Martin Luthers Brief an Georg Spenlein, Augustiner in Memmingen, vom 8. April 1516: „Christus wohnt nur in Sündern. Denn deshalb ist er vom Himmel herniedergestiegen, wo er in Gerechten wohnte, damit er auch in Sündern wohnte. Diese seine Liebe erwäge immer wieder bei Dir, und Du wirst seinen überaus süßen Trost sehen. Denn wenn wir durch unsere Bemühungen und Trübsale zur Ruhe des Gewissens kommen müssten: wozu wäre er denn gestorben? Deshalb wirst Du nur in ihm, durch getroste Verzweiflung (desperatio fiducialis) an Dir und Deinen Werken, Frieden finden.“

Brief an Georg Spenlein, Augustiner in Memmingen, vom 8. April 1516

Von Martin Luther

Übrigens möchte ich wissen, was Deine Seele macht: ob sie denn nicht endlich, ihrer eigenen Gerechtigkeit überdrüssig, lerne, in der Gerechtigkeit Christi wieder aufzuatmen und auf sie zu vertrauen. Denn zu unserer Zeit brennt die Anfechtung der Vermessenheit bei vielen und besonders bei denen, welche sich mit allen Kräften gerecht und gut zu sein bemühen. Sie kennen die Gerechtigkeit Gottes nicht, welche uns in Christus aufs reichlichste und umsonst geschenkt ist und suchen durch sich selbst so lange gute Werke zu tun, bis sie die Zuversicht haben, vor Gott bestehen zu können, gleichsam mit Tugenden und Verdiensten geschmückt, was doch unmöglich geschehen kann. Du bist bei uns in dieser Meinung, vielmehr diesem Irrtum gewesen. Auch ich bin es gewesen, sogar auch jetzt noch kämpfe ich gegen diesen Irrtum an, habe ihn aber noch nicht überwunden.

Daher, mein lieber Bruder, lerne Christus, und zwar den gekreuzigten, lerne ihm zu singen und an Dir selbst verzweifelnd zu ihm zu sprechen: Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde; du hast das Meine auf dich genommen und mir das Deine gegeben; du hast angenommen, was du nicht warst, und mir gegeben, was ich nicht war. Hüte Dich, daß Du niemals nach einer so großen Reinheit trachtest, daß Du Dir nicht als Sünder erscheinen oder gar kein Sünder sein willst. Denn Christus wohnt nur in Sündern. Denn deshalb ist er vom Himmel herniedergestiegen, wo er in Gerechten wohnte, damit er auch in Sündern wohnte. Diese seine Liebe erwäge immer wieder bei Dir, und Du wirst seinen überaus süßen Trost sehen. Denn wenn wir durch unsere Bemühungen und Trübsale zur Ruhe des Gewissens kommen müßten: wozu wäre er denn gestorben? Deshalb wirst Du nur in ihm, durch getroste Verzweiflung (desperatio fiducialis) an Dir und Deinen Werken, Frieden finden. Überdies wirst Du von ihm lernen, daß er, gleichwie er Dich angenommen und Deine Sünden zu den seinen gemacht hat, auch seine Gerechtigkeit zu der Deinen gemacht hat.

Vgl. WA.Br. 1, Nr. 11, S. 35f.

Quelle: Luther Deutsch. Die Werke Luthers in Auswahl, hrsg. v. Kurt Aland, Bd. 10: Die Briefe, S. 14f.

Hier das lateinische Original:

Caeterum quid agat anima tua, scire cupio, utrumne tandem suam pertaesa propriam iustitiam discat in iustitia Christi respirare atque confidere. Fervet enim nostra aetate tentatio praesumptionis in multis, et iis praecipue, qui iusti et boni esse omnibus viribus student; ignorantes iustitiam Dei, quae in Christo est nobis effusissime et gratis donata,  quaerunt in se ipsis tam diu operari bene, donec habeant fiduciam standi coram Deo, veluti virtutibus et meritis ornati, quod est impossibile fleri. Fuisti tu apud nos in hac opinione, imo errore; fui et ego, sed et nunc quoque pugno contra istum errorem, sed nondum expugnavi.

Igitur, mi dulcis Frater, disce Christum et hunc crucifixum, disce ei cantare et de te ipso desperans dicere ei: tu, Domine Ihesu, es iustitia mea, ego autem sum peccatum tuum; tu assumpsisti meum, et dedisti mihi tuum; assumpsisti, quod non eras, et dedisti mihi, quod non eram. Cave, ne aliquando ad tantam puritatem aspires, ut peccator tibi videri nolis, imo esse. Christus enim non nisi in peccatoribus habitat. Ideo enim descendit de coelo, ubi habitabat in iustis, ut etiam habitaret in peccatoribus. Istam charitatem eius rumina, et videbis dulcissimam consolationem eius. Si enim nostris laboribus et afflictionibus ad conscientiae quietem pervenire oportet, ut quid ille mortuus est? Igitur non nisi in illo, per fiducialem desperationem tui et operum tuorum, pacem invenies; disces insuper ex ipso, ut, sicut ipse suscepit te et peccata tua fecit sua, et suam iustitiam fecit tuam.

Hier der Text als pdf.

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