakob wie ein gewappneter Feind. Vor ihm verhüllt man sein Angesicht, und noch der Abglanz seines Lichtes auf dem Angesicht des Mose wirkt unerträglich. Ihm zu dienen weigern sich Mose, Jesaja, Jeremia, Jona, wahrhaftig nicht aus minderwertigen moralisch-psychologischen Gründen, sondern aus einer letzten Gehemmtheit dem gegenüber, in dessen Hände zu fallen schrecklich ist. «Der Löwe brüllt; wer sollte sich nicht fürchten? Der Herr Jahwe redet; wer sollte nicht weissagen?» «Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen; du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen! . Ich dachte: Wohlan ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennend Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich’s nicht leiden konnte, und wäre schier vergangen.» So geht’s zu zwischen Gott und den Seinigen! Darum sind sie alle so gebrochene, menschlich so unbefriedigende Gestalten, das gerade Gegenteil von Heroen, unabgeschlossen ihre Lebensgeschichte, unabgerundet ihr Lebenswerk, mehr als problematisch ihr Seelenzustand und ihr praktischer Erfolg, von errichteten oder auch nur angestrebten Institutionen, dem Kriterium historischer Wertung der Dinge, keine Rede! Ob wir an Jakob oder David oder Jeremia denken, oder an Petrus und Paulus, da ist keine Gestalt noch Schöne, in keiner Beziehung, da ist das lebendigste Zeugnis nicht von Humanität, sondern von den Grenzen der Humanität. Bei mehr als Einem von diesen Gottesmännern hat man, wenn man es aufrichtig sagen will, den Eindruck, dass er persönlich ein ganz unerträglicher Kauz gewesen sein muss. Darum sind auch die Epochen der Geschichte Israels eine so unklassisch wie die andere, verschiedene Stufen nur des menschlichen Ungenügens oder des Krankseins Israels an Jahwe, seinem Gott, wie Hosea das genannt hat. Zwischen die Verheißung: Ich will euer Gott sein, so sollt ihr mein Volk sein! und ihre Erfüllung schiebt sich als handgreiflichste Wirklichkeit hinein der Untergang dieses Volkes. Über der Eingangspforte zur salomonischen Lebensweisheit hängt drohend die Tafel: Es ist Alles eitel, es ist Alles ganz eitel! Der unverkennbare |88| Unterton der so viel bewunderten und vermeintlich nacherlebten Frömmigkeit der Psalmen heißt: «Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und dass mein Leben ein Ziel hat und dass ich davon muss. Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben.» Und die göttliche Antwort auf Hiobs Frage nach der Theodizee, nach Gottes Gerechtigkeit im Weltlauf und auf seiner Freunde apologetische Seelsorge, die Antwort «aus dem Wetter», die ihm Erkenntnis bringt, indem sie ihn gleichzeitig zur Buße in Staub und Asche und die Freunde gottlob zum Schweigen veranlasst, sie besteht im Hinweis auf die letzte absolute Rätselhaftigkeit, Unbegreiflichkeit und Finsternis alles natürlichen Daseins, als deren abschließende schauerliche Kronzeugen das Nilpferd und das Krokodil, Behemoth und Leviathan gewaltig aufmarschieren. «Ich hatte von dir mit den Ohren gehört», antwortet Hiob, «aber nun hat mein Auge dich gesehen.» Er weiß nun Gottes Gerechtigkeit!
Nach dem allem kann der Friedefürst der letzten Zeit, der Knecht Gottes unter den Völkern, der vom Himmel kommende Menschensohn des alten Testamentes gar kein anderer sein als eben der Gekreuzigte, der im Mittelpunkt des neuen Testamentes steht. Das neue Testament erweist sich, wenn man gerade diesen Zusammenhang beachtet, wirklich einfach als die Quintessenz des alten. «Es ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt», consummatio mundi, die Aufhebung alles Gegebenen, der Abbruch von allem Werden, das Vergehen dieser Weltzeit, das ist die Bedeutung des «Reiches Gottes», wie es sowohl vom Täufer als von «Jesus von Nazareth» als von Paulus als von der Apokalypse verkündigt wird. Das Werk des Christus ist nach dem übereinstimmenden synoptischen, paulinischen und johanneischen Zeugnis der Gehorsam gegen den Willen des Vaters, der ihn auf gerader Linie in den Tod führt. Das Reich Gottes stürmt herein, um nach kurzem Ansetzen und Ausholen durchzustoßen zu den letzten Fragen, zu den letzten Zweifeln, in die letzte Unsicherheit hinein, an die letzte Grenze hinaus, dorthin, wo Alles aufhört, dorthin, wo von der Zukunft des Menschensohnes nur noch Eines zu sagen ist, nämlich: Himmel und Erde werden vergehen! Dorthin, wo auch die Frage: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? möglich und notwendig wird, wo nichts mehr zu wissen, nichts mehr zu glauben, nichts mehr zu tun ist, wo die Sünde der Welt nur noch getra-|89|gen wird, wo nur noch eine Möglichkeit bleibt, aber die liegt jenseits alles Denkens und aller Dinge, die Möglichkeit: Siehe, ich mache alles neu! Alles Bejahende, was das neue Testament über Gott, Mensch und Welt zu sagen hat, bezieht sich ohne Ausnahme auf diese im strengsten Sinn außer Betracht fallende Möglichkeit und darum immer zugleich auf die große kritische Verneinung, die dieser einer neuen Ordnung angehörenden Möglichkeit unerbittlich vorausgeht. Wer das neutestamentliche Ja nicht als das Ja im Nein versteht, versteht es gar nicht. Aus dem Tode das Leben! Von daher Erkenntnis Gottes als des Vaters, des Ursprungs, der Himmel und Erde geschaffen. Von daher Gnade als das erste und letzte, das durchgreifende, das entscheidende, das unaussprechliche Wort für das überlegene königliche Verhältnis Gottes zu der entfremdeten Menschheit. Von daher der ebenso umsichtige wie grundstürzende Angriff auf das Gesetz, auf die religiös-sittliche Menschengerechtigkeit des Judentums, durch den die Universalität der Gnade sichergestellt wird. Von daher die mehr als intuitive Klarheit: «Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.» Von daher die unerhörte Prolepse: «Ihr waret tot durch Übertretungen und Sünden; in welchen ihr weiland gewandelt habt nach dem Lauf dieser Welt.» Von daher der Anspruch und das Unternehmen, die durch den Tod begrenzte Weltwirklichkeit nicht durch Mirakel zu durchbrechen, wohl aber als Ganzes aufzuheben, aufzurollen, in seiner Begrenztheit schauzutragen öffentlich, «den Armen frohe Botschaft zu verkündigen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.» Von daher der neue, der unmögliche Gesichtspunkt und Maßstab für die Unterscheidung von gut und böse, glücklich und unglücklich, schön und hässlich: Was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott, aber selig sind die Armen, die Gelassenen, die Leidtragenden, die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden! Von daher die wahrhaftig nicht sozialethisch gemeinte Warnung vor Mammon, dem Gott neben Gott, der als vorletzte, dem Tode täuschend ähnliche Dinglichkeit die Realität des Lebens uns ver-|90|hüllen will. «Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern und wes wird dann sein, das du bereitet hast?» Von daher der Heilandsruf an die Mühseligen und Beladenen, ihr kleines Joch mit dem großen Joch der Gelassenheit, der Herzensniedrigkeit zu vertauschen und die Erquickung, die Ruhe zu finden, die den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart ist. Von daher der Ruf zu der Buße, die mit Zerknirschung, Askese und Opferkünsten gleich wenig zu tun hat, sondern in einem radikalen Umdenken besteht, in einer Umwertung aller praktischen Werte, in einem Werden wie die Kinder, in einem Anfangen mit dem Anfang: mit der Einsicht, dass es kein Gutes gibt, das wir tun könnten, dass ein Kamel nicht durch ein Nadelöhr geht, dass Gott allein der Gute ist. Von daher der durch eindringliche Warnungen vor allzu raschem Beifall gedämpfte Ruf des Meisters an die Jünger: Folget mir nach!, ihr, denen es gegeben ist, das Geheimnis des Himmelreichs zu wissen, Alles zu verlassen, euch selbst zu verleugnen [vgl. Mt. 16,24 par.], eure Seele zu verlieren um meinetwillen. Von daher, vom Letzten, nein von der Aufhebung auch des Letzten her Alles! Darum muss die Messianität Jesu ein Geheimnis sein. Besser seine Sendung wird niemandem bewusst, als dass sie ohne das große kritische «Von daher» als eine Möglichkeit alter Ordnung, als eine religiöse Möglichkeit aufgefasst wird. Jesus will ganz verstanden sein oder gar nicht. Erst in dem Augenblick, wo die Gefahr der Religionsstiftung endgültig vorbei ist, wo das Bekenntnis seiner Messianität zugleich sein eigenes Todesurteil wird, im Verhör vor Kaiphas, wird dieses Bekenntnis von ihm ausgesprochen, denn nun erst hat das Wort seinen Inhalt: nur als der in den Tod Gegebene will Jesus der Messias sein. «Von nun an wird’s geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels.» Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben; sie sollen es auch gar nicht; denen draußen widerfährt es alles durch Gleichnisse. Fleisch und Blut haben es auch dem Simon Petrus nicht offenbart, dass Jesus der Messias ist, des lebendigen Gottes Sohn, sondern Jesu Vater im Himmel, und auf den Felsen dieser von daher stammenden, aus der freien Luft gegriffenen Erkenntnis wird die Gemeinde gebaut, die die Pforten der Hölle nicht überwältigen sollen. Aber indem derselbe Petrus den Todesweg des Christus in Frage stellt, redet er nicht mehr von daher, nicht mehr, was göttlich, son-|91|dern in der Rolle Satans, was menschlich ist. Eine durchgreifende Relativierung aller vorletzten Gedanken und Dinge, eine Bereitschaft für letzte Fragen und Antworten, ein Warten und Eilen letzten Entscheidungen entgegen, ein Lauschen auf den Ton der letzten Posaune – die von der Wahrheit Kunde gibt, die jenseits der Gräber ist, das ist die Gotteserkenntnis, die als Abschluss und Inbegriff des alten Testamentes im neuen ans Licht tritt. «Todesweisheit» hat Overbeck das genannt. Sei’s denn. Die Todesweisheit, die in der Erkenntnis besteht, dass im Opfer des Christus das von uns geforderte Opfer ein für allemal gesetzt ist und dass wir selbst mit Christus geopfert sind und dass wir darum keine Opfer mehr zu bringen haben, sie ist eben als Todesweisheit zugleich umfassendste Lebensweisheit. Ich zitiere Kierkegaard: «Der Vogel auf dem Zweige, die Lilie auf der Wiese, der Hirsch im Walde, der Fisch im Meere, zahllose frohe Menschen jubeln: Gott ist die Liebe! Aber, gleichsam tragend, wie die Basspartie, klingt unter allen diesen Sopranen das de profundis von den Geopferten her: Gott ist die Liebe!»
Wirklich die Liebe? Sind die Geopferten wirklich die Tragenden? Ist von den Grenzen der Humanität her etwas Anderes als Zweifel und Auflösung zu erwarten? Kann die absolute Furcht fruchtbar, zeugend, schöpferisch sein? Ist es Erkenntnis, Erkenntnis Gottes, die in der großen Negation, die uns eben entgegengetreten ist, verborgen ist, siegreich aus ihr hervorgeht? Ist es wahr: Aus dem Tode das Leben? Wir denken daran, dass wir an dem Punkt stehen, wo mit dem Buddhismus soviel tiefstes Nachdenken, soviel höchstes Streben in bewusster Resignation und Skepsis sein letztes Wort findet. Die Mater dolorosa, die Maria Magdalena und der Jünger Johannes, die auf Grünewalds Altarbild das Gegenstück bilden zu dem zeigenden Täufer, sie scheinen anzudeuten, dass es möglich ist, vor dem Geheimnis des Kreuzes in Ratlosigkeit, Entsetzen und Verzweiflung stehen zu bleiben. Woher nimmt der Künstler die Vollmacht, diese Möglichkeit auszusprechen und gleichzeitig aufzuheben, zwischen den Wissenden und die Unwissenden das für Viele sein Blut vergießende Lamm Gottes als Deutung hineinzustellen, endlich sein Kreuzigungsbild buchstäblich als Türe zu öffnen und uns auf seinen Rückseiten hier die gnadenvolle Verkündigung an Maria, dort die Auferstehung Christi am dritten Tage, in der Mitte aber als das Neue, das hinter der schauerlichen Todeswand nur wartete, die Anbetung des neu-|92|gebornen Kindleins durch die vom Jubel der Engel umgebene Gemeinde mit dem Ausblick auf die in unendlicher Höhe thronende Glorie Gottes des Vaters zu zeigen? Der eigentümliche Rhythmus des Fortschritts: aus dem Leben in den Tod – aus dem Tode in das Leben!, der uns im Mittelpunkt der Bibel entgegentritt: da wo das Neue Testament in Erfüllung des Alten von den Leiden und der Herrlichkeit des Messias redet – ist er sinnvoll, wahr, glaubwürdig? Seien wir nicht zu rasch in der positiven Beantwortung dieser Frage; unsrer Positivität könnte sonst das nötige spezifische Gewicht abgehen! Stellen wir uns nicht zu rasch in Kontrast zu denen, denen das Kreuz ein Ärgernis und eine Torheit ist; wir gehören alle wesentlich auch zu ihnen. Täuschen wir uns nicht darüber, dass unsre ganze Zeitgenossenschaft in Angst und Not vor der verschlossenen Todeswand steht, des Neuen, das dahinter warten mag, kaum erst bewusst, und dass wir jedenfalls nicht gut tun, ihr mit spekulativen Konstruktionen, in evangelistischer oder sozialer Geschäftigkeit, in vermeintlicher Erlebnisunmittelbarkeit vorauszueilen. Um des Leidens der Millionen willen, um des vielen vergossenen Blutes willen, das gegen uns alle schreit, um der Furcht des Herrn willen – nur das nicht! Wenn irgendein Wort der Begründung, der Beglaubigung, der Bewährung durch die entsprechende sittliche, soziale, politische Tat bedarf, so ist es das biblische Wort vom Tode, der verschlungen ist in den Sieg. Wissen wir auch nur ein wenig, wie problematisch seine Begründung, Beglaubigung und Erwahrung durch unsre Taten ist, dann müssen wir uns doch klar sein darüber, dass wir dieses Wort nur in höchster Beschämung, Verwirrung und Zurückhaltung auf die Lippen nehmen können. Denn als Tat zählt in diesem Fall nur das, was auf Grund jener außer Betracht fallenden Möglichkeit: Siehe, ich mache alles neu! getan wird. Den Gegenstand der Bibel, die Osterbotschaft, wirklich nennen würde heißen ihn geben, ihn haben, ihn zeigen. Die Osterbotschaft wird Wahrheit, ist Bewegung und Wesen, indem sie ausgesprochen wird, oder es ist eben nicht die Osterbotschaft, die da ausgesprochen wird. Begnügen wir uns also damit, gemeinsam festzustellen, dass alle biblischen Fragen, Einsichten und Ausblicke von allen Seiten eben auf diesen Gegenstand hinzielen. Verhehlen wir uns aber keinen Augenblick, dass der Gehorsam diesem Hinweis gegenüber, das tatsächliche Eintreten auf das Thema der Bibel ein Sprung in einen Abgrund, ein Wagnis von unerhörten Konsequenzen, ein ewiges Unternehmen ist. |93| Besser, wir stehen zunächst davor still und überschlagen die Kosten, als dass wir zu kurz springen. Besser, wir hören von allem nur das Nein, als dass wir ein unechtes, unbewährtes, bloß religiöses Ja hören. Besser, wir gehen traurig, aber rechtzeitig davon, weil wir allzu viele Güter haben, als dass wir mit unzähligen Großen und Größten der Religions- und Kirchengeschichte mitgehen, um tatsächlich doch nicht mitzugehen. Das ewige vermeintliche Besitzen, Schmausen und Austeilen, diese verblendete Unart der Religion, muss einmal aufhören, um einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen.
Unter diesem Vorbehalt, im Bewusstsein, dass wir etwas sagen, das wir nicht wissen, das nur wahr ist, indem es wahr wird, sei das Blatt jetzt auch noch gewendet, sei auch der letzte Hinweis der Bibel (als Hinweis!) ausgesprochen und aufgenommen. Ja, der Gott Moses und Hiobs, der furchtbare Gott von Gethsemane und Golgatha, ist die Liebe. Wind und Erdbeben und Feuer gehen vor dem Herrn her, aber der Herr ist nicht im Winde, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer. «Nach dem Feuer kam ein stillsanftes Sausen.» Nach dem Feuer? Ja, dem Elia, dem Menschen kommt nachher zum Bewusstsein, was in Gott vorher ist. Hinter dem menschlich Letzten steht das göttlich Erste. Wie die Ähre aufschießt aus dem in der Erde sterbenden Weizenkorn, wie das Kind hervorgeht aus dem leidenden Mutterleib, wie der Begriff, das Gesetz, aufspringt aus dem Chaos der Anschauung, der Erfahrung, ihr Ergebnis scheinbar, in Wahrheit etwas ganz Neues, das alle Erfahrung erst möglich macht und konstituiert, so steht das göttliche Erste da jenseits des menschlich Letzten, seine Erfüllung, seine Bejahung und zugleich seine Umkehrung, seine Aufhebung. Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. Der die Patriarchen, ohne ihnen Ruhe zu gönnen, zu Pilgern und Fremdlingen macht, ist auch ihr Schild und ihr sehr großer Lohn. Die sich hergeben, Propheten des Gerichts und des Unheils zu sein, werden eben dadurch legitimiert und ausgerüstet als Boten der Gnade und des Heils. Der aus der Tiefe zum Herrn ruft, findet den Mut zum: «Dennoch bleibe ich stets bei dir!» Da Hiob dem Behemoth und Leviathan ins Gesicht gesehen, wird sein Gefängnis gewendet. In einer letzten schwersten Beunruhigung liegt die erste tatsächliche Ruhe. Die letzte, radikalste Frage ruft der ersten wirklichen Antwort. Aus einem letzten tödlichen Erschrecken hervor kann es zum erstenmal im Ernst heißen: Friede sei mit euch! Der letzte Tag des Men-|94|schen wird zum ersten Gottestage. Beim Schall der letzten Posaune, sagt Paulus, wird es geschehen, dass die Toten auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.
Auferstehung ist Gottesherrschaft. Auferstehung, Gottesherrschaft ist der Sinn des Lebens Jesu vom ersten Tag seines Auftretens an. «Jesus ist der Siegesheld!» hat der alte Blumhardt gesungen, und das ist’s. Er ist der Herold des göttlichen Willens, der Kämpfer für die göttliche Ehre, der bevollmächtigte Träger göttlicher Gewalt. Jesus hat mit Religion einfach nichts zu tun. Der Sinn seines Lebens ist die Aktualität dessen, was in keiner Religion aktuell ist, die Aktualität des Unnahbaren, Unfassbaren, Unbegreiflichen, die Realisierung der Möglichkeit, die nicht in Betracht kommt: «Siehe, ich mache alles neu!» Es gibt kaum ein Wort Jesu, das nicht Zeugnis ablegte von dem Ungestüm dieser Tendenz. Jesu Tod offenbart ihren grundsätzlichen Radikalismus. «Er muss herrschen, bis dass er alle seine Feinde unter seine Füße lege. Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod.» Die Grenze unsres Daseins ist erreicht; begrenzt in Gott, ist es begriffen, bestimmt, beherrscht von Gott. Nicht ignoriert, nicht beseitigt, nicht ausgetilgt, nicht disqualifiziert wird die Wirklichkeit, sondern qualifiziert, erkannt in ihrem Sinn, zurückgegeben ihrer Bestimmung, indem sie von der Wahrheit angegriffen und aufgerollt wird. Die Wahrheit gibt ihre fremde, spröde, transzendente Stellung gegenüber der Wirklichkeit auf. Sie «spielt» wieder auf dem Erdboden, wie es Sprüche 8 heißt, als die lebendige Dialektik aller Weltwirklichkeit, indem sie ihre vermeintlichen Antworten in Frage stellt und ihre tatsächlichen Fragen beantwortet. Der Geist in allem Geistigen, das Humane in der Humanität, die Schöpfung im Kosmos, die Überlegenheit Gottes – das alles als kritische Potenz, als erlösende Bewegung, als klar werdender Sinn, als vorwärtsdrängende, Bedeutung gewinnende Erkenntnis verstanden – das ist Ostern.
Auferstehung ist Ewigkeit. Ist die Herrschaft Gottes der Sinn der Zeit, so ist sie eben darum nicht in der Zeit, kein zeitliches Ding neben andern. Was in der Zeit ist, das hat die Grenze des Todes noch nicht erreicht, das ist auch noch nicht von Gott begriffen und beherrscht. Es muss noch sterben, um zum Leben einzugehen. Der Augenblick, da die letzte Posaune geblasen wird, da die Toten auferstehen und die Lebenden verwandelt werden, dieser Augenblick ist kein Augenblick der Zeit, auch nicht ihr letzter Augenblick, sondern ihr, ihr |95| unzeitliches Ziel und Ende. Es kommt, sagt Paulus, in einem unteilbaren, unzeitlichen, ewigen Nu und Jetzt. Ist’s Gestern, Morgen, Heute? Ist’s Immer? Ist’s Nimmer? Wir können auf das alles mit Ja und Nein antworten. Denn unsere Zeit ist in Gottes Händen, aber Gottes Zeit ist nicht in unsern Händen. Alles Ding hat seine Zeit, aber alles Ding will auch seine Ewigkeit haben. Den Tag aller Tage, den Tag Jesu Christi, sah schon Abraham. Mag es sich mit dem historischen Jesus verhalten, wie es will, Jesus der Christus, des lebendigen Gottes Sohn, gehört weder der Historie noch der Psychologie an; denn was historisch und psychisch ist, das ist eben als solches auch verweslich. Die Auferstehung Christi oder, was dasselbe sagt: seine Wiederkunft, sie ist kein geschichtliches Ereignis; die Historiker mögen sich beruhigen, wenn sie es nicht vorziehen, sich höchlichst dadurch beunruhigen zu lassen, dass es sich gerade hier um das Ereignis handelt, das allein uns veranlassen kann, von einem wirklichen Geschehen in der Geschichte zu reden. Der unverstandene Logos kann es ertragen, unterdessen im Schandenwinkel des Mythos zu stehen. Besser das, als dass er durch ihre historisierende Verständigkeit seines Ewigkeitscharakters entkleidet wird. Anbruch der neuen Weltzeit, Herrschaft dessen, der da war und ist und kommt – das ist Ostern.
Auferstehung ist die neue Welt, die neu bestimmte und geartete Welt. Die Aufdeckung des Sinns der Welt, ihr aus dem Tode hervorgehendes Leben, die Erkenntnis ihres Ursprungs in Gott kraft unsres eigenen – das ist ein prinzipiell revolutionärer Vorgang, das ist nicht Fortsetzung eines Gegebenen, Gewordenen, Bestehenden geistiger oder natürlicher Art, sondern neue Schöpfung. Die Wirklichkeit, auch die entwicklungsmäßig, reformfreudig, optimistisch verstandene Wirklichkeit, sie wird durch die Wahrheit nicht bestätigt noch verklärt, sie wird im Lichte der Wahrheit eine neue Wirklichkeit. Qualiter? totaliter aliter! «Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch. Was vom Geist geboren wird, das ist Geist.» Da sind keine Übergänge, Vermischungen, Zwischenstufen. Da ist lauter Wendung, Entscheidung, neue Einsicht. Es darf also nicht verschwiegen werden, dass das, was uns die Bibel jenseits der Gräber zu zeigen hat, in der Tat das schlechthinige, das absolute Wunder ist. Die Wunder der Bibel sind nur Illustrationen des Wunders, um so sprechender, je mehr wir uns der Tragweite der Möglichkeit neuer Ordnung, von der sie sprechen, bewusst werden. Im übrigen gilt von ihnen was von der Aufer-|96|stehung überhaupt gilt: dass es keinen Sinn hat, über ihre Geschichtlichkeit und Möglichkeit auch nur zu reden. Sie erheben auf beides keinen Anspruch. Sie signalisieren das Ungeschichtliche, das Unmögliche, die kommende neue Weltzeit. Mirakel, relative Wunder, Ausnahmen oder seltene Spezialfälle innerhalb der Welt, die wir kennen, sollen sie am allerwenigsten sein. Die Bibel ohne das absolute Wunder aber ist eben nicht die Bibel. Über die in dieser Beziehung gereinigten, dem Kulturmenschen annehmbar gemachten Jesusbilder wird noch einmal ganz anders gelächelt werden, als das 18. und 19. Jahrhundert über die Wundergeschichten gelächelt haben. Der höchste Ausdruck des totaliter aliter, das sich in der Bibel zu Worte meldet, ist die Predigt von der Vergebung der Sünden. Mir ist, wenn wir bei der Sache sind, müssten wir über dieses Wort «Vergebung» noch mehr staunen als über die Auferweckung des Lazarus. Dieses Wort ist ein unerhört neuer Faktor in der praktischen Lebensrechnung. Mitten im Feld der sittlich-politischen Wirklichkeit die Neukonstituierung des sittlichen Subjekts durch seine Einbeziehung in die Ordnung des Himmelreichs, durch sein Zu-Gott-gerechnet-Werden, die Erkenntnis des Anfangs des Guten mitten im Bösen, die Begründung einer königlichen Freiheit des Menschen durch die königliche Freiheit Gottes, die Möglichkeit, das Nächste und das Fernste von Gott aus zu begreifen, das Größte und das Kleinste zu Gottes Ehre zu tun, die Guten nicht allzu sehr zu preisen und die Bösen nicht allzu sehr zu verdammen, sondern Beide als Brüder vereinigt im versöhnenden Lichte Gottes zu sehen, der Mensch in seiner ganzen Gebundenheit, Beschränktheit und Vorläufigkeit gleichzeitig «in der allerexklusivsten Weise» auf Gott gestellt, durch Gott beunruhigt und von Gott getragen, die Einfalt und Universalität der Gnade – wer kommt denn etwa da mit? Ist denn etwa das psychologisch abzuleiten, nachzuweisen und anschaulich zu machen? Steht nicht auch das außerhalb aller Geschichte, ein schlechthiniges Novum und Urdatum, wo immer seine Spuren erkennbar sind? Gerade das ist’s, das unbegründbare und unerreichbare Novum als Eingang, prosagōgḗ, als Verheißung, als aufs vollkommen Andre gerichtete Bewegung unsres Daseins verstanden – das ist Ostern.
Auferstehung ist eine neue Leiblichkeit. Wir müssen auch diese ungewohnte, aber unentbehrliche Linie wenigstens andeuten. Ein Schöpfer aller Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren, darum auch eine Erlösung, Erlösung auch unsres Leibes. Das |97| Seufzen der Kreatur kann ihm nicht verborgen bleiben. Wie sie teilnimmt an der Unbegreiflichkeit, der Sinnwidrigkeit, der Finsternis unsres Daseins, so auch an der neuen Möglichkeit jenseits der Grenzen unsres Daseins. Die Einheit des Schöpfers und des Erlösers ist der Geist. In der Kraft des Geistes ist Christus auferstanden von den Toten. Um des Geistes, um der Einheit Gottes willen betont die Bibel die Leiblichkeit der Auferstehung, der neuen Welt. Ein Wechsel der Prädikate vollzieht sich zwischen dem Gesätwerden in Verweslichkeit und dem Auferstehen in Unverweslichkeit (oder anders ausgedrückt: in der Erkenntnis Gottes). Das Subjekt beharrt. Ist aber das Subjekt von Neuem, d.h. aber «von oben», ánōthen, geboren, erkennt es sich selbst in Gott, so kann letztlich kein «von unten» an ihm übrig bleiben. Alles Ding wartet auch seiner Ewigkeit. Es kann das Verwesliche nicht ererben die Unverweslichkeit; es ist aber alles Verwesliche in einer Strömung der Unverweslichkeit entgegen und kein Härlein auf unserm Haupte, das da nicht mit möchte. Es muss anziehen, dieses Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, so gewiss es verweslich ist, so gewiss es sterben muss. Die Beziehung unsres ganzen Daseins auf Gott, das Begreifen der Länge und der Breite, der Tiefe und der Höhe, die Bedeutung aller Erscheinungen, nicht als bloße Erscheinungen, sondern als Erscheinungen der Idee, als Werke des Schöpfers, der, was er erschaffen hat, auch erhalten will – das alles wiederum als vernünftiger Akt, als handelndes Bewusstsein, als Glaube und Tat – das ist Ostern.
Noch ein Letztes bleibt zu sagen: Auferstehung ist das eine Erlebnis des Menschen. Ich darf hoffen, vor Missdeutungen geschützt zu sein. Das wirkliche Erlebnis fängt dort an, wo unsere vermeintlichen Erlebnisse aufhören, in der Krisis unserer Erlebnisse, in der Furcht Gottes. In Gott aber kommt das Individuum mit seinem höchst persönlichen Leben wie zu seiner Pflicht, so zu seinem Recht. «Wer seine Seele verliert um meinetwillen, der wird sie gewinnen.» Die biblische Geschichte ist nur insofern auch Naturgeschichte, Geistesgeschichte, Weltgeschichte, als sie zuerst und vor allem Menschengeschichte ist. Gott ist das Subjekt dieser Geschichte, er allein, aber Gott hinter, über dem Menschen als das Element, in dem der Mensch ursprünglich lebt, webt und ist und der vom Menschen soll gesucht und gefunden werden, der dem Menschen des Geistes Erstlinge verleihen will. In Christus |98| als dem Menschensohn sind alle Dinge, die himmlischen und die irdischen zusammengefasst. Dem Menschen ist die Ewigkeit ins Herz gegeben, und der neue Mensch ist’s, der angezogen werden soll, der nach Gott geschaffene. Nicht der Kosmos, nicht die Geschichte im allgemeinen, auch nicht die sogenannte Menschheit als Haufe oder Gebäude, als Strom oder Bewegung, auch nicht die organisierten oder unorganisierten Massen der Völker, Klassen und Parteien, sondern durchaus der einzelne Mensch, der an der Natur und in der Geschichte, als leidendes, handelndes und erkennendes Subjekt der Gesellschaft, tragend ihre Not und sich freuend ihrer Hoffnung sich selbst in Gott erkennt, das Gott fürchtende Individuum ist das erste Bewegte. Du bist der Mann, du bist gemeint, dich geht’s an, dir ist’s verheißen und an dir soll es sich erfüllen, du musst glauben, du musst wagen, von dir ist hypomonḗ, Beharrlichkeit gefordert, du bist der Schauplatz, wo es sich entscheidet, wenn von der Auferstehung, wenn von Gott die Rede ist. Zuschauer Gottes gibt es nicht, so sicher es keine zudringlichen Mitarbeiter Gottes gibt. Es könnte aber Kinder Gottes geben, die aus seiner Gnade sind, was sie sind. Dieses unser Sein aus Gott, das immer noch nicht erschienen ist, dieses unser, mein und dein, Erlebnis, das zum Erlebnis Gottes immer nur werden möchte – das ist Ostern.
Haben wir schon zu viel gesagt? Wir wissen, dass jedes Wort, das wir in dieser Richtung sagen, zu viel gesagt sein kann. Es könnten aber auch die radikalsten, umfassendsten Worte in dieser Richtung zu wenig gesagt haben. Die Bibel sagt uns bald mehr, bald weniger je nach dem Vielen oder Wenigen, das wir zu hören, in Tat und Wahrheit umzusetzen vermögen. Mit der Frage der Erwählung haben wir begonnen. Es scheint, dass wir mit ihr auch schließen müssen. Der vorletzte biblische Ausblick wendet sich jedenfalls notwendig zum erneuten Einblick in die Problematik unseres eigensten Daseins. Aber die Wurzel auch dieser, gerade dieser Beunruhigung ist in Gott. Von ihm umschlossen und getragen ist unser Suchen wie unser Irren, unser Stehen wie unser Fallen, unser Erinnern wie unser Vergessen, unser Ja wie unser Nein. Er weiß, was für ein Gemächte wir sind, er gedenket daran, dass wir Staub sind. Wir sind erkannt, ehe wir erkannt haben. Das ist weder zu viel noch zu wenig gesagt. Und das ist auf alle Fälle der letzte biblische Ausblick.
Vortrag für die christliche Studentenkonferenz am 17. April 1920 in Aarau.
Quelle: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München: Chr. Kaiser Verlag 21929, S. 70-98.