Joachim Matthes, Ist die Säkularisierung ein globaler Prozess? Eine Übung in Begriffsgeschichte (2005): „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine aus dem Westen stammende Religionssoziologie, die ihre Begrifflichkeiten und Methoden auf das andere kulturelle Umfeld projiziert, das sie analysieren will, keine aufschlussreichen Erkenntnisse über dieses hervorbringen kann und darüber hinaus nicht in der Lage ist, eine fruchtbare vergleichende Studie über ‚Religionen‘ zu betreiben.“

Ist die Säkularisierung ein globaler Prozess? Eine Übung in Begriffsgeschichte

Von Joachim Matthes

Säkularisierung: Die Entwicklung eines Konzepts

Der Begriff „Säkularisierung“ hat sich in der Sprache und Rhetorik der Sozialwissenschaften erst in jüngster Zeit etabliert. In Anlehnung an die Geschichte dieses Begriffs, die weit in die mittelalterliche christliche Theologie und Philosophie zurückreicht, haben westliche Sozialwissenschaftler diesen Begriff um die Mitte des 20. Jahrhunderts übernommen, um einen langfristigen Prozess zu benennen, der in den westlichen Gesellschaften vermutet wird. Dieser vermeintliche Prozess kann als Emanzipation individueller und gesellschaftlicher Denk- und Verhaltensmuster von religiös und theologisch begründeten Weltbildern sowie von kirchlich organisierten, dominierten und durchdrungenen Formen des sozialen und politischen Lebens beschrieben werden.

Seit die Globalisierung westlicher Modelle des sozialen und politischen Lebens in den frühen 1960er Jahren zu einem wichtigen Thema der sozialwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung wurde, ist das Konzept der Säkularisierung auch auf nicht-westliche Gesellschaften ausgedehnt worden. Es wurde davon ausgegangen, dass die Säkularisierung als ein globaler Prozess betrachtet werden kann, in dessen Verlauf jede Art von Religion einer sozialen Marginalisierung unterworfen wird, die zu einer Abnahme ihrer Bedeutung für die Organisation und Durchführung des sozialen und politischen Lebens führt.

In diesem Sinne wurde die Säkularisierung zu einem wesentlichen bestimmenden Element der Modernisierung. In den modernen westlichen Gesellschaften wie auch in den sich modernisierenden nicht-westlichen Gesellschaften wurde davon ausgegangen, dass die Religion einerseits auf einen separaten, sich selbst erhaltenden Bereich der institutionellen Religion ohne größeren sozialen und intellektuellen Einfluss und andererseits auf eine Sphäre persönlicher Überzeugungen ohne jeglichen öffentlichen Einfluss und Relevanz, d. h. auf eine privatisierte Religion, beschränkt sein würde. Abgesehen von der Frage, ob die Religion schließlich ganz von der Bühne des menschlichen gesellschaftlichen Lebens verschwinden würde, wie marxistische Denker zu behaupten pflegen, wurde die doppelte Marginalisierung der Religion als institutionelle Religion (mit einem mehr oder weniger musealen Charakter) und als privatisierte Religion (gekennzeichnet durch individuelle Erfahrung und Willkür) von Sozialwissenschaftlern als notwendiger und unausweichlicher Bestandteil der Modernisierung angesehen. Obwohl der Begriff „Säkularisierung“ erst relativ spät in den Sprachgebrauch der Sozialwissenschaftler eingeführt wurde, geht man davon aus, dass die Idee, die hinter diesem Begriff steht, auch im frühen sozialwissenschaftlichen Denken wirksam war, wenn auch unter anderen Vorzeichen:

  • in der Theorie von August Comte über die drei Stufen, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft durchläuft (theologische, metaphysische und wissenschaftliche);
  • in Karl Marx‘ Theorie über die Rolle der Religion in klassenbasierten Gesellschaften und über das Ende der Religion in einer klassenlosen Gesellschaft der Zukunft;
  • in Max Webers Theorie des Rationalisierungsprozesses und der Entzauberung der Welt in den abendländischen Gesellschaften;
  • in den Theorien der sozialen Differenzierung, wie sie von den Funktionalisten entwickelt wurden.

So unterschiedlich diese Gesellschaftstheorien in ihren Grundgedanken und Begriffssprachen auch sein mögen, so scheinen sie doch in der Annahme der Unvermeidbarkeit der Säkularisierung im Zuge des Übergangs zur Moderne zu konvergieren. Angesichts der Dominanz dieser These werden Belege für eine religiöse Wiederbelebung in modernisierten westlichen Gesellschaften wie auch in modernisierenden nicht-westlichen Gesellschaften in der Regel als „anomale“ Phänomene behandelt, deren Auftreten auf zusätzliche intervenierende Faktoren zurückzuführen ist, die den spezifischen Fällen des Übergangs eigen sind.

In den letzten Jahrzehnten hat diese Modernisierungs-Säkularisierungsthese die religionssoziologische Forschung in der ganzen Welt außerordentlich beeinflusst. Sie ist aber auch immer wieder unter verschiedenen Aspekten in Frage gestellt worden.

Zum einen ist die Suche nach besonderen Gründen für das Fortbestehen oder Wiederauftreten von „Übergangsphänomenen“ nicht ganz erfolgreich gewesen. Es erwies sich als äußerst schwierig, die Modernisierungs-Säkularisierungsthese anhand von empirischen Fallstudien zu überprüfen, weil diese in der Regel auf der Grundlage dieser These konzipiert und durchgeführt wurden und weil jeder Versuch, eine Vergleichsebene für solche Fallstudien zu konstruieren, wiederum von derselben These geleitet wurde, was die Diskussion schnell in die Sackgasse der Tautologie führte.

Eine tiefer gehende Kritik an der Modernisierungs-Säkularisierungsthese entstand im Zusammenhang mit der sozialwissenschaftlichen Debatte über „Relativismus“ und „Ethnozentrismus“. In diesem Aufsatz werde ich mich auf diese Art von Kritik konzentrieren und versuchen, sie am Ende des Aufsatzes mit der oben erwähnten empirischen Infragestellung dieser These zu verbinden.

Diese Art der Kritik an der Modernisierungs-Säkularisierungsthese entwickelt sich im Kontext der so genannten „Kulturanalyse“, einer Denkweise, die stark auf die Arbeiten von Karl Mannheim zur Wissenssoziologie zurückgeht und die Denkstrukturen und die Konstruktion von Wissen auf ihre soziokulturellen Ursprünge zurückführt.[1] Aus der Sicht der Kulturanalyse sind viele der in der Sprache und Rhetorik der Sozialwissenschaften verwendeten Konzepte aus dem sozialen Diskurs der westlichen Gesellschaften hervorgegangen, in dem über die Jahrhunderte ein konzeptioneller Rahmen für das gemeinsame Verständnis ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft geschmiedet wurde. Aus diesem gesellschaftlichen Diskurs hervorgegangen, transportieren solche Begriffe, wenn sie abstrahiert und universalisiert werden, dennoch weiterhin komplexe kulturelle Bedeutungen, die tief im kulturellen Selbstverständnis des Westens verwurzelt sind, in den sozialwissenschaftlichen Diskurs und verwandeln so spezifische kulturelle Bedeutungen in fiktive universelle. Ein rein logisches Verständnis vom Wesen der Begriffsbildung verdeckt diesen Prozess der Bedeutungsumwandlung. Andererseits bleibt die Begriffsbildung für die Etablierung eines wissenschaftlichen Diskurses unverzichtbar. Umso notwendiger ist es, den Prozess der Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften immer wieder mit einer systematischen Reflexion auf die kulturelle Prägung dieser Begriffe zu verbinden, die sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs der Selbstverständigung und Selbstdeutung in jenen „Gesellschaften“ und „Kulturen“ rekrutieren, aus denen der sozialwissenschaftliche Diskurs stammt und an die er sich primär richtet.

Modernisierungs-Säkularisierungsthese

Diesem erkenntnistheoretischen Postulat folgend, wirft diese Art der Kritik an der Modernisierungs-Säkularisierungsthese mehrere grundsätzliche Fragen nach dem Einfluss der west­lichen Kultur auf die Art und Weise auf, wie sie einen Teil der sozialen Realität konzeptuali­siert. Hier kann nur auf einige dieser Fragen eingegangen werden. Ich beginne mit einem kurzen Abriss des gesellschaftlichen Diskurses, aus dem das Konzept der Säkularisierung im Westen hervorgegangen ist.

1. Wenn in den Sozialwissenschaften der Begriff „säkular“ verwendet wird, so beruht diese Redeweise auf der radikalen Spaltung der „Welt in Diesseits und Jenseits“, die für die christ­liche Art des Weltaufbaus und -verständnisses – die christliche Kosmisierung – grundlegend ist. Diese dichotomische Art, die Welt zu konstruieren und zu verstehen, zusammen mit der vermittelnden Funktion des Erlösers, von der sich die Institution der Kirche ableitet, scheint kulturell einzigartig zu sein. In anderen kulturellen Traditionen ist diese absolute und zugleich vermittelte Aufteilung der Welt ungewohnt, wenn nicht sogar ausdrücklich abgelehnt.[2] Seit dem theologischen Werk des Augustinus wird das lateinische Wort „saecularis“ verwendet, um das zu bezeichnen, was zu dieser Welt gehört.

2. Historisch gesehen ist es der Streit zwischen Papst und Kaiser über das Recht der Investitur des letzteren durch den ersteren Investiturstreit (1057-1122), der den Ursprung der Unter­scheidung und Trennung von „Weltlichem“ und „Heiligem“ in der europäischen Kunstge­schichte markiert.[3] Die Trennung von Staat und Kirche, die aus dieser Kontroverse hervorging und die die frühere Einheit des orbis christianus auflöste, verwandelt die christliche Dichoto­mie von Diesseits und Jenseits in eine sekundäre Spaltung des Diesseits. Die Kirche wird zur Repräsentantin der anderen Welt innerhalb dieser Welt und damit nicht „wirklich“ von dieser (säkularen) Welt. Schließlich befreite die Theologie der Reformation den christlichen Gläubi­gen aus der Abhängigkeit von der Kirche, um seine persönliche Beziehung zu dem einen Gott herzustellen, und verwies die Kirche endgültig in den Bereich des „Weltlichen“, der – wie der christliche Gläubige selbst – von der Gnade Gottes abhängig ist. Aufgrund ihrer Stellung in dieser Welt konnte die Kirche den Organisationsformen der Welt unterworfen sein und war es auch, einschließlich der Unterwerfung der Kirche unter innerweltliche Autoritäten.

3. Der Begriff „Säkularisation“ tauchte erstmals im Westfälischen Frieden (1648) auf, der den Dreißigjährigen Krieg (einen konfessionellen Bürgerkrieg) beendete, und bezeichnete dort die Konfiszierung kirchlichen Eigentums durch den Staat. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff immer mehr verallgemeinert und bezeichnete schließlich jede Art von Emanzipation inner­weltlicher Handlungen, Motive und Institutionen von der Dominanz oder dem Einfluss der Kirche. Es ist sehr wichtig, sich vor Augen zu halten, dass der Begriff „Säkularisierung“ in seinem christlich-europäischen Ursprungskontext die Trennung der Kirche – nicht des Chris­tentums – vom Staat und vom öffentlichen Leben und damit die Marginalisierung der Stellung der Kirche in der Gesellschaft bedeutet. Umgekehrt impliziert der Begriff „Säkularisierung“ auch die Übertragung christlicher Werte auf die „säkulare“ Welt, d.h. die Übernahme christli­cher Denk- und Verhaltensmuster unabhängig von der Lehre der Kirche und ihrem Wirken als Institution in das gesellschaftliche Leben, oder, anders ausgedrückt, die Christianisierung der Gesellschaft als innerweltlicher Prozess. Deshalb haben vor allem protestantische Theologen immer wieder die „positive“ Bedeutung der Säkularisierung als innerweltliche, „soziale Inkarnation“ der christlichen Religion betont.

4. Tatsächlich hat der Begriff „Religion“ gerade in diesem Zusammenhang seine moderne Bedeutung erhalten. Im europäischen Mittelalter spielte der lateinische Begriff „religio“ weder in der christlichen Theologie noch in der Philosophie eine besondere Rolle. Unmit­telbar nach der Reformation wurde „Religion“ jedoch zu einem kulturellen Schlüsselbegriff, der eine doppelte Bedeutung hat. Einerseits wurde „Religion“ als Oberbegriff verwendet, um die Einheit des Christentums jenseits der grundlegenden Konfessionen zu bezeichnen, in die es aufgeteilt war; in dieser besonderen Bedeutung wurde der Begriff „Religion“ bald weiter verallgemeinert, um nicht nur die christliche Religion, sondern auch andere zu erfassen, die bekanntermaßen außerhalb des orbis christianus existierten und bis dahin lediglich als For­men des Heidentums oder des Aberglaubens betrachtet worden waren. Andererseits wurde der Begriff „Religion“ verwendet, um die innerweltliche, soziale Ausprägung christlicher Über­zeugungen und christlicher Verhaltensweisen zu bezeichnen, die sich von der Institution Kir­che emanzipierten. Insbesondere die protestantischen Laien nahmen für sich in Anspruch, in ihrem innerweltlichen Handeln „religiös“ zu sein und das Wesen der christlichen Überzeu­gungen im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen – unabhängig von den Lehren der Kir­che und jenseits ihrer Kontrolle. Im sozialen und kulturellen Diskurs der europäischen Gesell­schaften nach der Reformation wurde der Begriff „Religion“ als Gegenbegriff verwendet, der das Selbstbewusstsein und die Eigenständigkeit einer emanzipierten Laienschaft gegenüber der Kirche bezeichnete.

Diese doppelte Bedeutung von „Religion“ – als verallgemeinerter Begriff und als Gegenbe­griff – entstand in einer historisch einmaligen kulturellen Figuration; beide Bedeutungen verstärkten sich gegenseitig: „Religion“ als treibende Kraft gesellschaftlichen Handelns, befreit von kirchlicher Dominanz (also als „säkulares“ Phänomen), konnte durchaus als allgemeines, universelles Phänomen begriffen werden. Folglich konnte man sich die „Säku­larisierung“ als einen Prozess vorstellen, in dem sich die Gläubigen und ihre soziale Welt von der Kirche emanzipieren, ohne die „Religion“ aufzugeben; ja, es war der Begriff „Religion“, der verwendet wurde, um zu betonen, dass ein gläubiges und verantwortliches innerweltliches Handeln jenseits der Kontrolle der Kirche wahrhaft christlich ist.

5. Diesem Selbstverständnis und dieser Selbstinterpretation einer stolzen und selbstbewussten christlichen Laienschaft fehlten auf Dauer die Mittel, um sich als eine von der Kirche unabhän­gige, aber an sie angrenzende gesellschaftliche Formation zu behaupten. Gleichzeitig versuchte die Kirche als Institution, die konzeptionelle Autorität zurückzuerobern, um zu definieren, was diesseitige „Religion“ wirklich sein sollte, und um diese konzeptionelle Auto­rität in der Gesellschaft auszuüben. In dem Maße, in dem die soziale Formation der christli­chen Laien mit dem Aufkommen des Individualismus und der Herausbildung einer Zivilge­sellschaft zu bröckeln begann, wurde die „Religion“ mehr und mehr individualisiert und privatisiert. Gleichzeitig war ihr Stellenwert im sozialen und öffentlichen Leben einer stän­digen Erosion unterworfen. Dies wiederum ebnete der Kirche und ihrer Theologie den Weg, die begriffliche Autorität zu erlangen, „Religion“ nach ihren eigenen Prinzipien zu definieren. So veränderte sich die Bedeutung der „Säkularisierung“ im gesellschaftlichen Diskurs der euro­päischen Gesellschaften erneut und wurde schließlich zu dem, was sie für uns heute ist: die Abgrenzung zwischen institutioneller und privater Religion, die erstere im gesellschaftlichen Leben marginalisiert und letztere der Willkür der persönlichen Erfahrung überlässt. Da diese „Spaltung“ in der christlichen Tradition die Beziehung zwischen der Kirche und der (sozialen) Welt kennzeichnet, gibt es in der intellektuellen Reflexion immer Raum, um eine Bedeutung von „Religion“ zu erkennen, die an der Schnittstelle zwischen beiden überleben oder sogar wieder auftauchen kann. In der Tat ist es nur ein weiteres Indiz für den langen Prozess der „Säkularisierung“, den die westliche Welt erlebt und als solchen interpretiert hat, dass Reli­gionssoziologen heute eifrig auf der Suche nach sozialen Formen „unsichtbarer“[4] oder „wan­dernder“ oder „verirrter“ Religion sind.

Säkularisierung als kultureller Prozess

Was lehrt uns eine kulturelle Analyse der Säkularisierungsthese, so skizzenhaft sie auch sein mag?

Erstens: Der soziale und kulturelle Prozess, der als „Säkularisierung“ bezeichnet wird, ist ein Prozess, der tief in der christlichen Tradition der westlichen Welt verwurzelt ist, einschließlich der Aneignung und Verarbeitung derjenigen kulturellen Traditionen, aus denen die christliche hervorgegangen ist. Die Erfindung und Umsetzung des Begriffs „Säkularisierung“ selbst ist Teil dieses sozialen und kulturellen Prozesses – er ist ein begriffliches Vehikel im Prozess des Selbstverständnisses und der Selbstinterpretation der westlichen Welt. Um es mit den Worten Nietzsches zu sagen: Ein kultureller Begriff wie dieser, durch den ein lang andauernder und komplexer kultureller Prozess im gesellschaftlichen Diskurs verkörpert wird, um ihn für diejenigen, die diesen Prozess erleben, transparent und interpretierbar zu machen, kann nicht so behandelt werden, wie wissenschaftliche Begriffe üblicherweise behandelt werden: Er kann nicht abstrakt definiert werden. Dieser Vorbehalt gilt für die sozialwissenschaftliche Analyse westlicher Gesellschaften; er ist umso wichtiger, wenn es um eine vergleichende Analyse von Gesellschaften mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen geht.

Zweitens: Das bedeutet nicht, dass wir einen solchen Begriff aus dem Bereich der wissenschaftlichen Sprache und Rhetorik verbannen müssen. Insbesondere bedeutet es nicht, dass wir eine höhere Abstraktionsebene anstreben sollten, indem wir einen künstlichen, theoretischen Begriff prägen, der die abstrakten Elemente eines solchen Begriffs enthält, um ihn für die vergleichende Analyse anwendbar zu machen. Ein solches Unterfangen würde mit Sicherheit zu einer „ethnozentrischen“ und „eurozentrischen“ Interpretation der Welt führen; eine abstrakte Version eines solchen Kulturbegriffs würde lediglich die Fülle der mit ihm verbundenen kulturellen Vorstellungen und die kulturelle Besonderheit dieser Fülle von Optionen verschleiern, und sie würde jene kulturellen Besonderheiten anderer Gesellschaften verdecken, die unter einem solchen verallgemeinernden, künstlichen Begriff in die vergleichende Analyse einbezogen werden. Wenn kulturvergleichende Analysen unter Verwendung von Kulturbegriffen wie „Säkularisierung“ durchgeführt werden sollen, kommt man nicht umhin, die Bedeutung dieser Begriffe innerhalb des jeweiligen sozialen und kulturellen Diskurses, dem sie entstammen, ständig zu reflektieren und die Struktur des sozialen und kulturellen Prozesses, der sich in solchen Begriffen auf Seiten aller in die vergleichende Forschung einbezogenen Gesellschaften widerspiegelt, sorgfältig zu rekonstruieren. Nur dann können wir hoffen, eine Ebene der vergleichenden Analyse zu erreichen, die über eine bloße „Nostrifizierung“[5] anderer Kulturen im Sinne der Interpretationen hinausgeht, die wir in und über unsere eigene Kultur entwickelt haben.

Drittens: „Säkularisierung“ als kulturelles, interpretatives Konzept ist (wie gezeigt) eng mit einigen grundlegenden Besonderheiten der christlich-abendländischen Tradition verbunden. Es macht keinen Sinn ohne eine grundlegende begriffliche Trennung zwischen dieser (der säkularen) und der anderen (der sakralen Welt), noch ohne eine grundlegende begriffliche Tren­nung zwischen Kirche und Gesellschaft, wie sie die abendländische Tradition in den letzten Jahrhunderten geprägt hat.[6] Sie macht auch keinen Sinn ohne jenen besonderen Begriff von „Religion“, der in der abendländischen Welt nach der Reformation entwickelt wurde und der sich durch seine innere Verallgemeinerungsfähigkeit gegenüber den Spaltungen innerhalb des Christentums auszeichnet, sowie durch die Vorstellung, dass er sich von dem unterscheidet, was die Kirche in dieser Welt repräsentiert. Erst auf der Grundlage dieser grundlegenden kulturellen Konzeptualisierungen haben sich bestimmte kulturelle Konfigurationen herausgebildet, die dann als „säkular“ bezeichnet wurden. Jede Verwendung dieses Begriffs (und Konzepts) in der kulturvergleichenden Analyse muss dies berücksichtigen und Parallelen zu und Abweichungen von diesem Netzwerk kultureller Konnotationen in anderen Kulturen sorgfältig prüfen, bevor sie in die empirische Forschung eintritt. In der Tat wäre es äußerst nützlich, wenn eine Studie über die „Säkularisierung“ in einer nicht-westlichen Gesellschaft mit einer solchen gegenseitigen Analyse beginnen würde. Wie sieht das, was in der westlichen Welt als „Säkularisierung“ verstanden wird, aus, wenn man es beispielsweise im Lichte der chinesischen kulturellen und „religiösen“ Tradition und Erfahrung betrachtet, die aus westlicher Sicht so oft als „pragmatisch“ und „synkretistisch“ dargestellt wurde, so dass man sie als „säkular“ auf „indigene“ Weise bezeichnen könnte – und nicht als Ergebnis der jüngsten „Modernisierung“? Könnte es nicht sein, dass die Geschichte der „Religion“ im Westen aus chinesischer kultureller Sicht als durchdrungen von allerlei magischen Übungen erscheint;[7] und wie würde eine solche Konzeptualisierung mit Max Webers Aussage zusammenhängen, dass es der chinesischen Kultur nie gelungen ist, dem „verzauberten Garten der Magie“ zu entkommen? Die gegenseitige kulturelle Analyse, die jedem Versuch der Konzeptualisierung von Themen der empirischen Forschung vorausgehen sollte, ist eine Übung in der Gegenüberstellung grundlegender kultureller Perspektiven, bevor sie in theoretische Konzepte gegossen werden, die in der empirischen Untersuchung verwendet werden können.

Viertens: Eine vergleichende kulturelle Analyse aus einer solchen Perspektive der kulturellen Gegenseitigkeit[8] zu beginnen, scheint, gelinde gesagt, ungewöhnlich geworden zu sein unter einem theoretischen Regime in den Sozialwissenschaften, das im Grunde genommen „Säkularisierung“ mit „Modernisierung“ gleichsetzt und davon ausgeht, dass der „Rest“ der Welt zwangsläufig dem Weg der sozialen und kulturellen Entwicklung folgen wird, den der Westen in den letzten Jahrhunderten eingeschlagen hat. Gegen diese Annahme lassen sich mehrere Argumente ins Feld führen. Die Globalisierung der westlichen Kultur, die wir vor allem im letzten Jahrhundert erlebt zu haben scheinen, ist nicht so sehr ein Ausfluss irgendeines universellen Gesetzes der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, sondern vielmehr ein Prozess wirtschaftlicher und politischer Hegemonie, der weder eine Emanation irgendeiner transzendentalen Notwendigkeit noch für die Ewigkeit bestimmt ist; daher muss er in historischen Kategorien und insbesondere in Kategorien der Macht und der Entscheidungsfindung untersucht werden. Es ist unbestreitbar, dass die Globalisierung der westlichen Kultur den Rest der Welt verändert, aber sie zwingt den Rest der Welt nicht auf den gleichen Entwicklungsweg, den der Westen eingeschlagen hat.[9] Die Globalisierung der westlichen Kultur setzt jedoch in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedliche Prozesse der „Modernisierung“ in Gang, und in jedem dieser Prozesse verschmelzen indigene Traditionen und kulturelle Transfers aus dem Westen auf besondere Weise.[10] Auch ist der Prozess der „Modernisierung“ innerhalb des Westens alles andere als einheitlich, eine Tatsache, die übersehen wird, wenn seine interne Heterogenität einem verallgemeinernden, abstrakten Konzept der „Modernisierung“ unterworfen wird. Schließlich mag das, was mit „Säkularisierung“ gemeint ist, als ein paralleler Prozess zu dem erscheinen, was im Westen als „Modernisierung“ angesehen wird; es gibt jedoch keinen zwingenden Beweis dafür, dass beide Prozesse notwendigerweise miteinander verbunden sind und dass das, was als „Säkularisierung“ erscheint, selbst ein unumkehrbarer Prozess innerhalb des Westens ist.

Schlussfolgerung

Dies führt mich zu einigen abschließenden Bemerkungen zu den empirischen Belegen, die zur Unterstützung der Säkularisierungsthese angeführt werden. Die Kriterien, die üblicherweise angewandt werden, um die Stichhaltigkeit dieser empirischen Beweise zu messen, sind im Lichte der kulturellen Analyse nicht zufriedenstellend überprüft worden. Diese Kriterien folgen in der Regel jenen kulturellen „Gegebenheiten“, aus denen sich alle Phänomene und Probleme ergeben, die dann als „Säkularisierung“ konzeptualisiert werden. Sie dienen also lediglich der Reproduktion dessen, was gemeinhin unter diesem Begriff verstanden wird. So akzeptiert die sozialwissenschaftliche Erforschung von „Religion“ in westlichen Gesellschaften in der Regel die abendländisch-kulturelle Trennung zwischen institutioneller und privater „Religion“ und beschränkt sich darauf, Daten darüber zu erheben, wie und in welchem Ausmaß die normativen Erwartungen der institutionellen „Religion“ von den Gläubigen befolgt werden, sowie über die verschiedenen Formen und die Intensität der persönlichen „religiösen“ Bindung und Praxis. In der sozialwissenschaftlichen Erforschung von „Religion“ im Westen gibt es kaum ernsthafte Überlegungen über die grundlegende Struktur hinter dieser Aufteilung, die beispielsweise „privatisierte“ Ausdrucksformen von „Religiosität“ hervorbringt, gerade weil die normativen Erwartungen der institutionellen „Religion“ zu spezialisiert und subtil sind, um von allen regelmäßig erfüllt zu werden, und weil sie Teil einer „sozialen Welt“ (der Welt des kirchlichen Lebens) sind, die nur ein marginalisiertes Segment innerhalb der Vielzahl sozialer Welten geworden ist, in denen man lebt.

In empirischen Studien über „Religion“ im Westen finden sich kaum Überlegungen, warum dies so ist, wie es dazu gekommen ist und was dies für die Kirche wie für die Gläubigen bedeutet. Auch an historischer Reflexion mangelt es in der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit „Religion“ im Westen in erheblichem Maße, was sich beispielsweise in der unter Sozialwissenschaftlern weit verbreiteten Annahme eines rückläufigen Gottesdienstbesuchs in Westeuropa manifestiert, obwohl diese Behauptung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt und widerlegt wurde. Jahrhunderts in Frage gestellt und widerlegt wurde. Alexander von Oettingen argumentierte in seinem Buch Moralstatistik (1868), dass der Kirchenbesuch seit Beginn der Zählungen konstant niedrig gewesen sei und dass die Kirchen bereits völlig leer geblieben wären, wenn man die ständigen Berufsklagen der Pfarrer über die geistige Faulheit der Gläubigen ernst nehmen wollte. Es scheint jedoch, dass zeitgenössische Sozialwissenschaftler diese professionellen Klagen von Pfarrern immer noch unterschreiben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine aus dem Westen stammende Religionssoziologie, die ihre Begrifflichkeiten und Methoden auf das andere kulturelle Umfeld projiziert, das sie analysieren will, keine aufschlussreichen Erkenntnisse über dieses hervorbringen kann und darüber hinaus nicht in der Lage ist, eine fruchtbare vergleichende Studie über „Religionen“ zu betreiben. Dies gilt insbesondere dann, wenn Sozialwissenschaftler, die sich als Nachfolger und Wegbereiter der europäischen Aufklärung verstehen, als Wegbereiter für ein säkularisiertes und rationalisiertes Ortsvokabular, die „Säkularisierung“ so erforschen, als sei sie eine „harte Tatsache“ und nicht, wie die Kulturanalyse lehrt, eine „diskursive Tatsache“.

Wenn ich am Ende dieser Arbeit eine eindeutige Antwort auf die eindeutige Frage, die ihr Titel ist, geben müsste, müsste ich sagen: „Nein! Da es aber meine Absicht war, in diesem Aufsatz die erkenntnistheoretische Legitimität dieser Frage zu demontieren, kann ich darauf keine Antwort geben. Die Antwort auf eine falsch formulierte Frage zu verweigern, bedeutet jedoch nicht, sich mit ihr abzufinden. Es bedeutet, nach einer adäquateren Formulierung der Frage zu suchen, die nur unter den Bedingungen erhöhter Selbstreflexivität und Reziprozität im kulturanalytischen Diskurs erreicht werden kann.

Joachim Matthes ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Erlangen, Deutschland.

Auf Englisch unter dem Titel Is Secularisation a Global Process? An Exercise in Conceptual History erschienen in: Riaz Hassan (Hrsg.), Local and Global: Social Transformation in Southeast Asia. Essays in Honour of Professor Syed Hussein Alatas, Boston: Brill, 2005, S. 19-29.


[1] Karl Mannheim (1980), Strukturen des Denkens, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[2] Für eine detaillierte Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen westlichen und chinesischen Weltan­schauungen, wie sie sich in der Begegnung von Jesuitenmissionaren und chinesischen Literaten im frühen siebzehnten Jahrhundert zeigten, vgl. Jacques Gernet (1985), China and the Christian Impact: A Conflict of Cultures, Cambridge University Press.

[3] Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde (1981), Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in Heinz-Horst Schrey (Hrsg.), Säkularisierung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

[4] Vgl. Thomas Luckmann (1967), The Invisible Religion: The Problem of Religion in Modern Society, London: Collier-Macmillan Ltd.

[5] Diesen anschaulichen Begriff (‚Nostrifizierung‘) entlehne ich Justin Stagl, „Die Beschreibung des Fremden in der Wissenschaft“, in Hans-Peter Duerr, Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1981.

[6] Für eine tiefer gehende Analyse der Entwicklung grundlegender Konzepte der Welt, die in die Geschichte des christlichen Denkens eingebettet sind, vgl. Bernhard Lang & Colleen McDannell (1988), Heaven: A History, Yale University Press. Für eine vergleichende Analyse westlicher und chinesischer Grundkonzepte der Welt, vgl. Jacques Gernet op. cit.

[7] An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Begriff „Magie“ im Westen im Zusammenhang mit der theologischen Debatte zwischen Katholiken und Protestanten über die Eucharistie – über die reale oder symbolische Transsubstantiation von Brot und Wein in das Fleisch und Blut Jesu Christi – an Bedeutung und Bekanntheit gewann.

[8] Vgl. meine Besprechung von „The Operation Called Vergleichen“, in J. Matthes (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Soziale Welt Sonderband Nr. 8, Göttingen, 1992.

[9] Sehr oft wurde im Westen zum Beispiel angenommen, dass die Modernisierung überall zwangsläufig mit einer „Schrumpfung“ der Großfamilie zur Kernfamilie einhergeht. Eine solche verallgemeinernde Annahme verstellt den Blick auf die unterschiedlichen Rollen, die Systeme bei der Herausbildung verschiedener Gesellschaften spielen (z.B. China und Japan), und sie verstellt auch den Blick auf die historische Tatsache, dass innerhalb der christlichen Tradition im Westen verwandtschaftliche Beziehungen bereits im vierten Jahrhundert zugunsten der sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinde der Gläubigen gesellschaftlich abgewertet wurden – ein Prozess, der von der Kirche bewusst unterstützt wurde, um die Kontrolle über den Familienbesitz zu erlangen. Vgl. Bernhard Lang & Colleen MacDannell a.a.O., sowie Jack Goody (1986), Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin: Reimers Verlag.

[10] In zahlreichen Studien über japanische Managementsysteme wurde beispielsweise detailliert aufgezeigt, wie westliche Muster der Managementorganisation in Japan übernommen und gleichzeitig in ihrer Grundstruktur umgestaltet wurden, um kulturellen Mustern wie dem oyabun-kobun („Vater-Sohn“-Verhältnis) und dem honke-bunke-System („Abstammungs-“ und „abgeleitete“ Haushalte) Rechnung zu tragen.

Hier der Text als pdf.

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