Von Eberhard Jüngel
0. Der zu Gottes Ebenbild geschaffene Mensch ist, weil von Gott auf die Unterscheidung von Gut und Böse angesprochen, verantwortlich für das, was er tut; als verantwortliches Wesen hat er ein Gewissen.
1. Der Begriff des Gewissens (συνείδησις, conscientia), der erst in der Stoa und bei Philo reichlicher belegt ist, meint:
1.1 ursprünglich im Sinne des Verbes συνειδέναι ein Mitwissen
1.1.1 mit den (schlechten) Taten anderer,
1.1.2 mit sich selbst, vor allem: ein Mitwissen mit sich selbst als eines Täters von (schlechten) Taten
1.2 schließlich ein Sich-seiner-selbst-bewusst-sein
1.2.1 als eines von Gott Geforderten und Beurteilten,
1.2.2 als eines von sich selbst Geforderten und Beurteilten,
1.2.3 als eines von anderen (z. B. der Gesellschaft) Geforderten und Beurteilten.
2. Als Stimme Gottes verstanden musste das Gewissen als unfehlbar gelten, so dass das Gewissen des einzelnen Individuums, wenn es in Gegensatz zum geltenden Sittengesetz bzw. zur herrschenden Kirchenlehre geraten sollte, sich als überlegene Instanz zur Geltung bringen konnte.
2.1 Die Rede vom Gewissen als Stimme Gottes ist heidnischen Ursprungs: „uns allen ist das Gewissen Gott: ἅπασιν ἡμῖν ἡ συνείδησις θεός“ (Menander, Γνῶμαι μονότιχοι 597).
2.2 Die Auffassung des Gewissens als Stimme Gottes konnte sich aufgrund der neutestamentlichen Rezeption des Gewissensbegriffes und der Parallelisierung der Zeugenfunktion des Gewissens zur Zeugnisfunktion von Gesetz und Propheten (vgl. Röm 2, 15, 2 Kor 1, 12 mit Röm 3, 21) auch in der christlichen Theologie durchsetzen.
2.2.1 So spricht Bonaventura (In Sent. II, 39, 1.3) vom Gewissen als „Herold und Boten Gottes: praeco Dei et nuntius“, während Thomas von Aquin (De veritate, q. 17 a. 4 ad 2) das „dictamen conscientiae“ das „Durchdringen des göttlichen Gebotes: perventio praecepti divini“ nennt.
2.2.2 Die Auffassung des Gewissens als einer unfehlbaren Stimme Gottes konnte den neutestamentlichen Satz „alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“ übersetzen in: „nur was gegen das Gewissen geschieht ist Sünde: peccatum non est nisi contra conscientiam“ (Abaelard, Ethica seu liber dictus: scito teipsum, c. 13).
2.3 Die Auffassung des Gewissens als Stimme Gottes wirkt nach in der – freilich aufgrund einer Analyse des Gewissens selbst gewonnenen – Behauptung I. Kants (Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe, Bd. 6, 1907, 438 f.), das als „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ zu verstehende Gewissen treibe sein Geschäft, „obzwar dieses … ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst ist, … als auf den Geheiß einer anderen Person“, die Gott genannt zu werden verdient: „so wird das Gewissen als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen“. Demgemäß muss „ein irrendes Gewissen ein Unding“ (a. a. O., 401) sein.
2.3.1 Dementsprechend nennt J. G. Fichte (Die Bestimmung des Menschen, Sämmtliche Werke, hg. von J. H. Fichte, Bd. 2, 1965 [= 1845], 298) das Gewissen ein „Orakel aus der ewigen Welt, das mir verkündiget, wie ich an meinem Theile in die Ordnung der geistigen Welt … mich zu fügen habe“. Ein so verstehendes Gewissen „irrt nie, und kann nicht irren“ (J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, a. a. O., Bd. 4, 1965 [= 1845], 174).
2.3.2 Das so verstandene Gewissen ist „ein Heiligthum, welches anzutasten Frevel wäre“ (G. W. Fr. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137, Hegel’s Werke, Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, hg. von Ph. Marheineke u. a., Bd. 8, 1833, hg. von E. Gans, 176; Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, Bd. 7, 41964, 197).
2.4 Das sich seiner selbst als unfehlbar bewusste Gewissen musste die Institutionen des (weltlichen und geistlichen) Rechtes und der Sittlichkeit gegen sich aufbringen. Es ist, indem es das subjektiv für gut und recht bzw. böse und unrecht Erkannte gegen das allgemein als gut und recht bzw. böse und unrecht Geltende setzt, „auf dem Sprunge …, ins Böse umzuschlagen“ (G. W. Fr. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139, Hegel’s Werke, a. a. O., 179; Sämtliche Werke, a. a. O., 200).
2.4.1 „Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigenthümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen nicht anerkennen“ (G. W. Fr. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137, Hegel’s Werke, a. a. O., 176; Sämtliche Werke, a. a. O., 197).
2.4.2 Dagegen garantiert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (E 33, 23 > 29 < II) – die „Glaubens- und Gewissensfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt und unverwirkbar“, so dass es „auch Außenseitern und Sektierern die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit“ gemäß ihren Gewissensentscheidungen „gestattet, solange sie nicht in Widerspruch zu anderen Wertentscheidungen der Verfassung geraten und aus ihrem Verhalten deshalb fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer erwachsen“.
2.5 Die Institutionen des (weltlichen und geistlichen) Rechtes und der Sittlichkeit verlangen deshalb, dass sich das Gewissen prüfen lassen müsse. Zu diesem Zweck unterscheidet die scholastische Theologie zwischen
2.5.1 der irrtumsfähigen und aufgrund falscher Information und Orientierung irrenden conscientia des Sünders und
2.5.2 der durch den Sündenfall nicht lädierten, mit den Prinzipien des Naturrechtes bzw. des geistlichen Rechtes übereinstimmenden unfehlbaren synderesis (συντήρησις), deren formaler Akt ein „dem Bösen Entgegenmurmeln und Hinneigen zum Guten: remurmurare malo et inclinare ad bonum“ ist (Thomas von Aquin, De veritate, q. 16 a.1 ad 12).
Die Unterscheidung von conscientia und synderesis, die von Luther und erst recht durch Kants (Metaphysik der Sitten a. a. O., 401) Bestreitung eines „Gewissens hinter dem Gewissen“ ad absurdum geführt worden war, lebt gleichwohl fort:
2.6.1 in Hegels Unterscheidung des bloß „formalen Gewissens“ als des subjektiven Selbstbewußtseins, „in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist“, und des „wahrhaften Gewissens“ als der „Einheit des subjektiven Wissens, und dessen, was an und für sich ist“ (G. W. Fr. Hegel, Hegel’s Werke, a. a. O., 176; Sämtliche Werke, a. a. O., 196 f.);
2.6.2 in Nietzsches Destruktion des – als internalisierter, domestizierter und so gegen das eigene Ich gerichteter Aggressionstrieb („Instinkt der Freiheit“) des sich vergesellschaftenden Menschen erklärten – schlechten Gewissens (Genealogie der Moral, Krit. Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, 6. Abt., Bd. 2, 1968, 337-349; Krit. Studien-Ausgabe, Bd. 5, 1980, 321-332) zugunsten eines „intellectuellen Gewissens … hinter deinem ,Gewissen‘“, in dem der Mensch um sich selbst als Über-Menschen weiß, der – ohne Interesse an dem „moralischen Werth unserer Handlungen“ – zur „Schöpfung neuer eigener Gütertafeln“ willens und mächtig ist, so dass wir diejenigen „werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden“ (Die fröhliche Wissenschaft, Viertes Buch, Nr. 335, Krit. GA, a. a. O., 5. Abt., Bd. 2, 1973, 241-243; Krit. St.-A., Bd. 3, 1980, 561-563).
2.7 Als sich selber Schaffender wäre der Mensch im Akt schöpferischen Handelns, in dem er ganz und gar im Augenblick existiert, jenseits von Gut und Böse und insofern keines Gewissens fähig. Das Gewissen setzt die Existenz in der Zeit und damit in der Differenz der Zeitmodi voraus. Der ἐφήμερος kann kein Gewissen haben. Und so kann auch der Handelnde im Akt des Handelns kein Gewissen haben („Der Handelnde ist immer gewissenlos“ – J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. Aus Kunst und Alterthum, Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, I. Abtheilung, Band 42/2, 1907, 138). Denn das Gewissen klagt an aufgrund getaner Taten, also erst aufgrund einer zur Vergangenheit gewordenen Gegenwart. Das vom gegenwärtigen Augenblick ablenkende Gewissen ist für Nietzsche deshalb die größte und „unheimlichste Erkrankung“ der Menschheit.
2.8 In Nietzsches Destruktion des schlechten Gewissens lebt trotz der antireligiösen Tendenz dieser Destruktion eine Erinnerung an die reformatorische Erkenntnis fort, dass der von seinem ihn anklagenden Gewissen befreite Christ mit einem von dem ihn rechtfertigenden Gott getrösteten Gewissen „neue Dekaloge machen“ kann, die „herrlicher sind als der Dekalog des Mose“ (vgl. M. Luther, WA 39/I, 47, 27-29).
3. Theologische Anthropologie hat das Gewissen als dasjenige Wissen zu verstehen, in dem der Mensch, weil er von Gott mit dem Evangelium angeredet ist, um sich selbst als einen der Forderung des Gesetzes und insofern sich selbst widersprechenden Täter weiß. Im Gewissen zitiert der sich selbst widersprechende Mensch sich vor sich selbst.
3.1 Gewissen ist nur möglich aufgrund der Erfahrung vorgängigen Bejahtseins, das den Menschen liebesfähig macht.
3.1.1 Einem ungeliebten und liebesunfähigen Menschen kann sich kein Gewissen bilden.
3.2 Im Gewissen weiß der Mensch implizit um seine Bejahtheit und explizit um seinen tätigen Widerspruch bzw. um seine dieser Bejahtheit widersprechenden Taten.
3.2.1 Als Gewissen erinnert sich der Mensch (implizit) dessen, das er durch Gottes schöpferische Anrede und Bejahung aus Nichts geschaffen ist und ohne dieses schöpferische Wort der Liebe Gottes nichts wäre. Aus dem Grunde der Erinnerung seiner creatio ex nihilo ruft das Gewissen, indem es sich als wissen um den eigenen Widerspruch meldet. Das Gewissen ist jedoch keine Quelle der Gotteserkenntnis.
3.3 Im Gewissen existiert der Mensch als Mensch im Widerspruch zu sich selbst, insofern er um sich selbst als ein Ich weiß, das durch sein Tun mit sich selbst in Zwiespalt geraten ist.
3.3.1 Im Ruf des Gewissens erfährt der Mensch, dass er sich mit sich selbst entzweit hat (Röm. 7, 14-24).
3.3.2 Nur der Sünder hat oder ist Gewissen: „omnis conscientia mala“ (M. Luther, WA 4, 67, 38: „Jedes Gewissen ist schlecht“).
3.3.3. Was man „gutes Gewissen“ nennt, ist „der Ausdruck für die Abwesenheit des bösen Gewissens“ (A. Ritschl, Über das Gewissen, 1876, 13).
3.3.4 Der Sünder wird zum Sünder, indem er zwischen gut und böse unterscheiden und insofern Gewissen haben will.
3.3.5 Der Sünder ist unter dem Gesetz Gottes, indem er zwischen gut und böse unterscheiden und insofern Gewissen haben muss.
3.4 Als Gewissen besteht der Mensch sich selbst gegenüber unbeirrbar auf Wahrheit. Das Gewissen sagt nicht, was zu tun ist, sondern es bezeugt dem Täter die Qualität seiner Tat. „Das Gewissen ist nämlich keine Kraft des Handelns, sondern eine Urteilskraft, die über die Handlungen urteilt: Conscientia enim non est virtus operandi, sed virtus iudicandi, quae iudicat de operibus“ (M. Luther, WA 8, 606, 32 ff.).
3.4.1 Im Gewissen weiß der Mensch implizit um seine Geschichte, und insofern er-innert das Gewissen die Vielfalt kreatürlicher Stimmen, die ihn schon immer angeredet und beansprucht und gefordert haben.
3.4.2 Als Gewissen weiß sich der Mensch zugleich aus der Vielfalt kreatürlicher Stimmen, die ihn schon immer angeredet, beansprucht und gefordert haben, herausgerufen, insofern er alle ihn beanspruchenden Stimmen dem Anspruch der Wahrheit unterwirft.
3.4.3 Als Gewissen unterbricht der Mensch sich selbst, indem er sich selbst gegenüber auf Wahrheit besteht.
3.5 Im Gewissen ereignet sich die Identität des mit sich selbst entzweiten Menschen.
3.5.1 Die Einheit von Selbstentzweiung und Identität macht die Unheimlichkeit des Gewissensrufes aus (vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 101963, 276).
3.5.2 Das schlechte Gewissen spricht für den Menschen. Denn im schlechten Gewissen holt der mit sich selber entzweite Mensch sich selber ein, so dass er davor bewahrt wird, zu zerfallen.
3.5.3 Im Gewissen erfährt der mit sich entzweite Mensch im Modus der Entzweitheit seine Ganzheit.
3.5.4 Mit der Entzweitheit seiner selbst erfährt sich der Mensch im Gewissen zugleich als im Widerspruch mit Gott existierend.
3.5.5 Das Gewissen ist der Ruf in die Ganzheit des entzweiten Daseins.
4. Als Gewissen hat der Mensch sein Tun zu verantworten.
4.1 Dass der Mensch zu verantworten hat, was er tut, setzt voraus, dass er in seinem Tun frei ist. Als Gewissen verantwortet der Mensch seinen Umgang mit der eigenen Freiheit, zu der er durch göttliche Anrede berufen ist.
4.1.1. Für sein Handeln verantwortlich kann nur sein, wer auch hätte anders handeln können, wer also als Seele ein zur Freiheit berufenes Wesen der Möglichkeit ist.
4.1.2 Im Gewissen bezeugt sich der verfehlte Umgang mit der eigenen Freiheit. Insofern kann das Gewissen zwar mit Kant (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Bd. 6, 1907, 185) „ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist“, genannt werden. Es ist aber „die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft“ (a. a. O., 186) in dem Sinne, dass sein Urteil der zu beurteilenden Handlung folgt.
4.2 Als Zeugnis des durch sein Tun mit sich selbst entzweiten Menschen ist das Gewissen conscientia consequens, das aber als solches seinen Schatten vorauswirft und als conscientia antecedens eine den Menschen mit sich selbst entzweiende Handlung bereits in dessen dem Handeln vorausgehenden Vorstellen bezeugt.
4.2.1 Als conscientia consequens bezeugt das Gewissen die Selbstverurteilung des Menschen.
4.2.2 Als conscientia antecedens warnt das Gewissen vor einer zur Selbstverurteilung führenden Tat.
4.3 „Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urtheilt der Verstand, nicht das Gewissen“ (I. Kant, a. a. O., 186; vgl. These 3.4).
4.4 Das Gewissen ist per definitionem individuell. Gemeinschaften können kein Gewissen haben, wie auch das Gewissen eines Menschen nicht für andere und für Gemeinschaften sprechen kann. Die gewissenhafte Verantwortung des eigenen Tuns ist deshalb von den Konsequenzen dieser Verantwortung für das gemeinsame Tun und für die Aktivitäten (und Unterlassungen) der Gesellschaft zu unterscheiden. Sein Gewissen kann einen Menschen nötigen, sich aus bestimmten Interaktionen zu lösen und eventuell andere entgegengesetzte Interaktionen zu fördern. Was andere Menschen zu tun und zu lassen haben, ist jedoch Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und also dem Urteil der politischen Vernunft unterworfen: so wie ja auch, ob die eigene „Handlung überhaupt recht oder unrecht sei“, dem Urteil des eigenen Verstandes und nicht des Gewissens unterworfen ist (vgl. These 4.3).
5. Das das Tun des Menschen verantwortende Gewissen hat nicht das Sein der Person zu verantworten.
5.1 Als Person ist der Mensch durch Gott verantwortet, der ihn ex nihilo geschaffen, bejaht und im Tode Jesu Christi gerechtfertigt hat.
5.2 Das Gewissen bezeugt die Person als Täter, aber nicht den Täter als Person.
5.2.1 Als Täter wird der Mensch auf seine Taten angesprochen. Als Person ist er auf Gott und Gottes Tat angesprochen.
5.3 Das Gewissen hat wegen der ihm eigenen Rigorosität die Tendenz, nicht nur gegen die Taten und insofern gegen die Person als Täter, sondern auch gegen den Täter als Person zu sprechen, indem sie die Person unter ihre Taten subsumiert und als Summe ihrer Taten missversteht.
5.3.1 Diese rigorose Tendenz des Gewissens verstärkt sich, wenn der im Gewissen vor sich selbst zitierte Mensch sich nicht mehr zugleich als vor Gott existierender Mensch erfährt und versteht. Dann tritt die Stimme des Gewissens an die Stelle des Wortes Gottes. Dann usurpiert das Gewissen das Richteramt Gottes und wird so gerade in seiner moralischen Rigorosität zur letzten Bastion der Sünde: sei es, dass es zum Ort der eigenmächtigen Selbstrechtfertigung, sei es, dass es zum Ort der selbstzerstörerischen Selbstverurteilung wird.
5.3.2 Theologische Anthropologie hat deshalb die Auffassung zu bestreiten, im Gewissen offenbare sich, dass das menschliche „Dasein als solches … schuldig“ ist (M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., 285). Sie hat ebenso zu bestreiten, dass „Die gewissenswidrige Handlung (oder Unterlassung) zum unwiderruflichen Bestandteil der Persönlichkeit“ wird und dass „Gewissen … nur haben“ kann, „wer sich selbst töten kann“ (N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, Archiv d. öff. Rechts 90, NF 51, 1965, 269).
5.4 Im Glauben an den rechtfertigenden Gott kommt es, weil der Glaube allein Gott Richter über die Person sein läßt, zur gewissenhaften Gewissenslosigkeit menschlicher Existenz.
5.4.1 „Du must nicht conscientiae tuae und fulen plus credere quam verbo quod de domino praedicatur, qui suscipicit peccatores … quando ita potes pugnare cum conscientiae, ut dicas: du leugst, Christus hat war, non tu“ (M. Luther, WA 27, 223, 8-12: „Du musst nicht deinem Gewissen und Gefühl mehr glauben als dem Wort, das vom Herrn verkündigt wird, der die Sünder aufnimmt …, weil du so mit dem Gewissen streiten kannst, daß du sagst: Du lügst, Christus hat recht, nicht du“).
Thesen zum Vortrag auf dem Pfarrertag am 9. September 2009 in Leipzig.
Quelle: Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Nr. 20/21 vom 13. November 2009, B 53-56.