Von Karl Jaspers
Schuld
Das Tragische wird sich verständlich als Folge der Schuld und als die Schuld selbst. Der Untergang ist Buße der Schuld.
Die Welt zwar ist voll von schuldlosem Untergang. Das verborgene Böse vernichtet ohne Sichtbarkeit, es tut, wovon niemand hört; keine Instanz in der Welt erfährt auch nur davon (wie im Verlies der Burg ein Mensch einsam zu Tode gequält wurde). Menschen sterben als Märtyrer, ohne Märtyrer zu sein, sofern ihre Zeugenschaft niemand wahrnimmt und nie erfahren wird. Das Quälen und Verderben der Wehrlosen geschieht auf der Erdoberfläche alle Tage. Über ein Äußerstes empört sich Iwan Karamasoff angesichts der Säuglinge, die von Türken im Krieg zu ihrem Vergnügen getötet wurden. Diese ganze herzzerreißende, schaurige Wirklichkeit ist nicht Tragik, sofern das Unheil nicht Buße einer Schuld und ohne Zusammenhang mit dem Sinn dieses Lebens ist.
Aber die Frage nach der Schuld beschränkt sich nicht auf das Tun und Leben des einzelnen Menschen, sondern geht auf das Menschsein im Ganzen, dem jeder von uns angehört. Wo ist die Schuld an diesem schuldlosen Verderben? Wo ist die Macht, die unschuldig elend macht?
Wo Menschen diese Frage klar wurde, da erwuchs auch der Gedanke der Mitschuld. Alle Menschen sind solidarisch. Das liegt an der ihnen gemeinsamen Wurzel ihrer Herkunft und an ihrem Ziel. Dafür ein Zeichen, nicht eine Begründung ist die Betroffenheit von dem für den endlichen Verstand absurden Gedanken: ich bin schuldig an dem Bösen, das in der Welt geschieht, wenn ich nicht bis zum Opfer meines Lebens getan habe, was ich konnte, um es zu verhindern; ich bin schuldig, weil ich lebe und weiterleben kann, während dies geschieht. So ergreift jeden die Mitschuld für alles, was geschieht.
Von Schuld wird also zu sprechen sein in dem weiteren Sinn einer Schuld des Daseins schlechthin, und im engeren Sinn einer Schuld dieser einen je bestimmten Handlung. Wo die
eigene Schuld nicht auf einzelne greifbare unrechte Handlungen beschränkt, sondern tiefer im Grunde des Seins des Daseins erblickt wird, da ist der Schuldgedanke ein umfassender. Die Weisen der Schuld, wie sie dem tragischen Wissen erscheinen, sind daher folgende:
Erstens: Das Dasein ist Schuld. Schuld im weiteren Sinne ist das Dasein als solches. Was schon Anaximander dachte, kehrt – wenn auch in ganz anderem Sinn – bei Calderon wieder: des Menschen größte Schuld ist, daß er geboren ward.
Das zeigt sich auch darin, daß ich durch mein Dasein als solches Unheil anrichte. Das Bild dafür ist der indische Gedanke: mit jedem Schritte, mit jedem Atemzuge vernichte ich kleinste Lebewesen. Ob ich etwas tue oder nicht tue, durch mein Dasein bewirke ich Einschränkung anderen Daseins. Im Erleiden wie im Tun verfalle ich der Schuld des Daseins.
a) Ein bestimmtes Dasein ist Schuld durch seine Herkunft.Zwar habe ich so wenig wie das Dasein überhaupt dieses mein Dasein selbst gewollt. Aber ohne Willen bin ich schuldig, weil ich ich bin, der diese Herkunft hat. Es ist die Schuld im Makel der durch meine Ahnen schuldhaften Herkunft.
Antigone ist geboren wider das Gesetz (als Tochter des Ödipus und dessen Mutter) – in ihr wirkt der Fluch der Herkunft – aber dies ihr Ausgeschlossensein von der Norm gehöriger Abstammung wird zugleich Grund spezifischer Tiefe und Menschlichkeit: sie hat das sicherste und unerschütterlichste Wissen um das göttliche Gesetz; sie stirbt, weil sie mehr ist als die anderen, weil ihre Ausnahme Wahrheit ist. Und sie stirbt gern; es ist Erlösung im Sterben für sie; auf dem ganzen Weg ihres Tuns ist sie mit sich einig.
b) Der jeweils bestimmte Charakter ist die Schuld des Soseins. Der Charakter selbst ist ein Schicksal — sofern ich mich von meinem Charakter, als ob ich ihm gegenüberstände, trenne.
Was ich bin als gemeine Artung, als Ursprung bösen Wollens, eigenwilligen Trotzes meines Mißratenseins, – das alles habe ich selbst nicht gewollt und nicht geschaffen. Aber ich bin darin schuldig. Meiner Schuld erwächst mein Geschick, ob ich nun sterbe wider Willen, unerlöst, oder ob ich scheitere in Umkehr, im Überschreiten meiner Artung aus einem tieferen UrSprung, vermöge dessen ich verwerfe, was ich war, ohne werden zu können, was ich möchte.
Zweitens: Die Handlung ist Schuld. Schuld im engeren Sinne liegt in der Handlung, die ich als eine bestimmte vollziehe, und zwar so, daß sie frei ist, nicht zu sein brauchte, auch anders sein könnte.
a) Die schuldhafte Handlung ist Verletzung des Gesetzes durch Willkür; ist bewußter Eigenwille gegen das Allgemeine ohne anderen Grund als den Eigenwillen selbst; ist Folge eines schuldhaften Nichtwissens, halbbewußter Umsetzungen und Verschleierungen der Motive. Hier handelt es sich um nichts als das Elend des Gemeinen und des Bösen.
b) Anders wird die Schuld der Handlung, die dem tragischen Wissen offenbar wird. Scheitern folgt einer Handlung, die als sittlich notwendig und wahr aus dem Ursprung der Freiheit hell hervorgeht. Der Mensch kann der Schuld nicht entrinnen, indem er recht und wahr handelt: die Schuld selbst hat einen Charakter von Schuldlosigkeit. Der Mensch nimmt es auf sich, weicht der Schuld nicht aus, und steht zu seiner Schuld, nicht aus Trotz des Eigenwillens, sondern aus der Wahrheit, die scheitern muß im Opfer.
Größe des Menschen im Scheitern
Das tragische Wissen kann sich nicht vertiefen, ohne den Menschen größer zu sehen.
Daß er nicht Gott ist, läßt den Menschen klein sein und zugrunde gehen; – daß er die menschlichen Möglichkeiten bis zum Äußersten treibt und an ihnen selber wissend zugrundegehen kann, ist seine Größe.
Daher ist im tragischen Wissen wesentlich, woran der Mensch leidet und scheitert, was er übernimmt, angesichts welcher Wirklichkeiten und in welchen Gestalten er sein Dasein preisgibt.
Der tragische Held – der gesteigerte Mensch – ist er selbst im Guten wie im Bösen, im Guten sich erfüllend und im Bösen sich vernichtigend, beide Male als Dasein scheiternd durch die Konsequenz, sei es des wirklich oder des vermeintlich Unbedingten.
Sein Widerstand, sein Trotz, sein Übermut treiben ihn in die „Größe“ des Bösen. Sein Ertragenkönnen, sein Trotzdem, seine Liebe erheben ihn in das Gute. Immer ist er gesteigert durch die Erfahrung der Grenzsituationen. Der Dichter sieht ihn als Träger eines über individuelles Dasein Hinausgreifenden, einer Macht, eines Prinzips, eines Charakters, eines Dämons.
Die Tragödie zeigt den Menschen in seiner Größe jenseits von Gut und Böse. Der Dichter sieht wie Plato: „Meinst du, die großen Verbrechen und die vollendete Ruhelosigkeit erwüchsen aus einer gemeinen Natur und nicht vielmehr aus einer reichbegabten, … während eine schwache Natur nie Urheberin von etwas Großem werden kann weder im Guten noch im Bösen?“ … Aus den bestbeanlagten Naturen „gehen sowohl diejenigen hervor, die den Staaten und den Einzelnen das größte Unheil bringen, wie auch ihre größten Wohltäter … Von einer kleinlichen Natur dagegen geht nichts Großes aus, weder für den Einzelnen noch für den Staat.“ […]
Erlösung im Tragischen
Der Zuschauer erfährt angesichts der Dichtung, was ihm Erlösung bringt. Es ist nicht mehr wesentlich Schaulust, Zerstörungsbedürfnis, Drang nach Reiz und Erregung, sondern in diesem allen ein Tieferes, das ihn vor dem Tragischen überwältigt: der Ablauf seiner Erregungen, geführt durch ein im Anschauen wachsendes Wissen, bringt ihn in Berührung mit dem Sein selbst derart, daß von daher sein Ethos im wirklichen Leben Sinn und Antrieb erhält. Was in dieser Anschauung eines Allgemeinen geschieht, ist jedenfalls eine Befreiung, die durch völliges Ergriffensein vom Tragischen selber erfolgt. Wie dieses aber zu deuten sei, darauf gibt es eine Reihe von Antworten, deren jede etwas Wichtiges trifft, ohne daß sie, auch alle zusammengenommen, der Wirklichkeit dieses erfüllenden Grundanschauens im tragischen Wissen Genüge täten:
a) Im tragischen Helden schaut der Mensch seine eigene Möglichkeit: standzuhalten, was auch immer geschieht.
Die heroische Bewährung bis zum Untergang zeigt die Würde und Größe des Menschen. Er kann tapfer sein und unerschüttert in der Verwandlung sich wiederherstellen, solange er lebt. Er kann sich opfern.
Wo aller Sinn verschwindet, alle Wißbarkeit aufhört, da taucht im Menschen aus der Tiefe etwas auf: die Selbstbehauptung des Seins, die sich vollzieht im Dulden – „schweigend muß ich meinem Los entgegengehen“ – und sich vollzieht in der Tapferkeit des Lebens und in der Tapferkeit, an der Grenze des Unmöglichwerdens mit Würde den Tod zu ergreifen. Wo das Eine oder das Andere das Wahre ist, läßt sich nicht objektiv errechnen. Sinnlich unmittelbar kann es aussehen, wie der Trotz des Lebens, zu leben um jeden Preis; darin aber kann der Gehorsam liegen: auszuharren auf dem Platze, auf den ich gestellt bin, schlechthin, fraglos und nicht fragend. Sinnlich unmittelbar kann es andererseits aussehen wie Angst, die aus dem Leben flieht; darin aber kann die Tapferkeit liegen, zu sterben, wo ein würdeloses Leben erzwungen werden soll und Angst vor dem Tode an diesem Leben festhielte.
Was aber ist tapfer? – nicht schon die Vitalität als solche, nicht die Energie bloßen Trotzes, sondern die Freiheit von der Daseinsgebundenheit, das Sterbenkönnen, worin, wenn die Seele aushält, ihr mit dem Aushalten das Sein offenbar wird. Die Tapferkeit ist etwas den eigentlichen Menschen Gemeinsames, wenn auch die Glaubensinhalte verschieden sind. Es ist ein Ursprüngliches, das im tragischen Menschen, der in Freiheit untergeht, mit freiem Willen sich preisgibt, angeschaut wird als das, worin die Möglichkeit des eigenen Seins sich zeigt.
Angesichts der Tragödie vermag der Schauende vorwegzunehmen, zu ermöglichen oder zu befestigen, was er selbst sein kann und im tragischen Wissen erhellt hat.
b) Im Untergang des Endlichen schaut der Mensch die Wirklichkeit und Wahrheit des Unendlichen. Das Sein selbst ist das Umgreifende alles Umgreifenden, vor dem jede besondere Gestalt scheitern muß. Je großartiger der Held und die Idee, in der er lebt, desto tragischer das Geschehen und desto tiefer das Sein, das sich offenbart.
Nicht die moralische Wertung der Gerechtigkeit im Untergang des Schuldigen, der nicht hätte schuldig werden sollen, trifft das Tragische; Schuld und Sühne sind eine verengte, in Moralität versinkende Beziehung. Erst wenn sich die sittliche Substanz des Menschen gliedert in Mächte, die in Kollision sind, wächst der Mensch zu heroischer Größe, seine Schuld zur schuldlosen, charaktervollen Notwendigkeit, der Untergang zur Wiederherstellung, in dem das Geschehen aufgehoben ist. Daß alles Endliche vor dem Absoluten verurteilt ist, hebt den Untergang aus Zufall und Sinnlosigkeit in die Notwendigkeit. Denn es offenbart sich das Sein des Ganzen, dem der Einzelne, gerade weil er groß ist, sich opfert. Der tragische Held selbst geht seinsverbunden in seinen Untergang.
Besonders Hegel hat diese Interpretation zum maßgebenden Inhalt der Tragödie gemacht, sie damit im Sinn vereinfacht, so daß er auf dem Wege ist, ihr das eigentlich Tragische zu rauben. Die Linie, die er sieht, ist da, aber erst in der polaren Zusammengehörigkeit mit der unversöhnten Selbstbehauptung hat sie Geltung. Ohne das wird sie zu harmonisierender Trivialität und vorzeitiger Zufriedenheit.
c) Durch Anschauen der Tragödie erwächst im tragischen Wissen das dionysische Lebensgefühl, wie Nietzsche es interpretiert. Im Unheil erblickt der Zuschauer den Jubel des Seins, das in aller Zerstörung ewig sich erhält, sich im Verschwenden und Zerstören, im Wagen und Untergehen seiner höchsten Macht inne wird.
d) Das tragische Anschauen bewirkt nach Aristoteles eine Katharsis, eine Reinigung der Seele. Mitleid mit dem Helden und Furcht für sich selbst erfüllen den Zuschauer, der im Durchleben dieser Affekte zugleich von ihnen befreit wird. Aus der Erschütterung erwächst die Erhebung. Eine Freiheit des Gemüts ist die Folge der gleichsam in Ordnung gebrachten Affekte.
Allen Deutungen gemeinsam ist: die Offenbarkeit des Seins im Scheitern wird angesichts des Tragischen erfahren. Im Tragischen geschieht das Transzendieren über Elend und Schrecken zum Grunde der Dinge hin.
Erlösung vom Tragischen
Erlösung vom Tragischen spricht aus der Dichtung dann, wenn sie ihr Gewicht hat in der Überwindung des Tragischen durch das Wissen um ein Sein, vor dem das Tragische entweder zum versöhnten Grunde oder zum erscheinenden Vordergründe geworden ist.
a) Die griechische Tragödie. Äschylus läßt in den Eumeniden das tragische Geschehen Vergangenheit werden, aus ihm ist in der Versöhnung von Göttern und Dämonen mit den Instituten des Areopags und des Eumenidenkultes die Ordnung des Menschseins in der Polis geworden. Das tragische Heroenzeitalter wird abgelöst durch das Zeitalter von Recht und Ordnung, von glaubendem Einsatz in der Polis mit dem Dienst der Götter. Was Tragik war in dunkler Nacht, wird Grund eines hellen Lebens.
Die Eumeniden sind das letzte Stück der Trilogie; die als einzige uns erhalten ist. Alle anderen von Äschylus erhaltenen Dramen sind Mittelstücke, daher ohne die wahrscheinlich ihnen allen im Schlußstück folgende Lösung. Auch der Prometheus ist das Mittelstück einer Trilogie, deren Schlußstück die Aufhebung der Göttertragik in Götterordnung gebracht haben wird. Der Glaube der Griechen, in Äschylus zu klarster Vollkommenheit gebracht, beherrschte in ihm noch das Tragische.
Auch Sophokles steht noch im Glauben. Sein Ödipus auf Kolonos endet, vergleichbar mit Äschylus, sogar mit einer versöhnenden Gründung. Immer bleibt eine sinnvolle Beziehung zwischen Mensch und Gott, menschlichem Tun und göttlichen Mächten. Wenn darin unbegreiflich – das ist das Thema der Tragödie – der tragische Held erliegt ohne Wissen von Schuld (wie Antigone) oder mit vernichtendem Schuldbewußtsein (Ödipus), so bringt diese Helden ein nicht gewußtes, aber geglaubtes Sein des Göttlichen zur Ergebung in den göttlichen Willen und zum Opfer des eigenen Willens und Daseins – die Anklage, für Augenblicke unwiderstehlich laut werdend, versinkt am Ende in der Klage.
Die Erlösung vom Tragischen hört bei Euripides auf. Der Sinn wird aufgelöst. Seelische Konflikte, zufällige Situationskonstellationen, Eingreifen der Götter (deus ex machina) lassen das Tragische nackt übrigbleiben. Der Einzelne ist auf sich zurückgeworfen. Verzweiflung, verzweifeltes Fragen nach Sinn und Ziel, nach dem Wesen der Götter treten hervor, Klage nicht nur, sondern Anklage tritt in den Vordergrund. In Augenblicken scheint eine Ruhe im Gebet, in der Gottvernunft zu erwachen, um alsbald wieder in neuem Zweifel verlorenzugehen. Es ist keine Erlösung mehr. An die Stelle der Götter tritt die Tyche. Die Grenzen des Menschen und seine Verlorenheit werden schaurig offenbar.
b) Die christliche Tragödie. Der glaubende Christ anerkennt keine eigentliche Tragik mehr. Wenn die Erlösung geschehen ist und ständig durch Gnade geschieht, so verwandelt sich diesem nichttragischen Glauben das Elend und Unglück des Weltdaseins vielleicht gesteigert zum pessimistischsten Aspekt der Welt, in eine Stätte der Bewährung des Menschen, durch die er sein ewiges Seelenheil gewinnt. Weltdasein ist ein Geschehen unter Lenkung der Vorsehung. Alles ist hier nur Weg und Übergang, nicht letztes Sein.
Nun ist zwar jede Tragik, im Transzendieren ergriffen, als solche transparent: auch das Standhaltenkönnen und das Sterbenkönnen im Nichts vollziehen eine „Erlösung“, aber im Tragischen durch es selbst. Auch das Standhalten und die Selbstbehauptung im Scheitern wären sinnlos, wenn nichts als reine Immanenz wäre. Aber die Immanenz wird in der Selbstbehauptung nicht überwunden durch eine andere Welt, sondern allein im Transzendieren als solchem, im Grenzwissen und im Wissen von der Grenze her. Erst ein Glaube, der ein anderes als das immanente Sein kennt, erlöst vom Tragischen. So ist es bei Dante, bei Calderon. Das tragische Wissen, die tragischen Situationen, das tragische Heldentum, alles ist radikal verwandelt, weil es durch die Darstellung aufgenommen ist in den Sinn der Vorsehung und in die Gnade, die von diesem ganzen ungeheuren Nichtigsein und Sichselbstzerstören der Welt erlöst.
c) Die philosophische Tragödie. Die Erlösung vom Tragischen durch eine philosophische Grundhaltung darf nicht im Tragischen bleiben. Es genügt nicht, daß der Mensch schweigend standhält. Es genügt auch nicht, daß er zwar bereit ist für ein Anderes, es aber nur in Träumen der Phantasie als Symbol ergreift. Vielmehr müßte die Überwindung des Tragischen sich vollziehen in einer Verwirklichung, die zwar auf dem Grunde tragischen Wissens möglich ist, aber nicht in ihm bleibt. Diese ist ein einziges Mal in einer darum einzigen Dichtung dargestellt: in Lessings „Nathan der Weise“, dem neben Faust tiefsten deutschen dramatischen Werk. (Goethe aber, so viel reicher, anschauungsmächtiger, kommt nicht ohne die Gewalt christlicher Symbole aus; Lessing beschränkt sich karg auf die täuschungslose Menschlichkeit als solche, mißverstehbar als Kargheit, als Bildlosigkeit, als Gestaltlosigkeit, nur dann, wenn der Leser nicht aus eigenem erfüllt, was der Dichter so klar zum Ausdruck bringt.)
Lessing schrieb in der größten Verzweiflung seines Lebens (nach dem Tode von Frau und Sohn), zudem voll Verdruß über die Streitigkeiten mit dem niederträchtigen Hauptpastor Götze, dieses „dramatische Gedicht“, wie er es nennt. Gegen die Möglichkeit, man möchte in solchen Zeiten der Verzweiflung gern vergessen, wie die Welt wirklich ist, sagt Lessing: „Mit nichten: die Welt, wie ich mir sie denke, ist eine eben so natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht eben so wirklich ist.“ (13, 337). Eine solche natürliche Welt, die nicht herrscht und die doch nicht unwirklich ist, zeigt Lessing in „Nathan“.
„Nathan der Weise“ ist nicht Tragödie. Nathan, wie er auftritt im Beginn des Dramas, hat die Tragik in seiner Vergangenheit. Sie liegt hinter ihm: sein Hiobsschicksal, das Verderben Assads. Aus der Tragödie und dem tragischen Wissen ist – zunächst in Nathan – erwachsen, was die Dichtung darstellt. Die Tragödie ist nicht überwunden, wie bei Äschylus, durch die mythische Anschauung einer durch Zeus, Dike und die Götter gelenkten Welt, nicht wie bei Calderon, durch den bestimmten christlichen Glauben, in dem alles gelöst ist, – nicht wie in den indischen Dramen durch eine Seinsordnung, an der gar nicht gezweifelt wird, – sondern durch die Idee des eigentlichen Menschseins. Diese entfaltet sich als werdend, nicht als gegebenes Sosein; sie ist nicht da in der Anschauung einer vollendeten Welt, sondern in dem umgreifenden Streben, das aus dem inneren Handeln in der Kommunikation dieser Menschen sich verwirklicht.
Es ist, als ob die Reife der vernünftigen Seele Nathans, zu sich gekommen im ungeheuersten Leid, die Menschen als eine zerstreute, sich nicht mehr kennende, nun aber sich erkennende Familie wieder zusammenführt (in der Dichtung symbolisch als eine wirkliche blutsverwandte Familie). Und zwar tut er es nicht nach einem zweckhaften Plan aus umfassendem Wissen, sondern Schritt für Schritt mit dem jeweils von ihm in der Situation erworbenen Wissen und Vermuten durch seine stets gegenwärtige Menschenliebe. Denn die Wege des Menschen sind nicht rational Zweckhaft, sondern nur aus der Kraft des Herzens, die sich der klügsten Vernunft bedient, möglich.
Daher wird in der Dichtung dargestellt, wie alles aus Verstrickungen zur Lösung kommt. Die Akte des Mißtrauens, des Verdachts, der Feindschaft lösen sich auf in dem Offenbarwerden des Wesens dieser Menschen. Es schlägt zum Heil aus, was aus den Antrieben der Liebe im Raum der Vernunft geschieht. Freiheit bewirkt Freiheit. Aus der Tiefe dieser Seelen finden im Medium kluger Zurückhaltung und dann plötzlichen, unzweideutigen Verstehens, vorsichtiger Planung und dann durchbrechender Rückhaltlosigkeit die Begegnungen statt, in denen sich die unerschütterlichen Solidaritäten gründen, während die nicht zur Familie des Menschseins gehörigen Niederträchtigen unmerklich zur Ohnmacht gelangen.
Die Menschen aber sind nicht mehrere Exemplare des einen einzigen richtigen Menschseins, sondern ursprünglich so geartete, je besondere Einzelwesen, individualisierte Gestalten, die sich treffen nicht auf Grund gemeinsamer Artung (denn sie sind so verschieden wie möglich: Derwisch, Klosterbruder, Tempelherr, Recha, Saladin, Nathan), sondern auf Grund der gemeinsamen Richtung auf das Wahre. Alle geraten sie in die ihnen eigentümlich zukommenden Verstrickungen, durch die sie sich unterscheiden; alle vermögen sie diese Verstrickungen aufzulösen, ihre eigene Artung des Soseins zu überwinden, ohne sie auszulöschen; denn sie leben aus einem tiefen Grunde, in dem sie gemeinsam wurzeln. Sie sind jeweils besondere Gestalten des Freiseinkönnens und Freiseins.
Es ist diese Dichtung das Leibhaftwerden der „Vernunft“ in menschlichen Persönlichkeiten. Die Atmosphäre des Gedichts mehr noch als die einzelnen Handlungen und Sätze, als die Rührungen und die Wahrheiten, spricht zu uns als der Geist des Ganzen. Man muß nicht am Stoffe haften. Die romantische Situation im heiligen Lande der Kreuzzugszeiten, als alle Völker und Menschen sich treffen und aufeinander wirken, die Idee der deutschen Aufklärung, der verachtete Jude in der Hauptrolle, das alles ist nicht wesentlich, sondern zeitgebundenes Material und unentbehrliche Anschaulichkeit, um zur Darstellung zu bringen, was sich der Dichtung im Grunde entzieht. Es ist, als ob von Lessing das Unmögliche gewollt werde, und als ob es fast gelungen sei. Die Einwände, daß es sich um undichterische Abstraktheiten, um Aufklärungsgedanken und um Tendenzen handle, halten sich an Vereinzeltes und an Stoffliches. Das scheinbar Leichteste ist auch das schwerst Verständliche, zwar nicht für Verstand und Auge, aber für die Seele, die aus eigener Tiefe entgegenkommen muß, um den Enthusiasmus dieser Philosophie, ihre unergründliche Trauer, und ihre gelassene, freie Heiterkeit, – um unseren einzigen Lessing zu spüren.
„Soweit Ausgleichung möglich ist, schwindet das Tragische“ (Goethe). Ist diese Ausgleichung gedacht als Prozeß der Welt und der Transzendenz, in der alles von selbst zur Harmonie kommt, so ist das eine Illusion, durch die das Tragische verlorengeht und nicht überwunden wird. Ist die Ausgleichung aber die aus der Tiefe liebenden Kampfes sich vollziehende Kommunikation der Menschen und ihre dadurch geschehende Verbindung, so ist das keine Illusion, sondern existentielle Aufgabe des Menschseins in der Überwindung des Tragischen. Nur auf diesem Grunde sind die metaphysischen Überwindungen des Tragischen ohne Selbsttäuschung erfaßbar.
Quelle: Karl Jaspers, Über das Tragische, München: Piper, 1958.