Otto Merk, Predigt über 1. Thessalonicher 5,1-11: „Christen sind Kinder des Tages, nicht in Umrissen verschwommene und verhuschende Gestalten im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung. Tag und Nacht sind klar geschieden wie von Anbeginn der Schöpfung, und das Licht des Tages wirft scharf umrissene Schatten.“

Predigt über 1. Thessalonicher 5,1-11

Von Otto Merk

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

1 Thess 5,1–11

Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Gemeinde, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; 2 denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. 3Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. 4Ihr aber, liebe Schwestern und Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß der Tag wie ein Dieb über euch komme. 5 Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. 6 So laßt uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein. 7Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. 8 Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. 9Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unseren Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. 11 Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den anderen, wie ihr auch tut.

Liebe Gemeinde!

Die letzten Sonntage im Kirchenjahr lenken den Blick auf Gottes Zeit und Ewigkeit und von dort auf unsere Zeitlichkeit in Raum und Welt. Doch was wissen wir von Zeit und Stunde, von der irdischen Begrenztheit, die uns umgibt? „Der Tod ist gewiß, die Stunde ungewiß.“ Das ist eine uralte Erfahrung der Menschheit, an der auch die Christenheit nicht auslernt, auch wenn wir es lieber mit dem Psalmisten halten mögen: „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“

Nicht zur Resignation schreibt der Apostel Paulus, sondern um uns [258] Augen und Ohren zu öffnen zum Wahrnehmen unseres Lebens in dieser Zeitlichkeit. Eine junge amerikanische Christin hat vor Jahren in einem gleichsam Überwältigtsein von den Worten des Apostels in unserem Abschnitt den vielleicht wirkungsmächtigsten Hinweis in einem einzigen Satz ausgesprochen: „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.“ In der Tat: Paulus lädt uns ein, unsere Zeit und unser Leben in Beziehung zu setzen. „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens“, das ist die große unverbrauchte vor uns liegende Chance des neuen Anfangs, auch wenn morgen der letzte Tag unseres Lebens sein sollte. Und dies trifft noch mehr als das in den Umbrüchen unseres Jahrhunderts entstandene Wort: „Und wenn morgen die Welt unterginge, will ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“

Um Christsein und Zeit geht es in unserem Predigtabschnitt.

Zum ersten: Wir wollen uns nichts vormachen: Die Zeit ist ein laufendes und eigentlich nicht faßbares Gebilde. Was ein jeder von uns an jedem Tag im Guten wie im Bösen tut, denkt, vollbringt oder liegenläßt, mit Eifer betreibt oder nachlässig handhabt, ist getan. Jeder Tag ist qualifiziert durch unser Tun, und so bleibt kein Tag ungesehen und ungeschehen. – „Alles hat seine Zeit.“ Aus dem Buch des Predigers hören wir es eindrücklich: Alles hat seine bestimmte Stunde. Jedes Ding unter dem Himmel hat seine Zeit. Und wir dürfen fortfahren: Auch das Wachen und das Schlafen, der Tag und die Nacht haben je ihre Zeit.

Im Grunde sind wir es ja leid, von der Zeit zu reden. Zu oft hören wir oder sprechen wir es selbst aus: „Ich habe keine Zeit“, und ein Terminkalender mit weißen Flecken ohne Eintragungen gilt auch in unserer Stadt vielen als unseriös. Das zeigt nur: Die Zeit ist in unserer Gesellschaft, die über Freizeit wie nie zuvor verfügt, zum ungelösten Problem geworden, und wir stecken als Christen und Gemeinde mitten in diesem Sog. Wann gelingt es denn noch, einen einigermaßen passenden Termin für gemeindliche Kreise und Veranstaltungen zu finden? Und die Terminkalender unserer Pfarrer sind sitzungsüberladen und lassen für das Entscheidende, für Gottesdienst und Seelsorge kaum noch die nötige Zeit, auch nicht die Zeit zum Atemholen und Vorbereiten, zur Besinnung und zum theologischen Nachdenken.

Dem „wir haben keine Zeit“ geht zumeist von uns unausgesprochen bedrückend empfunden das gleichsam andere Gesicht der Zeit parallel: „Die Zeit läuft uns davon.“ Die Jahre eilen weiter. Wir erfahren es, wie schnell etwa ein Semester vergeht und Examenstermine und -nöte vor der Türe stehen. Wir müssen es zur Kenntnis nehmen, daß wir älter werden und daß Berufschancen sich ebenso wandeln wie sie in erschreckendem Maße schnell schwinden. Daß unser Sein in die Zeit geworfen und offensichtlich mit ihr verstrickt ist, das macht uns unruhig. Der unlösbare Zusammenhang von „Sein und Zeit“ bewegt nicht nur die [259] Philosophen, sondern er betrifft alle Bereiche unseres Daseins. Denn: „Alles Sein hat seine Zeit, und alles Sein hat seinen Tag.“ Wege und vielleicht auch Abwege tun sich auf, wenn wir einmal beginnen, über unsere uns ganz persönlich betreffende Zeit, über unser je eigenes Leben nachzudenken. „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens“, das ist die Chance auch für solche Besinnung, ist Aufbruch zu Neuem in davoneilender Zeit.

Klar, nüchtern und bestimmt spricht Paulus in eine umtreibend beunruhigende Zeit der jungen Gemeinde zu Thessalonich hinein: Christen wissen über Zeiten und Stunden Bescheid, auch wenn weder die Christen damals noch wir unsere letzte Stunde kennen. Wodurch wissen wir Bescheid?

Das ist das Zweite, was wir heute bedenken wollen. Es läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Jeder Tag ist in seinem Ablauf von Gott her und auf Gott hin gestundete Zeit. Freilich: Das ist eine unserem profanen Verständnis von Zeit, Zeitnot und Zeitdruck entgegenstehende, gleichwohl richtungsweisende Glaubensaussage. Nur wenige Sätze zuvor hat es Paulus den Thessalonichern im gleichen Brief geschrieben: „Wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist“ (4,14). Das ist das Urdatum des Glaubens und das Urdatum des uns eröffneten Wissens über Zeiten und Stunden. Der Christen Zeit inmitten der Welt hat es gegenwartsbestimmend und zukunftsweisend mit diesem einen zu tun: mit Jesu Tod und Auferstehung, mit dem Herrn, der für uns gestorben und von Gott auferweckt ist. Das ist die Botschaft des Evangeliums für uns in der uns gestundeten Zeit. Auch wenn uns im täglichen Getriebe solche Gedanken ferner liegen, wir dürfen es uns mitten in unseren Alltag hinein zurufen lassen: Von dieser Botschaft her gewinnen Glaube und Zeit ein neues Verhältnis zueinander. Paulus traut es uns zu, Glaube und Zeit in unserem Alltag miteinander zu verbinden.

In einer uns sicher ungewohnten und schwierigen Sprache spricht Paulus von Licht und Finsternis, vom Wachen und Schlafen, vom Nüchternsein, vom Tag und von der Nacht im teils wörtlichen, teils übertragenen Sinn. Fassen wir es auf das Entscheidende hin zusammen: Wie die Christen in Thessalonich sind die Leute, die im Licht und nicht in der Finsternis stehen. Wir sind als die Gemeinde des Auferstandenen die Leute, die jeder neue Tag braucht.

Paulus mutet uns sprachlich und sachlich einiges zu. Umsonst ja, aber nicht billig ist das Heil zu haben, das uns im Glauben tragfähige, tröstlich-aufbauende Wirklichkeit erschließt. Worin besteht diese Wirklichkeit?

Das ist das Dritte, was uns Paulus vor Augen stellt. Diese Wirklichkeit besteht darin, daß wir uns nicht von jeder tickenden Zeituhr des wahrlich vielfachen Bedrohtseins schrecken lassen, sondern nüchtern [260] und klaren Blickes mit dem uns auch von Gott gegebenen Verstand, mit Vernunft und Umsicht das Gebotene und das Mögliche vor Ort ausrichten und gegebenenfalls spontan handeln, solange diese Welt besteht und jeder neue Tag heraufzieht. Denn das ist Kennzeichen des Tages. Der Tag steht hier für die uns eröffnete Möglichkeit und Wirklichkeit: Heute ist der erste Tag vom Rest meines und unseres Lebens. Kinder des Tages sind Leute, die jeden neuen Tag als geschenkte Zeit nutzen. Nicht weiter als Schlafmützen, die z. B. die Abschaffung des Buß- und Bettages verschlafen haben, sondern als wache, umsichtig schauende und im Zupacken Hoffnung weckende Menschen sind wir in die Welt entlassen, die Gott nicht aufgibt. Dazu gehört auch dies, falsche Sicherheit von der in Grenzen möglichen Sicherheit zu scheiden. Das können wir, und dazu sind wir aufgerufen. Denn wir erwarten in unserer vielfach und weltweit verunsicherten, bedrohten Zeit nicht dieses oder jenes Schrecknis, wir erwarten am Ende des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung nicht irgendetwas Ungewisses, über uns bedrohlich Hereinbrechendes, sondern wir erwarten unseren kommenden Herrn Jesus Christus. Wir erwarten keinen anderen als den, der für uns gestorben und auferstanden ist. Nicht Zeiten und Stunden sind zu berechnen, sondern es gilt, mit diesem einen Herrn zu rechnen, wann immer ER kommt – und sei es unerwartet und plötzlich wie ein Dieb in der Nacht.

Es gilt, mit diesem einen Herrn zu rechnen, der uns in unserer ganzen Existenz will. Darum sind Christen Kinder des Tages, nicht in Umrissen verschwommene und verhuschende Gestalten im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung. Tag und Nacht sind klar geschieden wie von Anbeginn der Schöpfung, und das Licht des Tages wirft scharf umrissene Schatten.

Um diese Eindeutigkeit geht es, und das hat Konsequenzen. Es muß einmal gesagt werden: Weit mehr Menschen, als wir vermuten, warten darauf, daß Christen, daß wir wieder den Mut gewinnen, in unserem Denken, Urteilen und Handeln so eindeutig zu sein, wie Tag und Nacht, Licht und Finsternis voneinander geschieden sind. Die innere Distanz zur Kirche, die viele in unserer volkskirchlichen Situation sich vom Glauben hat abwenden lassen, und viel Groll über die Kirche überhaupt sind nicht grundlos. Bei aller notwendigen Abwägung der Argumente verharren wir zu oft in unverbindlichen Sowohl-als-auch-Entscheidungen in Glaubens- und ethischen Fragen. Wir lassen auf diese Weise Menschen, die unsere Schwestern und Brüder sind, in ihrer inneren seelischen Not allein. Wer wollte sich ausnehmen? Auch hier gilt: Umdenken und neu Anfangen. Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Und Paulus macht uns Mut dazu: Mit gewaltigen Worten und mit Bildern, die ihren Grund im gemeinsamen biblischen Erbe des ganzen Gottesvolkes haben, spricht er es aus: Wir aber, die Kinder des Tages, [261] sind angetan, sind bekleidet mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und tragen als Helm die Hoffnung auf das Heil. Wir sind ausgerüstet als Gottes Hoffnungsträger. In dieser Funktion fordert uns Gott ganz, jeden Tag neu. Nicht eine Kriegsrüstung, sondern eine Alltagsrüstung ist uns gegeben: Nämlich das von Gott gewährte Geleit in unserem Dasein bei der Arbeit und in der Arbeitslosigkeit, bei Gesundheit und in der Krankheit, beim Sich-Freuen und in der Traurigkeit, bei überlastendem Zeitdruck und in ausruhender Stille. „Wir sind von Gott umgeben auch hier in Raum und Zeit“ (A. Poetzsch). Und wir bleiben Gottes Hoffnungsträger ohne Weltsucht und Weltflucht, wenn wir es wieder freier und unerschrockener wagen, Grund und Maßstab unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unseres Tuns zu benennen. Hoffnung und Tag gehören zusammen, denn auch das Tägliche ist eingebettet in die von Gott gestundete und von uns durchzuhaltende Zeit. Halten wir es fest: Wir sind Gottes Hoffnungsträger, weil Gott selbst für uns einsteht. Wir sind nicht allein. Seit Ostern ist uns die in Gottes Tat gründende und unsere Lebenstage überdauernde Hoffnung eröffnet.

Noch einmal wendet Paulus das Bild und die Sache von Wachen und Schlafen. Jetzt bündelt er alles, was unsere Zeit und Zeitlichkeit umschließt, in die unverbrüchliche Zusage unseres Gottes: Wir werden mit Christus sein und mit ihm leben allezeit (4,17). Das ist es, was gilt im Leben und im Sterben und über den Tod hinaus. Und das genügt im Leben und im Sterben. „Deswegen“ – so schließt der Apostel – „sprecht einander tröstlich Mut zu und erbaue ein jeder den anderen.“

„Alles Sein hat seine Zeit,
alles Sein hat seinen Tag,
nur die Liebe bleibt grenzenlos“ –
uns aufgetragen in allen vorletzten Stunden unseres Lebens.
Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Gehalten am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 1996, in der Neustädter (Universitäts-)Kirche in Erlangen.

Quelle: Otto Merk, Wissenschaftsgeschichte und Exegese, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze 1998-2013, hrsg. v. Roland Gebauer, BZNW 206, Berlin 2015, S. 257-261.

Hier die Predigt als pdf.

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