Im wahrsten Sinn des Wortes ist es ein „Alterswerk“, das Gerhard Sauter mit seinem Buch Beseeltes Alter. Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens (Gütersloh: GVH, 2021) vorgelegt hat. Er bringt darin in sensibler Weise zur Sprache, was in der Theologie zu wenig bedacht ist: Wie lässt sich ein alterndes Leben mit dessen Minderungen und Möglichkeitsverlusten auf das eigene Sterben hin vertrauensvoll in Beziehung zu Gott setzen? Lesenswert geschrieben. Hier ein Auszug:
Über Altern und das Sterbenmüssen
Von Gerhard Sauter
Gott hat die Summe unserer Tage als ein Ziel gesetzt, das wir nicht überschreiten können (Hi 14,5). Ziel jedes menschlichen Lebensweges ist das volle Maß der ihm von Gott zugeteilten Lebenszeit. Im Gebet wird diese Zeit mit all ihren unwiederbringlichen Momenten – auch in der Furcht, sie könne vorzeitig verkürzt werden (Ps 102,24; Jes 38,10) – vor Gott gebracht, und es wird von ihm erbeten, die dem Beter zugemessene Zeit so zu erschließen, dass er sie nicht versäumt oder sie vertut, weder durch Trägheit noch durch Betriebsamkeit. Bemessen ist auch die Lebenskraft, der Wirkungskreis, der Erwartungshorizont, ja, die geprägte Lebendigkeit des Menschen, seine Seele.
In dieser Bemessenheit ist beschlossen, dass der Mensch vergänglich ist – und dass Gott ihn wieder zu sich ruft:
Du hast (noch immer) den Menschen zum Staub zurückkehren lassen,
und du hast (noch immer dabei) gesagt: »Kehrt zurück, Menschenkinder!«
(Ps 90,3)
Der Nachdruck dieses »doppelten Vorgangs« liegt darauf, dass Gott am Menschen handelt: indem er ihn als Erdenwesen ganz und gar zu Staub werden lässt und indem er zugleich ihn, den er belebt hat, ebenfalls ganz und gar zu sich ruft. So lässt er den Menschen sterben – und dieses »lassen« besagt nicht, dass er es bloß zulässt, sozusagen stillschweigend und mit verschränkten Händen. Vielmehr würdigt er den Menschen, ihn zu sich zu nehmen. Der schwindet nicht nur dahin wie alle anderen Lebewesen, die ja auch zu Staub werden (Koh/Pred 3,20). Die Vergänglichkeit des Menschen wird durchsichtig für Gottes schöpferisches Handeln, das sogar noch die Grenze und das Maß des Lebens bestimmt.
Das zeitliche Dasein geht im Zuge des Handelns Gottes zu Ende: so zu Ende, dass das verdankte Leben nicht mit dem Sterben abgeschlossen wird. Denn Gottes Handeln am Menschen, den er geschaffen, behütet, erhalten und beständig erneuert hat, ist damit nicht am Ende. Er ist ja mit dem Menschen eine Geschichte eingegangen, hat eine Lebensgemeinschaft mit ihm begründet, die er nie aufgibt, auch wenn Menschen sich an ihr vergangen haben und sich von ihr davonstehlen. Dann wird ihre Zeit nur noch verrinnen. »Alle unsere Tage sind dahingegangen, dahingeschwunden durch deinen Grimm.« (Ps 90,7-9) Doch in diesem Gebet wird daran erinnert, dass Gott auch dann ruft: »Kehrt zurück!« und noch Zeit schenkt, seinem Ruf zu folgen – bis der Ruf »Kommt her zu mir!« so unwiderstehlich ergeht, dass die Lebendigkeit der Gerufenen eingefordert wird: Der Atem, den Gott dem Menschengeschöpf eingegeben hat, kehrt zu Gott zurück (Koh/Pred 12,7) – nicht der Mensch oder das Wesentliche des Menschen, etwa seine vom Leib geschiedene »Seele«, kehrt von einer Wanderschaft in der Fremde in seine himmlische Heimat zurück. Das Bedenken des Sterbenmüssens, wie es im Alten Testament bezeugt ist, hält hier inne. Was es dann noch geben könnte, »nach dem Tode«, kann zum menschlichen Lebensweg nicht hinzugedacht werden. Dies gilt auch, ja gerade für die unvergleichliche Lebensgemeinschaft mit Gott. Sie kommt in Jesus Christus, dem Auferstandenen, als Zusage unseres Lebens in Gott entgegen: denen, die Jesus Christus gleichgestaltet werden (vgl. Röm 8,29; Phil 3,21). Von ihm werden wir erwartet, und was er verheißt, will im Glauben erwartet werden.
Das Gebet um den unverstellten Blick auf Ziel und Ende des Lebens ist nicht für Alternde reserviert. Doch wenn sie beten, Gott möge sie doch lehren, ihr Sterben zu bedenken, werden sie zur Sprache bringen, wie sie in ihrem Altern in besonderer Weise Gottes Handeln ausgesetzt sind – seinem Handeln ausgeliefert und zugleich in ihm geborgen. In besonderer Weise ausgeliefert: Dazu mag gehören, dass ihnen die Befristung ihrer Lebenszeit auf den Leib rückt, weil sie gebrechlich werden. Nun kümmern sie sich nur noch um das Nächstliegende, oder sie verlieren sich in Erinnerungen, weil sie hoffen, dort etwas zu finden, an das sie sich halten können. Andere wollen noch mit letzter Kraft Vollendetes erzielen und stoßen unvermutet auf ihre Grenzen. Im Blick auf die verrinnende Zeit treiben sie sich zur Eile an, obwohl sie langsamer gehen müssten, um nicht unstet und unsicher zu werden. Manche werden ihr Altern vor allem als Kette von Verlusten erleben, weil ihnen so vieles entzogen wird. Sie fühlen sich sozusagen nicht mehr vollständig.
Im Handeln Gottes geborgen sind Alternde, weil sie in der Geschichte, die er mit ihnen eingegangen ist, aufgehoben sind, auch mit allen Einbußen, die sich beim Altern einstellen, und mit allem, was ihnen entnommen und genommen wird. In besonderer Weise sind sie aufgehoben in dem, was Gott für sie vorgesehen hat. Gott will sie doch als seine Ebenbilder wiedererkennen, die er geschaffen, erhalten, bewahrt und erneuert hat! Was sie entbehren müssen, kann Dankbarkeit wecken für das, was sie empfangen hatten und immer noch empfangen. Jetzt wird ihnen zugemutet, sich Stück für Stück abzugeben – nicht aufzugeben! – und »schrittweise« das eigene Leben Gott zu »übereignen« (Karl Lehmann).
Quelle: Gerhard Sauter, Beseeltes Alter. Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens, Gütersloh: GVH, 2021, S. 96-99.