Von der Zukunft Jesu Christi. Predigt über Lukas 18,1-8 (1886)
Von Christoph Blumhardt
Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, daß man allezeit beten und nicht laß werden sollte; und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Rette mich von meinem Widersacher! Und er wollte lange nicht. Darnach aber dachte er bei sich selbst: Ob ich mich schon vor Gott nicht fürchte, noch vor keinem Menschen scheue, dieweil aber mir diese Witwe so viel Muhe macht, will ich sie retten, auf daß sie nicht zuletzt komme und betäube mich. Da sprach der Herr: Höret hier, was der ungerechte Richter sagt! Sollte aber Gott nicht auch retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s mit ihnen verziehen? Ich sage euch: Er wird sie retten in einer Kürze. Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst Du, daß er auch werde Glauben finden auf Erden? (Lukas 18,1-8)
Von seiner Zukunft redet hier der Heiland. Ernste Worte hatte er vorher geredet, in denen er die Kämpfe und Leiden seiner Gemeinde schildert, welche sie unter einer ganzen widerstrebenden Welt und Zeit zu leiden hat. Im Blick auf diese schwere Zeit ist es dem Heiland wichtig, daß diejenigen, welche ihn kennen, allezeit beten und nicht laß werden. Aus dem ganzen Zusammenhang geht hervor, daß er das Gebet meint, mit welchem wir Gott bitten, daß er die letzte durchschlagende Hilfe seiner Gemeinde kommen lassen möchte. Wer den Heiland kennt und mit ihm lebt, wer an ihn glaubt und auf ihn hofft, der soll auch seine Erscheinung lieb haben, und zwar so, daß er nicht nur im allgemeinen in seinem Leben auf die Hilfe Gottes in dem Herrn Jesu sich verlaßt, sondern daß er im besonderen seinen Beruf erkennt, den Zusammenhang nicht fallen zu lassen, in welchen wir Christen alle zur Zukunft Jesu Christi gestellt sind. Denn das bleibt doch trotz alles Widerspruchs einer im Lauf der Zeiten matt gewordenen Christenheit das Vornehmste unserer neuen Stellung auf Erden in Christo, daß wir in den kommenden Heiland hineingestellt bleiben. Er ist gekommen, und sein Kreuzestod und seine Auferstehung bewirken eine Veränderung in uns und geben uns eine ganz neue Haltung; gereinigt von Sünden, ausgerüstet zu neuem Leben stehen wir da — man denke, was es heißt, in Gemeinschaft mit einem Auferstandenen leben zu dürfen! Wozu aber sind wir in diesem neuen Leben berufen? — daß wir selig werden und jetzt schon das ewige Leben haben? Dessen freuen wir uns auch, aber als solche, die ins ewige Leben gestellt sind, haben wir eine Aufgabe, und diese legt unö der Herr Jesus selbst, wie auch die Apostel, immer wieder ans Herz: Wir sollen warten und eilen auf die Zukunft unseres Herrn. Diese muß unser Verlangen sein; denn es soll der ganzen Welt geholfen werden. Mit unserem Christentum ist der Welt noch nicht geholfen; wir sind nur die Vorhut in der Welt als Kinder Gottes, welche in den Kampf gestellt sind und auf Erden unter allerlei Feindschaft vonseiten des Widersachers sich halten müssen, bis der Himmel aufgeht und die Herrlichkeit Gottes in Christo offenbar wird.
So tritt uns stets wieder die Frage nach der Zukunft Jesu Christi vor Augen, und wir müssen uns Rechenschaft geben, wie wir uns dazu stellen. Lassest du sie fallen der Tat nach, oder ist sie dir ein wesentliches Stück deines Lebens geworden, und nimmst du sie als Vollendung und Krönung deines Glaubenslebens wichtig? Es ist nicht leicht, die Zukunft Jesu Christi fest« zuhalten, und die Frage, welche der Heiland am Schluß dieser Geschichte aufwirft, könnte uns bange machen: „Wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, daß er auch werde Glauben finden auf Erden?“ Diese Worte deuten darauf hin, wie er selber Sorge hat, es möchte trotz seiner jetzigen Erscheinung und trotz der Predigt des Evangeliums doch der Glaube wenig zu finden sein, durch welchen wir im Zusammenhang bleiben mit der oberen Gemeinde im Himmel, wo die Zubereitungen getroffen werden auf die letzte vollendende Zeit hin, auf die Zeit der letzten Offenbarung Gottes auf Erden.
Schwer ist es, ihr Lieben, diesen Glauben festzuhalten, weil die Zeiten hart werden. Der Glaube hört dabei wohl nicht auf — es glauben viele, daß Gott ist, daß Christus ist; es ergeben sich auch viele im Glauben —, aber die Hoffnung, daß alles rasch verändert werden könnte durch die Erscheinung Jesu Christi, geben viele auf, und auch ihr Beten um solche Veränderung hört auf; sie werden laß, weil sie die Hoffnung auf die Zukunft Jesu Christi und die damit kommende Errettung nicht festzuhalten vermögen. Wir reden darum heute davon, wie schwer es ist, die Zukunft Jesu Christi festzuhalten.
Es ist schwer, weil wir Widersacherszeiten durchlaufen müssen. Solche Widersacherszeiten deutet der Heiland dadurch an, daß er seine Gemeinde als bedrängte Witwe darstellt, die kein Recht in der Stadt findet, weil ein Richter da ist, der weder Gott noch Menschen scheut. So ist die Witwe den Unbilden aller Leute ausgesetzt und um ihre Stellung, die ihr gebührt, gekommen. Damit ist die Gemeinde Jesu Christi abgebildet. Im Laufe der Zeiten hat sie ihren Schmuck verloren, wie jede Witwe um ihren Frauenschmuck gekommen ist, zunächst durch den Verlust ihres Mannes, infolgedessen sie sich zurückziehen muß in die stille Witwenschaft, sodann aber noch mehr durch die vielen Ungerechtigkeiten, welche man sich gegen sie erlaubt, und gegen welche sie als Frau nicht imstande ist, ihre Rechte geltend zu machen. So geht ihr allmählich alles verloren, was ihr doch eigentlich zukäme, und Seufzen ist ihr Teil.
Gerade so ergeht es der Gemeinde Jesu Christi. Nachdem der Heiland aufgefahren war gen Himmel, da lebte sie zwar noch eine Zeitlang offenkundig in der Freude und im Schmuck ihres Mannes Jesu Christi; denn durch die Erscheinung Gottes im heiligen Geiste war der Vater im Himmel und der Herr Jesus fast sichtbar da, — war es doch ein Gewöhnliches in den Apostelzeiten, daß der auferstandene Heiland durch seine Knechte mit der Gemeinde in einer Weise verkehrte, daß von einer Scheidung gar nicht die Rede sein konnte. Da hieß es in vollem und ganzem Sinn: „Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ Wäre es so fortgegangen, und wären die Zeiten nicht anders geworden, so wäre es leicht gewesen für diejenigen, welche ins Zentrum der Gemeinde Jesu Christi gehörten, auch an der Zukunft Jesu Christi festzuhalten. Denn das war der eigentliche Grund des Feuers der Hoffnung in den Seelen der ersten Christenheit, welches emporloderte der Erscheinung Gottes entgegen, daß sie den Heiland persönlich hatten, daß sie zum Teil mit ihm redeten — und er mit ihnen —, daß sie nach allen Seiten hin unmittelbar vom Himmel her gespeist wurden. Da wurde auf Erden in der Herrlichkeit Gottes eine Bahn geschaffen, welche auch die Herzen stärkte und gewiß machte: „Wir leben jetzt nicht mehr in dieser Welt, — unser Wandel ist im Himmel; wir sind gekommen zu den Scharen vieler tausend Engel, zu der Stadt Jerusalem unseres Gottes, die im Himmel ist, und wir warten nur auf die herrliche Erscheinung dieser unserer Heimat und freuen uns heute schon derselben; wir dulden und leiden und lassen uns durch alle Beschwerden des Lebens nicht anfechten.“
Aber diese Zeit ging vorüber, ihr Lieben, und wir können darüber nicht klagen, weil ja der Herr Jesus selbst, weil schon die Propheten des alten Bundes und auch wieder die Apostel uns daraus vorbereitet haben, daß diese Gründungszeit mit ihrer Freude schwinden werde. „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“, sagt der Heiland, und eben in diesen Lukaskapiteln sag« er: „Ihr werdet begehren zu sehen einen Tag des Menschensohnes, und werdet ihn nicht sehen.“ Auch sonst ist viel von greulichen Zeiten die Rede, von viel Wderchristen, von schreckliche» Zeiten in der Welt und Zeiten des Unglaubens innerhalb der christlichen Gemeinde. Wir haben also darüber nicht zu erschrecken, daß die erste Zeit der Frauenherrlichkeit der Gemeinde Christi wieder vorübergegangen ist, und daß die Zeit der Witwenschaft nun auch durchgemacht werden muß; es ist nicht unsere Sache, uns zu besinnen, warum das hat sein müssen, — wir sind nicht die Richter Gottes; wir werden schon noch darüber aufgeklärt werden. Immerhin können wir wenigstens das aussprechen, daß eben durch diese Witwenzeit der Gemeinde Jesu Christi der Kreuzestod des Herrn Jesu als Grundgesetz des Glaubenslebens seiner Nachfolger stehen bleibt, bis ganz neue Zeiten kommen und bis für die Kreatur die Auferstehungs- und Wiedergeburtszeit kommt.
Aber in diesen Witwenzeiten, da wird das Glauben sauer, und diejenigen, welche den Herrn Jesum kennen, die leiden unter der Gefahr, die Sache der Zukunft Jesu Christi gering zu nehmen gegenüber den Bemühungen, sich in diesen schweren Zeiten nur überhaupt christlich zu halten. Und davor will der Heiland warnen und stellt uns eine arme Witwe dar, die auch den ungerechte» Richter nicht fürchtet. Vornehme Leute haben vielleicht auf ihr Recht verzichtet, weil sie den Richter fürchteten, aber diese arme Witwe, die hört nicht auf, sondern schreit und fleht, bis sie zu ihrem Rechte kommt. Damit will der Heiland sagen: „Euer Recht ist meine Zukunft, das Eintreten des Richters der Lebendigen und der Toten in der Herrlichkeit Gottes, womit der Ungerechtigkeit in der Welt ein Ende gemacht wird, und die Gerechtigkeit Gottes, wie sie in Christus gekommen ist, aufgerichtet wird in aller Welt. Machet fort! und werdet nicht laß im Beten um dieses Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes, bis zum letzten Eingriff, der geschehen wird, wenn des Menschen Sohn kommt! Betet und werdet nicht laß, denn die Sache Gottes ist nicht verloren, wenn auch die Zeiten den Gedanken nahelegen, es sei das Kommen des Menschensohnes nicht mehr zu erwarten. Machet fort und bleibet dabei: der Herr Jesus kommt und mit ihm die Gnaden- und Lebensherrlichkeit für euch und alle Welt.“
Man kann in der Welt an nichts eigentlich fortmachen als an der Zukunft Jesu Christi. Zwar kann man auch fortmachen in christlichen Gedanken, christlichen Lehren und christlichen Einrichtungen, — allein, wenn ihr es näher betrachtet, so unterliegen diese alle — auch wenn sie noch so gut sind — dem Gesetze der Wandelbarkeit. Ihr müßt nicht so stolz sein auf eure Lehren und auf eure Einrichtungen! — sie sind Zeitprodukte, wohl gute, ja die besten die wir haben, aber rein aus der Zeit, in der sie eben entstehen und dienen, und deswegen nur für die Zeit und nicht für die Ewigkeit. Wir wollen damit niemandem wehe tun, aber wir wollen die Wahrheit sagen: In der ganzen christlichen Kirche ist nichts eingerichtet und nichts mit menschlichem Geist festgestellt worden, was nicht der Zeit unterworfen wäre und immer wieder einer Veränderung nach der Zeit bedurft hätte. Deswegen sage ich: Fortmachen kann man nur an der Erscheinung Jesu Christi, wie sie heute schon in die Herzen leuchtet zur Stärkung des Glaubens und der Geduld, und wie sie zuletzt sichtbar werden wird, wenn dann aufgerichtet wird das Reich unseres Gottes und seines Christus.
O, ihr Lieben, diesen Faden lassen überaus viele Christen fallen. Wie viel da fällt, sieht freilich fast niemand: wie viele Lebensfäden damit abgeschnitten werden zwischen der Gemeinde und dem oberen Heiligtum, das wollen sie nicht glauben, trotzdem die Zeiten der christlichen Kirche und Gemeinde schauerliche genannt werden müssen bezüglich der Dunkelheit, in welche selbst daS Glaubensleben derselben gekommen ist. Denn sobald wir die Erscheinung Jesu Christi fallen lassen und an dem nicht fort- machen, daß es in uns heißt: „Der Herr kommt!“, dann kommen andere Sachen genug, — dann jauchzt die Hölle, dann jauchz! die Welt, dann jauchzt auch deine Sünde, und ehe du dich’s versiehst, kommt mit dem elegantesten Schritt und in der höflichsten Form irgendeiner dieser Herren — Welt, Sünde, Teufel, Tod – , macht dir ein Kompliment und bietet dir etwas an, und so sehen wir eine Menge Menschen in lauter Zukunft der Welt, Zukunft der Sünde, ja Zukunft des Teufels leben.
Rede ich zu stark? Ich weiß, daß man mich darüber anficht, ich rede zu stark und übertreibe; wenn ich mich aber dann umgeben sehe von so vielen Finsternissen in vielen Menschen, die mir ihr Herz ausschütten, daß auch mein Herz zerrissen wird ob dem Abgrund der Sünde und des Todes, so muß ich dabei bleiben; denn es ist so: es kommen Dämonen, es kommt Sünde und Höllenpein, es kommen die gräßlichsten Verwicklungen mit der Welt, und statt der Zukunft Christi haben wir eine Zukunft Satans erlebt. Ich weiß wohl, daß die Zukunft Satans auch vorausgesagt ist, aber als eine Strafe; die Witwe aber, obwohl ihr Rock zerfetzt ist, obwohl ihre Güter geraubt sind — sie ist keine stolze Kirche mehr, sie ist eine in der Verborgenheit und Verachtung lebendende und seufzende Frau —, die erlebt die Zukunft Satans nicht; ihr Schrei um Hilfe, ihre Ausdauer in der Hoffnung auf die Zukunft Jesu Christi bewahren sie vor der Gefangenschaft in den Netzen des Widerchristen. Darum sage ich: Hoffet auf die Zukunft Jesu Christi und glaubet es: „Der Herr kommt!“ und betet: „Amen, ja komm, Herr Jesu!“, wenn ihr nicht in irgendeiner Form ein anderes Kommen erleben wollt! Seid lieber die ärmste Witwe, als daß ihr das preisgebet! Es ist schwer — ich sage es noch einmal —, als Witwe fortzumachen im Glauben, als alles Rechtes beraubt fortzumachen und daran festzuhalten : „Jesus kommt! und darum beuge ich mich nicht unter die gegenwärtige Zeit, unter die gegenwärtige Welt, unter die gegenwärtigen Satanskräfte, unter das gegenwärtige Elend, – – ich bleibe dabei, und wenn man mich zerfetzt und meinen Leib zerschindet, so weiche ich nicht vor diesem Widersacher; ich warte auf die Zukunft meines Heilandes, — der wird zur letzten Zeit mich erretten, daß ich nicht dem Feinde in die Hände falle“, — das ist schwer. Es ist auch deswegen schwer, weil es wirklich aussieht, als ob man mit lauter Ungerechtigkeit gespeist würde; es sieht aus, als ob kein Gott im Himmel wäre, so sauer werden die Zeiten: äußerlich geht alles ruhig seinen Gang fort, aber die Witwe scheint umsonst zu beten, — all ihr Schreien hilft nichts. Wie viele kommen in die rätselhaftesten Unglücksfälle, daß es möchte ihr Herz umdrehen, daß sie sagen: „Ist das auch recht? kann man da auch annehmen, es sei ein Gott im Himmel?“ Den Gottlosen geht’s glatt, und die arme Witwe sitzt im Elend! Halte ich mich ein wenig zurück und scheue mich vor Sünde, so werde ich verspottet, und andern, die nach dem allem nichts fragen, geht’s gut! Ja, da sieht es aus, als ob kein Gott im Himmel wäre.
Aber ich habe schon vielen gesagt, die im Jammer zu mir kamen und nicht mehr glauben konnten um dieser Zustände willen in der Welt: Lieber Freund, es ist wohl ein Gott im Himmel, aber auf Erden freilich, da ist der Widersacher; und solange der Widersacher da ist, kannst du kein Recht verlangen. Hat deswegen der Heiland nicht gesagt: „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden?“ — hat er nicht gesagt: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich — das heißt die größte Schmach und Ungerechtigkeit — und folge mir?“ Wer dem Herrn Jesu treu bleiben will, der muß Gott im Himmel wissen, auch wenn es noch so verkehrt hergeht auf Erden; der muß wissen: in der Welt herrscht der Widersacher. Und das macht es eben der Gemeinde so schwer, an der Zukunft festzuhalten, daß sie das nicht zugeben möchte, daß nicht Gott, sondern der Widersacher in der Welt regiert, und daß wir dieses Herrschen des Widersachers durchmachen müssen, — nicht lahm, nicht faul, nicht bequem, sondern mit dem Schrei: „Rette uns von dem Widersacher!“ — mit dem Appell an den lebendigen Gott und mit dem Hinweis: „Das, was in der Welt ist, ist nicht Gott, das ist der Widersacher! — was Gott ist, trage ich in meiner Brust in der Zukunft Jesu Christi — das ist Gott — glaubet es oder glaubet es nicht! ich bleibe dabei, und wenn ich die allerelendeste Witwe würde —, das ist Gott, und wenn das kommt, wird alle Kreatur wissen, was Gott ist und wer Gott ist, — heute läßt sich das noch nicht herausbringen.“
Wollt ihr, Geliebte in dem Herrn, diese triumphierende Stellung in den Trübsalen der Welt einnehmen, dann: wohl euch! Ihr müßt wohl laufen und viel laufen — vielleicht auch vergeblich laufen — in den Himmel vor den Thron Gottes, aber: wohl euch, die ihr glaubet! — dann habet ihr den Glauben, der selig macht, der nicht bloß augenblicklich erleuchtet betreffs des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu Christi, sondern der euch auch auf der Linie der Errettung vorwärts führt, bis ihr die letzte Errettung durch die Zukunft Jesu Christi erlebet und die Krone des Lebens empfanget.
Aber schwer ist es, weil neben der Widersacherszeit auch eine Unglaubenszeit in der Gemeinde Jesu Christi selbst herlauft. Es ist merkwürdig, wie bis in die innersten Kreise hinein die Stadt unseres Gottes auf Erden so gar sehr vom Unglauben geplagt wird. Hier im Gleichnis ist eine ganze Stadt genannt; die Stadt ist die Christenheit, aber die ganze Stadt regt sich nicht gegen den ungerechten Richter; sie hofft auf keine Errettung, sie läßt alles gehen — auch was Verkehrtes geschieht —, und nur die eine Witwe schreit. Es ist ja offenkundig, wie viel Gleichgültigkeit gerade in die Christenheit hineindringt, und das Peinlichste dabei ist, daß in den Christentumsformen, die der Wahrheit am nächsten kommen, der krasseste Unglaube sich ausspricht. Können wir uns beklagen als evangelische Kirche, Gott habe uns nicht genug Licht gegeben? Was hat nicht ein Luther, was hat nicht die Reformation Licht hinausgeworfen im Evangelium und Freiheit zum göttlichen Leben, weil Gottes Geist sich regte und wieder Raum schaffte für eine Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, nachdem vorher die ganze Christenheit mit samt ihrem Glauben ganz von der Welt abhängig geworden war. Und doch, was müssen wir heute sagen? was wirft man uns vonseiten der anderen Kirchen vor? wie flucht man uns? Man sagt uns: „Ihr, ihr seid an allem Elend schuld; denn ihr werfet die Gottlosigkeit und die Ungebundenheit in alle Welt, so daß man selbst unter den fremdesten Heiden von eurem Unglauben redet und die Gläubigen verspottet.“
Das macht es schwer, ihr Lieben, — da sieht es fast aus, als ob es immer schwerer und verwirrter würde, je mehr man der Zukunft Jesu Christi entgegendringt; denn das ist dann wieder wahr: Je mehr man freien Geistes der Zukunft Jesu Christi entgegendringt, desto weniger kann man äußere Fesseln brauchen, — wir können keine Formeln und Menschensatzungen brauchen. Der Leib Jesu Christi, der mit der Zukunft Jesu Christi zusammenhängt, der braucht Beweglichkeit, der muß heute so und morgen anders sich bewegen; da kann man keinen Pharisäismus brauchen; da muß immer wieder Leben her und Freude des Lebens und Kraft des Lebens und immer wieder Freiheit des Lebens. So wird alles gleichsam wieder losgelassen: wie wir als Christenmenschen in die Freiheit gestellt werden durch den Geist Gottes und für uns Freiheit in Anspruch nehmen, so nimmt auf der anderen Seite die Welt für sich ihre Freiheit in Anspruch. Allein, fürchten wir uns nicht: der Herr sitzt im Regiment, und wenn wir Glauben haben und aufschauen zu den Bergen, von denen uns Hilfe kommt, so wird geholfen. Ja, ihr Lieben, wir helfen uns nicht damit, daß wir wieder Satzungen aufstellen, um die wilde Welt des Unglaubens im Zaume zu halten, — glaube an die Zukunft Jesu Christi! Die Hilfe, welche wir aussinnen können, reicht nicht weit, — die Hilfe aber, welche der Glaube an den kommenden Heiland hat, reicht über die ganze Welt und bannt zuletzt auch die widerwärtigsten Geister unter die Herrschaft Jesu Christi, daß sie es erkennen müssen, daß er allein der Herr ist zur Ehre Gottes des Vaters, — ja, daß auch viele von den widerwärtigsten Geistern sich beugen lernen zu ihrer Seligkeit. So müssen wir fest stehen, und nicht nur über den Unglauben jammern, sondern uns herumdrehen und ins Licht schauen und sagen: „Auch wenn ich allein bleibe als einer, der glaubt in der Welt, und in den äußersten Winkel gedrückt werde — es ist doch aller Unglaube und alles Verkehrte in der Welt nichts gegen mich, wenn ich in der Zukunft Jesu Christi stehe. Mit ihr will ich stärker sein als die ganze Welt mit all ihrem Unglauben, ihrer Sünde und Teufelei!“ Wer aber wagt es? wer hat Vertrauen, daß Jesus kommt und die Sachen richte?
Ihr sehet, es ist schwer, die Hoffnung auf die Zukunft Jesu Christi festzuhalten, und es sieht oft fast so aus, als wenn man ein reiner Narr wäre, wenn man im Glauben die Welt laufen läßt, wenn man nicht auch eifert gegen diese in die Gemeinde eindringenden Schäden, sondern sich nur an den Richter wendet. Und doch, wie viel Hilfe erlebt der reine Glaube schon jetzt, daran wir den kommenden Heiland merken. Wie viel gelingt auch dem Glauben für die jetzigen Zeiten, daß doch auch in sichtbarer Weise Bollwerke sich aufrichten wider den Widersacher. Darum, ihr Lieben, fürchtet euch nicht! waget es — wenn ihr anders Hoffnung habet auf das Kommen des Herrn Jesu — waget es, den Unglauben nicht zu fürchten! Wer ist Herr? wer ist Sieger? wer regiert? Mußt du es ausrichten? mußt du es zurechtbringen? Es ist einzig der Herr! — er tritt die Kelter allein! Er heißt Siegesfürst und Ehrenkönig, — außer ihm hat kein Mensch Ruhm. Wenn du an seiner Seite bist — und wenn du noch so klein zusammenschrumpfen müßtest, du Gemeinde Jesu Christi, und alles hingeben müßtest, daß du dich wie eine Witwe berauben lässest — und bleibst treu in dem Rufe: „Herr, rette mich! — nun kommt neben dem Widersacher auch noch der Unglaube in meine eigenen Glieder! Herr, errette mich von meinem Widersacher!“ — und wenn du immer wieder die Zukunft in die Nähe hineinrücken kannst, und wenn du dann zu dem Glauben kommst zu sagen: „Herr, unser Gott, die Zeit muß sich erfüllen! jetzt muß der kommen, der verheißen ist! es ist Zeit, daß du dich Zions erbarmest!“ so wirst du sicherlich im Unglauben nicht untergeben. Du wirst erleben, daß Gott lebt, daß Christus ist und daß Christus kommt, und wirft es vielleicht erleben zu deinen Lebzeiten, daß der Himmel aufgeht.
Aber freilich — noch einmal wiederhole ich es — : schwer ist es, denn der Unglaube steckt nicht nur in den sogenannten Ungläubigen, sondern auch in dir. Frage dich einmal, wie leicht du mißmutig und ungeduldig wirst, wenn du warten mußt, — wie leicht du mürrisch wirst, wie leicht du dich anbequemst an alle möglichen Dinge der Welt, um — wie du sagst — für dein Seelchen zu sorgen. Da ist in unsere eigene Herzenskammer etwas eingedrungen vom Unglauben, und das ist der allerschlimmste Feind. Es ist mir schon oft aufgefallen, daß die Christenheit im ganzen das herrlichste Stück der Predigt am gleichgültigsten behandelt. Ich habe es selbst schon erfahren, daß man mit wahrem Ärger mir entgegengetreten ist: „Der kommt immer mit der Zukunft Christi!“ — als ob das das Allerhäßlichste wäre, was man sagen könnte! Warum denn diese Rede, ihr Lieben? Da steckt etwas in den Kammern der Herzen. O, das ist schwer, — ja, da ist etwas Schwarzes hineingedrungen. Das weiß ich wohl, wenn ich einen solchen reden höre: das sagt der arme Mensch nicht aus sich selbst; das sagt ein anderer in ihm. Solange wir nicht in den Kräften der Zukunft Christi stehen, da hat alles Freiheit; da können sich die Leute lustig machen, — da kann man uns an der Nase nehmen und herumziehen, wohin man will, — da kann man in den Streitigkeiten der Welt auch die Christen zu allem bringen — überall laufen sie hin; sie lassen sich überall die Schlingen um den Hals ziehen, — da kann man auch die Christenheit zu allem brauchen, und sie gibt sich zu allem her; solange die Zukunft Christi in der Ferne ist, ist es erlaubt, alles zu treiben. Deswegen will man nichts von ihr wissen; denn wer es glaubt, der bekommt eine total andere Haltung in der Welt: die Verleugnung fangt an; man ist in der Welt, aber nicht von der Welt; dann verbieten sich gewisse Dinge, welche sonst für gleichgültig gelten, — man muß gleichsam immer in Montur bleiben, immer bereit zu präsentieren vor dem Herrn. Das ist höchst unbequem in den Geschäften, in den Gesellschaften, in deinen Arbeiten — überall ist es unbequem, wenn ich immer die Haltung: „Präsentiert das Gewehr!“ in meinem Herzen haben soll, weil der Herr kommt. Aber saget mir, meine Lieben, wie sollen wir denn in Ordnung bleiben, wenn das nicht in uns lebt? Wie bleibt denn der Soldat in Ordnung? — dadurch, daß der General in der Stube sitzt und seine Zigarre raucht? Wie bleiben die Knechte bei den Bauern in Ordnung? — dadurch, daß der Herr nicht bei der Hand ist? oder nicht vielmehr dadurch, daß er plötzlich und immer im rechten Augenblick eintritt? Und wir Christen, wodurch bleiben wir in Ordnung? O, ihr Lieben, wir sind die unordentlichsten Leute! Furcht sollte man uns einflößen vom Himmel her: „Der Herr kommt! präsentiert das Gewehr!“ Meinet ihr denn, man dürfe da auch noch treiben und schwatzen was man will? Wer ist der Herr? Nicht der Soldat— der General ist es! Aber man glaubt nicht mehr, horcht nicht mehr, folgt nicht mehr, und dann sind wir die Losgelassenen, die alles machen, wie sie wollen. Das macht es schwer, Witwe zu sein und zu rufen: „Rette uns von unserm Widersacher!“
Und noch einmal schwerer wird es, ihr Lieben, weil eben dadurch die Rettung im Tag Jesu Christi sich verbirgt. Die ganz gewöhnliche Rede kommt auf: „Die Apostel haben sich schon getäuscht, und alle die, die so auf die Zukunft Jesu Christi gewartet haben, die haben sich getäuscht!“ Es ist wahr, es sieht so auö. Doch ich will mich gern täuschen wie die Apostel. Wenn ihr heute die Leute alle sehen würdet, die im Lauf der Zeit unter Schmach und Verfolgung gehofft und gesagt haben: „Der Herr kommt! eilet aus seine Zukunft!“, dann würdet ihr nicht mehr sagen: „Sie haben sich getäuscht.“ Ja, sie sind die einzigen, die unter den eigentlichen Scharen Jesu Christi stehen, — sie sind’s, die an der Spitze gehen, wenn er kommt. Das sind die Kämpfer. Stirb einstweilen! — das hat für einen Apostel Paulus nicht so viel zu bedeuten — für dich freilich wohl, wenn du nicht glaubst! — „Lebe ich, so lebe ich dem Herrn; sterbe ich, so sterbe ich dem Herrn“, sagt Paulus, aber meinst du, das könnest du geschwind von dir sagen, während du alles laufen lässest und in den Sachen Gottes gar nicht eifrig bist? Dies Wort gründet sich hauptsächlich auf die Erwartung der Zukunft Jesu Christi: deswegen kann ich sterben oder leben, weil ich einen Herrn weiß, der auch in den Tod hinein die Auferstehung bringt. Also, ihr Lieben, sie sind nicht getäuscht! Aber es sieht freilich so aus, als ob man sich getäuscht hätte. Auch in unsrer Zeit meinen die Leute immer, unsereiner wäre ein Schwärmer. O die Narren! — ich möchte ihnen allen sagen, wer ein Schwärmer ist: die, die ein Weltchristentum predigen und die Leute zur Langeweile anhalten, oder die, die Ernst machen mit dem Wort Gottes!— wer geht da in die Schwärmerei hinein? Man nehme sich doch in acht mit solchen Vorwürfen gegen redliche Christen, daß man sich nicht versündige, während man selbst keinen Glauben hat und meint, weil der Tag Christi fern sei, komme er nicht. Aber was hat der Heiland gesagt von den Zeiten Noäh? „Sie aßen, sie tranken, sie freiten und ließen sich freien“ — niemand dachte daran, und plötzlich ist der Tag da! So wird es werden. Täuschung ist doch eigentlich nur da zu finden, wo man sich der Eitelkeit der Welt hingibt. Gegen den Herrn Jesum und die Apostel waren die Pharisäer und Schriftgelehrten die Getäuschten, — wollen wir uns vor Täuschung bewahren, so haben wir uns nur immer zu hüten vor menschlichem Treiben. Wer auf die Sache Gottes hofft mit lauterem Sinn und nicht sich, sondern den Heiland sucht, wird nimmermehr ein Schwärmer. Bleiben wir deswegen dabei: „Der Herr kommt!“ und wenn auch alles sich in die Meinung verflechten sollte, der Tag Jesu Christi sei fern und komme ewiglich nicht.
Darum, ihr Lieben, fürchtet euch doch nicht, daß der Tag verzieht! lasset euch das Verziehen des Tages einerseits zum Warten dienen und andererseits zu um so dringlicherem Eilen! und schreiet zu dreien Malen: „Herr, errette uns von unserem Widersacher! Rette uns! — die Welt will uns nicht loskommen lassen. Rette uns! — unser eigener Unglaube will uns verzehren. Rette uns! — du selbst scheinst zu schweigen. O Jesu, wie lange willst du schweigen? Meinst du, wenn du schweigest, wir werden dich vergessen? Wahrlich, nein! Du hast so tief in die Erde geschrieben mit deinem Blut, du bist mit solch festem Tritt aufgetreten auf unsere verfluchte, in Ungerechtigkeit verstrickte Erde, daß wir dich auch nach Jahrtausenden nicht vergessen, und daß, wenn Jahrtausende vorüber sind, wir als deine Gemeinde dastehen und nur um so lauter schreien: Rette uns! Niemand soll uns das wehren, weder im Himmel, noch auf Erden, noch in der Hölle, — wir stehen und flehen und schreien und haben die Verheißung: „Er wird uns erretten in einer Kürze!“
So, ihr Lieben, wollen wir Advent feiern. O daß ihr alle es verstündet, mitzurufen, die Welt nicht zu achten und nicht zu fürchten, sondern zu antworten: „Dennoch bleibe ich an der Zukunft Jesu Christi, meines Heilandes, — dazu stehe ich im Leben, Leiden und Sterben!“ Und der Herr ist treu, — er rettet seine Auserwählten!
Gehalten am 7. November 1886.
Quelle: Christoph Blumhardt, Predigten und Andachten aus den Jahren 1880 bis 1888, Eine Auswahl aus seinen Predigten, Andachten und Schriften, Bd. 1, hrsg. v. R. Lejeune, Erlenbach-Zürich und Leipzig: Rotapfel-Verlag, 1937, S. 314-328.