Heinrich Albertz, Warum ich Christ bin (1979): „Ich habe so in den letzten zehn Jahren erfahren, was ich kaum noch erwarten konnte: christliche Gemeinde als den Ort unbeirrbarer Hoffnung.“

Warum ich Christ bin

Von Heinrich Albertz

Zuerst werde ich von meinen Eltern berichten müssen, wenn ich die Frage „Warum ich Christ bin?“ beantworten soll. Die Wege des Lebens sind vorgegeben, und hätte ich einen anderen Vater gehabt als einen königlich-preußischen Geheimen Konsistorialrat und Hofprediger und nicht diese Mutter, die aus einer Familie stammte, die seit der Reformation Pfarrer über Pfarrer gestellt hat – sie hieß übrigens Meinhof –, wäre es mit meinem Christwerden wohl ganz anders gelaufen. Ich wuchs also in einer Welt auf, die völlig von frommer, konservativer Kirchlichkeit geprägt war: vom; Lesen der Losungen der Brüdergemeinde beim spartanischen Frühstück bis zum Abendgebet, vom selbstverständlichen sonntäglichen Kirchgang bis zu dem im wesentlichen aus Pastoren und evangelisch-deutschnationalen Bürgern bestehenden Freundeskreis des Elternhauses. Die Luft, die ich atmete, war „christlich“. Die biblischen Geschichten und die Lieder des Gesangbuches wären die erste Literatur des Kindes, die Maßstäbe der zehn Gebote der Kodex der Familie. Und dies alles in jener merkwürdigen Mischung von evangelischen und vaterländischen Überzeugungen, in die die Veränderungen des Jahres 1918 nur eine geringe Verunsicherung gebracht hatten.

Trotzdem wage ich zu bezweifeln, daß diese so völlig eindeutigen Muster von Kindheit und Schulzeit mehr waren als unreflektierte, übernommene Tradition. Ich liebte die Erzählungen des Alten und Neuen Testamentes wie Vater und Mutter. Ich fragte nicht nach ihnen. Sie waren da wie Essen und Trinken und der warme Ofen im Winter. Ich hatte auch keineswegs die Absicht, Theologie zu studieren. Daß ich mich 1933 schließlich doch bei den Theologen immatrikulieren ließ, lag nur an den traurigen Augen meiner Mutter – der Vater war längst gestorben – und an der wirtschaftlichen Bequemlichkeit in Aussicht stehender Stipendien und also wohl doch eher am Beharrungsvermögen der Vorgeschichte so vieler Generationen als an einem überzeugten Entschluß.

Die entscheidende Erfahrung, die das Herz und den Verstand traf, lag im Datum meines Studienbeginns. Genaugenommen ist es also die Barbarei Adolf Hitlers und seiner Kumpane gewesen, die mich in die unmittelbare und die ganze Existenz eines 18jährigen Studenten treffende Frage warf, wohin ich denn nun eigentlich gehöre. Freilich wiederum: hätte, es nicht meinen sehr viel älteren Bruder gegeben, der Pfingsten 1933 in einem Wald nahe Spandau mich sehr energisch antrieb, mich zu entscheiden für oder gegen den Unmenschen, der seine elende Herrschaft über unser Land gerade begonnen hatte, und damit für oder gegen den Menschen Jesus Christus, den wir Gottes Sohn nannten, wäre ich wahrscheinlich wie fast alle anderen meiner Generation in der Wüste der Barbarei verschlungen worden. Darum ist von diesen frühen Tagen meine „Christlichkeit“ auf eine seltsame konstante Weise von der zugleich strengen und doch so barmherzigen Urformel des ersten Gebotes geprägt, ja hier eigentlich im tiefsten begriffen worden, erschreckt und befreit zugleich: was es bedeuten könnte, sich zwischen Gott und den anderen Göttern entscheiden zu dürfen und das „Fürchten, Lieben und Vertrauen“ der genialen Lutherischen Erklärung zum ersten Gebot zur Lebensformel anzunehmen.

Dieses „Ich bin der Herr, Dein Gott, der ich Dich aus Ägyptenland, dem Sklavenhause geführt habe, Du sollst (Du wirst, Du darfst) nicht andere Götter haben neben mir“ hat auf eine merkwürdige Weise mein Leben bis heute in die alternden Jahre begleitet. „Ägyptenland“, das war damals ohne alle Umstände das zu einem Gefängnis gewordene Vaterland, das Sklavenhaus. Die Erfahrung, ein Christ zu werden, war immer von neuem eine Erfahrung der großen und sich wiederholenden Befreiung, über Jahrzehnte hin in immer wechselnden Bedrohungen und Behütungen, im Krieg und in den dann sehr konkret werdenden Gefängnissen der Nazis, in den Flüchtlingslagern nach dem Zusammenbruch der Diktatur, in den staatlichen Verantwortungen, die ich über zwanzig Jahre zu tragen hatte. Das erste Gebot hat immer seine schneidende Rolle gespielt, schneidend und heilend zugleich und war schließlich auch der tiefste Grund für mein Ausscheiden aus der Versuchung der Macht im Jahre 1967 in Berlin.

Dabei hat, offen gestanden, das Alte Testament mit seinen unvergleichlichen Geschichten, Gebeten und Liedern einen erstrangigen Einfluß gehabt. Die Vätergeschichten vom Urerlebnis Abrahams bis hin zu Josef und seinen Brüdern – wie ich gestehe, oft mehr in der Interpretation des Thomas Mann als in den nüchternen, arg verkürzten Texten der Bibel – wurden zu einem Urbild eigener Erfahrungen. Ich hatte keine Hemmungen, über sie vor und nach dem Terroristenflug nach Aden in unmittelbarer Bezugnahme auf das eigene Erlebnis zu predigen.

Der makellos schöne 23. Psalm wurde zu einer unersetzlichen und nicht mehr austauschbaren Beschreibung eines schon auf dieser Welt beginnenden neuen Lebens. Die großen Propheten sprachen in einer für Theologen wahrscheinlich schwer nachzuvollziehenden Weise unmittelbar in die konkreten Situationen der jeweiligen Gegenwart hinein. Sie trieben in die politische Verantwortung – und wieder aus ihr heraus. Und so war ich über weite Strecken meines Weges wohl eher ein rechtgläubiger Jude denn ein Christ. Calvinische Tradition – ich stamme aus einer reformierten Gemeinde – und preußische Pflichtauffassung mögen hier zusätzlich ihre Wirkungen gehabt haben. Hier war viel „Urreligion“ im Schwange, ganz im Gegensatz zu dem einzigen wirklichen theologischen Lehrer, den ich je gehabt habe und den ich nur einmal in meinem Leben, schon als junger Minister nach 1945 leibhaftig sah: Karl Barth.

Hier sei ein kurzer Exkurs über mein Verhältnis zur Theologie, speziell zur systematischen und dogmatischen Lehre, eingefügt: Ich bin wohl nicht wegen, sondern eher gegen theologische Richtigkeiten ein Christ geworden. Das mag an einem oberflächlichen Studium gelegen haben – ich war ja mehr Drucker, Flugblattverteiler, Kurier der Bekennenden Kirche als Student. Aber ich habe dieses Defizit eigentlich nie beklagt. Was ich „gelernt“ habe, geht deutlicher in die Erzählungen meiner Mutter und des Kindergottesdienstes zurück als in theologische Vorlesungen. Damit ist mir ein oft belächeltes, fast ungebrochenes Verhältnis zur Heiligen Schrift geblieben. Der politisch eher weit links stehende, in diesem Buch nach seinem Christenstand befragte Schreiber ist kirchlich, theologisch in die Reihe der Konservativen einzuordnen, ein Widerspruch, der anderen mehr als mir zu schaffen macht. Denn wer sich auf das Evangelium von dem Gottessohn der Maria, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus einläßt, hält alles Unmögliche für möglich, auch daß Wasser unter seinen Händen zu Wein wurde und die Fische ins Netz gingen und der Soldat des Hauptmanns von Kapernaum gesund wurde. So jedenfalls steht es mit mir. Und damit bin ich endlich bei Jesus von Nazareth.

Die alte Frage nämlich, ob der Weg des Glaubens vom Sohn zum Vater oder vom Vater zum Sohn führt, ob wir also den Unaussprechlichen, Namenlosen nur in dem Einen, Jesus Christus erkennen können, oder eben dieser namenlose Gott zu dem Mann von Nazareth hindrängt, ist für mich so abstrakt nie gestellt gewesen. Im Konfirmandenunterricht, als Reformierter im Heidelberger Katechismus erzogen, hatte ich seine erste Frage so auswendig gelernt (damals haben wir tatsächlich noch Texte gelernt, ich bin froh darüber, denn sie haben mich auch in Situationen, in die mich kein Buch begleitete, nie verlassen): „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“

Antwort: „Daß ich nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin.“ Hier ist sehr altmodisch formuliert, was ich für mich so beschreiben würde: dieser Mensch Jesus ist der einzige, der mich Gott aushalten läßt, Gott und mein eigenes Leben. In ihm hat für mich die Welt Gottes wieder begonnen, die wir seit der Vertreibung aus dem Paradies verloren hatten. In ihm wird diese Welt und mein Leben wieder „sehr gut“. Daß es ihn gegeben hat und daß es ihn weiter gibt, lebendig in seinem Wort ünc unter Brot und Wein, und daß wir auf ihr. warten dürfen, als Ziel und Ende dieser unserer Welt, ist wirklich im Sinn der alten Antwort aus der Reformationszeit der einzige Trost für mich geworden. Ich könnte auch sagen: die einzige Hoffnung oder der einzige Schutz gegen Resignation und damit der einzige Antrieb, diese unsere Welt auf ihn hin zu verändern. Die „Gegenwelt“ der Bergpredigt hat er nicht nur verheißen als etwas heute Unmögliches, sondern selbst gelebt und für uns – wenigstens in Ansätzen – möglich gemacht.

Als nach dem Ausflug der Terroristen zur Rettung des Lebens des Peter Lorenz einige meiner Predigten und Reden und ein langes Gespräch mit einem Freunde veröffentlicht wurden, setzte der Verlag, der das Buch herausgab, den Titel darüber: „Dagegen gelebt – von den Schwierigkeiten, ein politischer Christ zu sein.“ Ich war zuerst etwas erschrocken, denn ich hatte je „für etwas“ leben wollen. Aber ich nahm dann diese Überschrift, doch an, weil sie genau trifft, was ich ja selbst erfahren hatte: daß die Begegnung mit diesem merkwürdigen Jesus Christus uns eben dazu befähigen kann, Frieden gegen Gewalt, Barmherzigkeit gegen Haß, Trauern-können gegen Recht-haben-wollen, Gerechtigkeit gegen Unterdrückung setzen zu können. Die Seligpreisungen der Bergpredigt umschreiben nämlich genau die Welt, in der Leben, Leben vor dem Tode schon beginnen kann, auch wenn uns ihr schlimmes Gegenteil Tag für Tag umgibt. Sie sind die einzige Hoffnung zu überleben.

Ich bin, wie man sich denken kann, oft gefragt worden, ob die Rigorosität, die Unerbittlichkeit der Reden und des Lebens Jesu überhaupt nachgelebt werden kann. Die praktische Politik verweist beides in die Welt der Träume oder in das Leben nach dem Jüngsten Gericht. Die Theologie und die Geschichte der Kirche haben die Bergpredigt auch immer wieder zu einer Art Lebensregel für Heilige degradiert, unanwendbar für die harten Entscheidungen unseres Lebens. Nun ist sicher, daß es keine unmittelbaren Ableitungen, keine Rezepte gibt, die einer, der versucht, ein Christ zu sein, aus dem Vorbild Jesu gebrauchen könnte, wenn er mit den Mächtigen in dieser Welt redet oder gar selbst Macht ausübt. Das habe ich, als mir für fünf Jahre die politische Verantwortung für die Polizei in Westberlin übergeben war, deutlich erfahren. Aber die Einsicht, daß Gewalt immer neue Gewalt erzeugt und Böses immer neues Böse, daß Freiheit und Gerechtigkeit untrennbar miteinander verbunden sind, daß diese Gerechtigkeit sich nur messen lassen kann im Umgang mit den „geringsten Brüdern“, daß Menschen, alle Menschen Geschöpfe Gottes sind und bleiben, auch in ihren tiefsten Verirrungen, diese Einsicht verändert den, der Ja oder Nein sagenmuß zu diesem oder jenem.

Je älter ich werde, desto mehr bin ich davon überzeugt: diese Welt wird auch in ihren Machtstrukturen nur überleben, wenn sie sich Schritt für Schritt den Grundwerten der Bergpredigt annähert, vom Irrsinn unseres Wettrüstens angefangen bis zur Solidarität mit der Dritten Welt und der Art und Weise, wie wir mit der Schöpfung Gottes umgehen, ob wir sie weiter für das, was wir Fortschritt und Wachstum nennen, zerstören wollen, oder endlich beginnen, auch mit ihr und damit mit uns barmherzig zu sein. Ein Christ hat es also nicht leichter als seine Mitmenschen. Er ist nicht klüger und geschickter. Aber er ist, wenn er Jesus Christus begegnet ist, vielleicht etwas nachdenklicher als andere. Vor allem aber ist er unabhängiger von jeder Ideologie und darum auch vielleicht ein wenig fröhlicher als die, die mit tierischem Ernst an ihren selbstgemachten Weltbildern kleben.

Hier freilich wird die Last spürbar, die jeden drückt, wenn er Anspruch und Erwartungen, die auf christliche Kirchen und Gemeinden zukommen, mit ihrer Wirklichkeit vergleicht. Die Anpassung ihrer verfaßten Organe an die jeweilige Macht, die uns umgibt, ist seit Konstantin ein immer neues Ärgernis und eine stetige Bedrohung ihrer Glaubwürdigkeit gewesen.

Meine Generation hat ihre tiefste Enttäuschung in dieser Sache nach 1945 in Deutschland erfahren. Wir, die wir in der Bekennenden Kirche das erste Mal in der neueren Kirchengeschichte eine Befreiung von dem tödlichen Zwang weltlicher Gewalt erlebt hatten, weil einige von uns versuchten, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, sahen zu, wie die verfaßte Amtskirche so schnell wie möglich in die alten, höchst bequemen Formen bürokratischer Verhaltensweisen zurückkehrte. Sie nahm teil an fast allem, was geschah: Wirtschaftswunder und Aufrüstung, Wiederherstellung der alten ökonomischen Machtverhältnisse und der Restauration von Staat und Gesellschaft in den Schablonen der Jahrzehnte vor Hitler. Das Schuldbekenntnis von Stuttgart und das Darmstädter Wort von 1947 verhallten ungehört und hatten keine innerkirchlichen Konsequenzen. Daß Kirche etwas schlechthin anderes sei als irgendeine andere Institution in unserem Staate, wurde rasch eingeebnet. Bis auf wenige Ausnahmen – etwa der berühmten Denkschrift zur Lage der Vertriebenen, die den Raum frei machte zur Wende in der westdeutschen Ostpolitik, oder der Haltung der Kirche in Westberlin in den Konflikten mit den rebellierenden Studenten der Jahre 1967/68 – lief der Anpassungsprozeß fast reibungslos.

Ich habe, als ich 1969 in den aktiven kirchlichen Dienst zurückkehrte, große Beschwernisse mit dieser Grundsituation gehabt. Hätte es in meiner Stadt nicht einen Bischof Kurt Scharf gegeben, wäre ich wohl sehr schnell wieder fortgegangen. Aber er hat mich und andere mehr durch sein Handeln als durch sein Reden darüber belehrt, daß auch in dieser Amtskirche Leben nach dem Evangelium möglich ist, daß Freiheit wiedergewonnen werden kann, wenn man sich nur schlicht an das große Angebot des Evangeliums hält, und daß das Ernstnehmen evangelischer Freiheit etwas mit den „bürgerlichen“ Freiheiten zu tun hat, die uns das Grundgesetz unseres Landes öffnen will und die so sehr zu versanden drohen.

Ich habe so in den letzten zehn Jahren erfahren, was ich kaum noch erwarten konnte: christliche Gemeinde als den Ort unbeirrbarer Hoffnung, eine merkwürdig unmittelbare Wirkung christlicher Predigt in die Konflikte unserer Zeit hinein, vor allem aber die einzigartige Möglichkeit, jungen Menschen wieder ein Ziel für ihre Zukunft zu geben. „Warum ich ein Christ bin“ – die schließliche Antwort auf diese so persönlich gestellte Frage kann für mich nur so lauten nach einem umgetriebenen Leben: der alte Katechismus hat recht, den ich als Junge gelernt habe, ohne zu begreifen. Dieser Jesus Christus ist „mein einziger Trost im Leben und im Sterben“.

Ich bin davon überzeugt worden; er ist auch die einzige Hoffnung für die Welt, in der ich lebe.

DIE ZEIT, Nr. 16, 13. April 1979.

Hier der Text als pdf.

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