Gottesgeschichten und Menschengeschichten
Von Albrecht Grözinger
Ich möchte an den Anfang meiner Überlegungen, die ich Ihnen heute vortragen möchte, Worte aus dem biblischen Buch des Predigers Salomo stellen:
„Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit…“
(Kapitel 3,1-4)
Es ist ein großer Bogen den der Prediger hier über unser menschliches Leben spannt. Ein Leben in Spannung gewissermaßen. Und deshalb zeigt uns dieses Leben immer ein doppeltes Gesicht: Lebensgeschichte ist Geschenk und Aufgabe zugleich. Auch dies hat der Prediger Salomo bereits genau gesehen und in seiner Sprache ausgedrückt. Auf der einen Seite stellt er fest: „Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.“ (3,11). Und zu gleicher Zeit muss er feststellen: „Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.“ (3,10). Lebensgeschichte, und vor allem erfüllte, das heißt als sinnvoll erfahrene Lebensgeschichte, ist alles andere als selbstverständlich. Gott habe – so wiederum der Prediger Salomo – „die Ewigkeit in der Menschen Herz gelegt“, und doch könne der Mensch „nicht ergründen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende“ (3,11).
I.
Von Ernst Lange, einem protestantischen Theologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stammt ein vielzitierter Satz: „Die Menschen gehen daran zugrunde, dass sie Ende und Anfang nicht zu verknüpfen verstehen.“[1] Lebensgeschichte – so legt es der Satz von Ernst Lange nahe – bewegt sich in der Zeit. Noch zugespitzter könnte man auch sagen: Lebensgeschichte – das ist Zeit.
„Die Menschen gehen daran zugrunde, dass sie Ende und Anfang nicht zu verknüpfen verstehen“ – Ist das die Grundmelodie unseres Lebens, vom Prediger Salomo bis hin zu Ernst Lange und in unsere Tage hinein? Ist das Leben nichts anderes als das Risiko, vor dem wir nur versagen können? Ist das, was wir Freiheit nennen, nur die helle Oberfläche eines ansonsten dunklen Meers von Zwängen und Zufälligkeiten unseres Lebens? Fragen, die die Menschheit von Anfang an bis auf den heutigen Tag begleitet haben. Fragen, die in der Philosophie und Theologie ebenso beheimatet sind, wie in der Kunst und Literatur bis in die Kinowelt unserer Tage hinein.
Warum ist dies so? Ganz offensichtlich können und wollen wir Menschen nicht nur einfach leben. So wie ein Tier sein Leben einfach lebt. Ein Tier lebt aus seinen Instinkten und Triebbedürfnissen heraus. Das ist kein geringes Leben. Ein Leben, das Recht hat auf unseren Respekt und Schutz, wie uns heute immer mehr zu Bewusstsein kommt. Aber das menschliche Lebens geht in einem solchen Leben nicht auf. Wir Menschen wollen und sollen leben, aber zu diesem Leben gehört ein spezifisches Mehr dazu. Worin besteht dieses spezifische Mehr? Wir Menschen wollen begreifen, was das ist – unser Leben. Wir wollen es deuten. Der große Philosoph Immanuel Kant hat dieses menschliche Bedürfnis nach Lebensdeutung in seine vier berühmten großen Fragen zusammengefasst: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Wer so nach dem menschlichen Leben fragt, der stellt es in einen weiten Sinnhorizont. Deshalb sprechen wir ja auch von der Lebensgeschichte. Lebensgeschichte – das meint immer auch: gedeutetes, interpretiertes Leben. Erst ein solches gedeutetes, interpretiertes Leben wird zu meinem eigenen, unverwechselbaren Leben.
Was heißt dies aber: Leben deuten, interpretieren? Wie geschieht das? Wir Menschen deuten unser Leben, indem wir es in Beziehung setzen. Gedeutetes Leben ist Leben in Beziehung. Leben in Beziehung zu anderen Menschen, Leben in Beziehung zu der Vergangenheit, aus der wir herkommen, und Leben in Beziehung zu der Zukunft, die wir uns erträumen und erwünschen oder die wir auch fürchten. Und nicht zuletzt Leben in Beziehung zu mir selbst – vielleicht die schwierigste Beziehung, die uns in unserem Leben aufgetragen ist: unser Verhältnis zu uns selbst.
Solches gedeutete Leben, solches Leben in Beziehung braucht Symbole, Geschichten und Rituale mittels derer wir den Beziehungsreichtum, oder auch die Beziehungsarmut, auf jeden Fall aber die Beziehungssehnsucht unseres Lebens begreifen, ausdrücken und darstellen können. Der Philosoph Wilhelm Schapp hat einmal sehr schönt gesagt: Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Vielleicht müssten wir diesen Satz noch ausweiten: Wir Menschen sind immer in Geschichten, Symbole und Rituale verstrickt. Nur so wird menschliches Leben deutbar, nur so wird das gelebte Leben zu unserem Leben. Nur so gibt es das überhaupt – Lebensgeschichte.
Deshalb treffen wir auch in der gesamten Menschheitsgeschichte auf solche Symbole, Geschichten und Rituale, die vom menschlichen Leben erzählen. Als vor Tausenden von Jahren die Menschen in den Höhlen von Lascaux ihre Jagderlebnisse an die Höhlenwände malten, da malten sie in diese Bilder ihre Ängste und Sehnsüchte, die Gefahren und die Glücksmomente ihres Lebens mit hinein. Das spüren wir ganz unmittelbar, wenn wir vor diesen Bildern stehen. Dies sind nicht einfach Bilder von Tieren und der Jagd, dies sind Bilder vom Leben, elementare Lebensbilder. Die Bilder von Lascaux stehen ganz am Anfang der großen alteuropäischen Erzählung vom Menschen.
Und das verbindet uns mit diesen Menschen, die vor tausenden von Jahren gelebt haben. Wenn wir jemand begegnen, der uns fragt: Wie geht es Dir? – dann reagieren wir in der Regel (wenn es nicht bei einer kurzen Floskel bleibt) auf die Art und Weise, dass wir beginnen zu erzählen: Das uns das habe ich erlebt, dies und das hat mich gefreut, jenes hat mich traurig gemacht. Und oft beziehen wir uns dann auch auf Geschichten, die andere vor uns erzählt haben.
II.
Und hier kommt den Geschichten, die im Zusammenhang von Religion überliefert werden eine besondere Bedeutung zu. Ich habe zugleich davon gesprochen, dass Lebensgeschichte immer heißt, das Leben als Leben in Beziehungen zu entdecken. Die Religion bringt nun eine Lebensbeziehung ins Spiel, die das menschliche Leben aus sich selbst heraus nicht freisetzen kann. Religion bringt das menschliche Leben in seiner Beziehung zu Gott ins Spiel. Insofern ist das menschliche Leben dort beziehungsreicher, wo die religiöse Dimension mit ins Spiel kommt. Ich möchte an dieser Stelle nicht missverstanden werden. Wenn ich sage, dass die Religion das menschliche Leben beziehungsreicher macht, dann meine ich damit nicht, dass die Menschen die Religion brauchen. Menschen können heute ihr Leben beziehungsreich gestalten, ohne dass Gott in ihrem Leben eine Rolle spielt. Und solche Leben ohne Gott können durchaus sinnreiche Leben sein. Das gehört zur Vielfalt unserer heutigen Lebenslagen. Aber gerade vor dieser Feststellung möchte ich doch daran festhalten, dass Religion die Menschheitsgeschichte beziehungsreicher macht, in dem sie Gott ins Spiel bringt, auch wenn sich heute nicht mehr alle Menschen und viele Menschen nicht mehr ohne Weiteres auf die religiöse Dimension einlassen.
Allerdings ist mit dem Satz „Religion macht das Leben beziehungsreicher“ nicht Alles gesagt. Allen Religionen ist gemeinsam, dass sie die Dimension eines „Göttlichen“ oder eines „Heiligen“ ins Spiel bringen. Religionen unterscheiden sich aber wesentlich dadurch, wie sie dieses „Göttliche“ oder „Heilige“ mit den menschlichen Lebensgeschichten in Beziehung bringen. Sie unterscheiden sich also dadurch, auf welche Weise sie das menschliche Leben beziehungsreich gestalten. Ich möchte diesen mir gewichtig erscheinenden Unterschied in der Weise deutlich machen, dass ich zunächst kurz auf die Religionen der antiken Welt blicke, dann einen ebenso kurzen Blick auf den Islam werfe und schließlich mich der jüdisch-christlichen Tradition zuwende.
Die Mythen des alten Griechenlands und des alten Ägypten erzählen in erster Linie von den Göttern. Der Mythos erzählt von den Menschen nur, insoweit sie in den Abenteuern der Götter vorkommen. Einer der Ur-Orte des altgriechischen Götterkosmos ist der Olymp, der bevölkert war von einer beinahe unüberschaubaren Anzahl von Göttern und Göttinnen. Die Mythen erzählen, wie die Götter und Göttinnen sich liebten und hassten, wie sie sich zankten und versöhnten, wie sie sich mit Geschenken überhäuften und Intrigen gegeneinander spannen. Dieser Olymp war ein brodelnder Kessel der Leidenschaften. Dabei geraten die Menschen aber meist nur als die geliebten und gehassten, die gehätschelten oder genarrten Objekte der Götter in den Blick. Der Olymp ist heute leer, seine Götter und Göttinnen sind aus ihm ausgezogen, irgendwann im Übergang von der Antike ins frühe Mittelalter sind sie verstorben.
Ganz anders ist dies beim Islam, der ja in den letzten Jahrzehnten aus den verschiedensten Gründen eine so selten vorausgesehene und auch kaum vorauszusehende Renaissance erlebt. Der Islam ist eine lebendige und boomende Religion. Offensichtlich spüren viele Menschen, wie der Islam ihr Leben beziehungsreich macht. Wie geschieht dies im Islam? Blicken wir auf die Eröffnungs-Sure des Koran, die wir durchaus als eine exemplarische Miniatur islamischer Theologie ansprechen können und die deshalb auch in der Glaubenspraxis der Muslime eine so große Rolle spielt. Die Sure 1 lautet:
„Im Namen Gottes, der allbarmherzigen Erbarmers.
Gelobt sei Gott, der Herr der Welten!
Der Allbarmherzige, der Erbarmer,
Der König des Gerichtstags.
Die dienen wir, dich rufen wir um Hilfe an.
Führ uns den Weg den graden!
Den Weg derjenigen, über die du gnadest,
Deren auf die nicht wird gezürnt,
und deren die nicht irregehen.“
Allah ist hier gesehen als der Weltenherrscher, der in erhabener Distanz zu den Menschen wohnt. Auf zwei Weisen ist Allah den Menschen zugewandt. Im Erbarmen und in der ethischen Weisung. Insofern weist der Koran durchaus Parallelen zu den Vorstellungen auf, die uns im Alten und Neuen Testament begegnen. Und der Islam ist für viele Menschen heute deshalb so attraktiv, weil er so konsequent vom erhabenen Gott und seiner eindeutigen ethischen Weisung spricht. In dieser Eindeutigkeit scheint offensichtlich so etwas wie Orientierung in der unüberschaubaren Vielfalt der postmodernen Sinnhorizonte auf. Im Koran fehlen allerdings solche Passagen weitgehend, die davon erzählen, dass sich Gott auf eine sehr nahe, sinnliche, beinahe intime Weise den Menschen zuwendet. Es fällt einem schon oberflächlichen Leser, einer oberflächlichen Leserin auf, dass der Koran kaum narrative Passagen, Geschichten also, erzählt. Die Erhabenheit Allahs und die Eindeutigkeit seiner ethischen Weisung im Koran steht einem solchen Erzählen offensichtlich im Wege.
Ganz anders ist dies bekanntlich in der Bibel. Die Bibel ist ein Erzähl-Buch, ein Geschichten-Buch par excellence. Allerdings enthält die Bibel nur ganz wenige Mythen im eigentlichen Sinne. In Genesis 6, wo erzählt wird, dass merkwürdige Gottessöhne sich mit den schönen Frauen Israels einließen, haben sich Reste einer solchen Göttergeschichte erhalten. Aber solche Geschichten finden wir nur vereinzelt in der Bibel.
Vom biblischen Gott kann man offensichtlich nicht so erzählen, wie man von Zeus oder von Osiris erzählen kann. Ist Gott damit geschichtenlos? Mitnichten! Doch seine Geschichten müssen anders erzählt werden. Wer von Gott erzählen will, kommt nicht umhin, von den Menschen zu erzählen. Warum ist dies so? Weil Gott ein Gott ist, der sich auf die Menschen einlässt, und zwar nicht um seinetwillen, sondern um der Menschen will. Gott will nicht ohne die Geschichten der Menschen sein. Weil aber die Geschichten der Menschen vielfältig sind, kann von Gott auch nur auf vielfältige Weise erzählt werden. Der eine Gott und die vielen Menschen: das ist der Grund der Vielfalt der biblischen Geschichten. Die Vielfalt der Göttergeschichten des antiken Griechenlands und des alten Ägyptens resultiert aus der Vielfalt der Götterwelt selbst. Die Vielfalt der biblischen Geschichten resultiert aus der Vielfalt der Erfahrungen, die die Menschen mit dem einen Gott gemacht haben. Die mythischen Geschichten sind exklusiv theo-logisch. Die biblischen Geschichten sind theo-logisch und anthropo-logisch zugleich.
Gottes-Geschichte und Menschen-Geschichten sind in der Bibel oft bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt. Was ja nicht selten gerade von der islamischen Theologie sowohl dem Judentum wie dem Christentum zum Vorwurf gemacht wird, dass nämlich die Göttlichkeit Gottes nicht gewahrt bleibe und Gott viel zu sehr mit den Menschengeschichten vermengt werde. Und in gewisser Weise kann man diesem Vorwurf auch nicht widersprechen, weil ihm von der Warte islamischer Theologie aus durchaus eine gewisse Plausibilität innewohnt. Auf der anderen Weise charakterisiert diese Kritik auch das Spezifische der menschlichen Gotteserfahrung, wie sie in der Bibel aufscheint. Gott macht in der Tat das menschliche Leben beziehungsreich, indem er sich auf die individuelle Lebensgeschichte von uns Menschen einlässt. In geradezu drastischer Sprache erzählt die Bibel davon: Wie Gott mit Jakob am Jabbok-Fluss einen nächtlichen Ringkampf durchführt, wie er in Gestalt der drei Boten die alte Sara zum Lachen bringt, wie er durch einen Engel der Maria in die Wohnstube tritt und den Gruß ausspricht: Gegrüßet seist du, liebe Maria – wie es Martin Luther am liebsten übersetzt hätte.
Diese direkte Sprache steht uns heute wohl nicht mehr zur Verfügung. Aber die Erfahrungen gehen weiter. Denn die biblischen Geschichten sind so erzählt, dass wir an ihnen und mit ihnen unser Leben erzählen können. Ich möchte dies an einem Beispiel zeigen. Im 5. Buch Mose, Kapitel 26 ist ein altes israelitisches Bekenntnis überliefert. Dieses Bekenntnis lautet:
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater; er zog hinab mit wenig Leuten nach Ägypten, blieb dort als Fremdling und wurde dort zu einem großen, starken und zahlreichen Volk. Aber die Ägypter legten uns harte Arbeit auf. Das schrien wir zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und Gott erhörte uns und sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrückung. Und Gott führte uns heraus aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, unter großen Schrecknissen, unter Zeichen und Wundern, und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, das von Milch und Honig fließt.“ (Verse 5-9)
Für die sprachliche Struktur dieses Textes ist der Wechsel vom Ich zum Wir und wiederum hin zum Ich charakteristisch. Individuelle Lebensgeschichte erwächst hier aus der kollektiven Lebensgeschichte eines Volkes mit seinem Gott. Israel gewinnt in und mit diesem Bekenntnis seine Identität, indem es sich an die Geschichte Gottes mit ihm erinnert. Gegenwart und Vergangenheit sind hier aufs engste miteinander verknüpft. In dem sich jährlich wiederholenden Ritus der Darbringung der Erstlingsfrüchte versprachlicht Israel erzählend seine Abkunft. Geschichte wird auf diese Weise wiederholbar, ohne dabei ihre Einmaligkeit zu verlieren. Israel versichert sich seiner selbst nicht in der Rezitation eines Mythos, sondern im Erzählen einer konkreten Geschichte. Im Vorgang dieses erinnernden Erzählens versteht Israel sich selbst, erst so gewinnt es eine Identität – und zwar kollektiv wie individuell.
Zugleich ist dieses Bekenntnis so geschrieben, dass daran weitererzählt werden kann – bis auf den heutigen Tag. Ein eindrückliches Beispiel einer solchen Weiter-Erzählung hat der israelische Staatspräsident Ezer Weizmann 1996 während eines Staatsbesuches in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag formuliert. Worte, die auf eine ungemein direkte Art und Weise an das alte Bekenntnis anknüpfen. Weizmann sagte:
„Ich war ein Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berge Sinai, und zusammen mit Josua und Elija überschritt ich den Jordan. Mit König David zog ich in Jerusalem ein, und mit Zedekia wurde ich von dort ins Exil geführt… Ich habe meine Familie in Kischinev verloren und bin in Treblinka verbrannt worden. Ich habe im Warschauer Aufstand gekämpft und bin nach Erez Israel gegangen, in mein Land, aus dem ich ins Exil geführt worden war, in dem ich geboren wurde, aus dem ich komme und in das ich zurückkehren werde.“[2]
Das Beispiel der Rede von Ezer Weizmann zeigt, dass die biblischen Geschichten zu immer neuer Einkehr einladen. Diese Einkehr ihrerseits vollzieht sich stets auf plurale Weise. Ezer Weizmann kehrt auf andere Weise in die alten Geschichten ein, als dies ein Christ in Kuba oder eine Christin in Süd-Afrika tun. Die eine Gottesgeschichte erzeugt die Vielfalt der Menschengeschichten. Und deshalb können diese biblischen Gottesgeschichten eine Hilfe für uns sein, die wir durch den Dschungel der Vielfalt möglicher Sinn- und Deutungsangebote ziehen.
Denn diese biblischen Gottes- und Menschengeschichten sind parteiische Geschichten. Sie ergreifen Partei für uns Menschen. Sie treten ein für das gefährdete Leben. Sie treten ein für das Recht jeder einzelnen, individuellen menschlichen Lebensgeschichte. Deshalb ist es kein Zufall, dass im Umfeld dieser biblischen Gottes- und Menschengeschichten die menschliche Lebensgeschichte immer wieder auf überraschend neue Art und Weise thematisch wurde.
Ich möchte kurz abschließend an eine Art und Weise des Erzählens erinnern, wie sie für die Verkündigung Jesus von Nazareth von besonderer Bedeutung sind – nämlich seine Gleichnisse. Die Gleichnisse Jesu erzählen vom Alltag – zweifelsohne. Zum Alltag gehört, dass es zwischen Vater und Sohn immer wieder zu Konflikten kommt. Zum Alltag gehört, dass es im Bereich der Ökonomie von Betrügern nur so wimmelt. Zum Alltag gehört, dass Einladungen mit allerlei Ausreden ausgeschlagen werden; etc. All das gehört zum Alltag, und all das liefert den Stoff für die Gleichnisse Jesu. Die Gleichnisse Jesu sind Geschichten des Alltags – wiederum zweifelsohne. Und gleichwohl sind die Gleichnisse Jesu nur halb beschrieben, wenn wir sie nur als Geschichten des Alltags bezeichnen. Denn sie erzählen den Alltag, indem sie den Alltag wenden. Viele der Gleichnisse Jesu sind durch solche überraschenden Wendungen gekennzeichnet. Das aus der berechtigten Enttäuschung eines zum Gastmahl Einladenden ein Freudenfest für die sozial und ethnisch Deklassierten wird, ist alles andere als alltäglich. Dass aus der Geschichte eines ökonomischen Betruges wie im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht in Matthäus 18 eine Erbarmensgeschichte wird, entspricht alles andere als der ökonomischen Logik.
So werden die Gleichnisse Jesu zu Alltags-Wende-Geschichten, die der Alltagsrealität nicht das letzte Wort überlassen. Solche Alltags-Wende-Geschichten brauchen wir heute – so denke ich – dringender denn je. Sie eröffnen uns einen Raum, in den wir eintreten können. Einen Raum, in dem wir uns besser verstehen können, als wenn wir immer einen Tunnelblick auf uns selbst haben. Und zugleich einen Raum, der uns und unser Leben unendlich ernst mit – ein Leben mit unseren Hoffnungen und Ängsten, ein Leben mitten in der Gegenwart, dem aber zugleich eine Zukunft verheißen ist.
Ich möchte meine Überlegungen, die ich Ihnen heute vorgetragen habe gerne mit einer Geschichte abschließen. Vielleicht kennen Sie sie bereits, da sie nicht selten im Zusammenhang des Nachdenkens über das Erzählen zitiert wird. Martin Buber hat in seinen „Erzählungen der Chassidim“ folgende Geschichte überliefert:
„Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand auf und erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hat. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen“[3]
Vortrag gehalten am 23. Oktober 2023 im Hospitalhof Stuttgart.
[1] Ernst Lange, Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche, München 1980, S. 200.
[2] Dies ist kein leichter Besuch. Rede des Präsidenten des Staates Israel, Ezer Weizmann, vor den Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates am 16. Januar 1996 in Bonn, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 41, Nr. 3 (März 1996), S. 372 (https://www.blaetter.de/ausgabe/1996/maerz/dies-ist-kein-leichter-besuch).
[3] Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, in: Ders.: Werke Bd. III, 1964, S. 959-973, hier S. 963.