Ottmar Fuchs, Gott in Dunkelheit erahnen. Die biblische Verbindung von Lob und Klage: „Auf den ersten Blick scheinen Klage und Lob sich wie Feuer und Wasser zueinander zu ver­halten. Schaut man aber genauer hin, dann verhält sich das Lobgebet nicht so wie das Dankgebet zur Klage: denn das Dankgebet könnte in der Not kaum gesprochen werden. Beim Lobgebet kann dies aber der Fall sein. Wenn man von dieser Ahnung Gottes in der Dunkelheit keine Ahnung hat, kommt man leicht dazu, den dritten Teil von Psalm 22 (V. 23-32) als einen später angefügten Teil zu betrachten. Denn in diesem dritten Teil wird Gott gelobt und die ganze Welt wird dazu aufgerufen Gott zu loben.“

Gott in Dunkelheit erahnen. Die biblische Verbindung von Lob und Klage

Von Ottmar Fuchs

Das Bekenntnis, dass Gott der „Ich bin da“ ist, hat Israel im Zuge eines sich entwickelnden Monotheismus konsequent durchgetragen. Kei­ne Zeit, kein Ort, keine Situation oder Lebens­lage sind gottlos. Keine noch so schwere Erfah­rung belegt nach biblischem Zeugnis die Nicht-Existenz Gottes, – allerdings durchaus seine Ferne. Biblische Beter halten dennoch daran fest, sich an Gott zu wenden, nicht nur klagend, fragend oder aufbegehrend.

Ist es nicht ein Widerspruch in sich, in der Dunkelheit eine Ahnung von Gott aufbringen zu können? Wie kann Gott erahnt werden, wenn er so ganz als abwesend erfahren wird, weil er nicht eingreift, weil er das Böse nicht zum Guten wendet, weil er die Gefährdeten und Sterbenden nicht rettet? Und doch, schon sprachlich ist in der Verborgenheit Gottes im­merhin noch Gott beim Namen genannt, in ei­ner eigenartigen „negativen Theologie“, oder besser negativen Dialektik im Sinne von Theo­dor W. Adorno, insofern hier zwei Wirklich­keiten genannt werden, die nicht zusammen­zubringen sind, wofür es nie eine Synthese gibt. Denn wenn Gott nicht rettend eingreift, dann ist dies der krasseste Gegensatz zur Er­fahrung der Nähe Gottes als Wohlergehen. Es ist dies nicht nur der Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht, sondern letztlich der nicht auflösbare Widerspruch zwischen Leben und Tod.

Dennoch wird gerade in den Klagegebeten Israels niemals die eine oder andere Seite ver­abschiedet, obwohl die dazwischen liegende Spannung oft bis zum Zerreißen unerträglich ist. In der Erfahrung schlimmster Negativität wird der Schrei nach Gott, und in der Ankla­ge auch gegen Gott nicht aufgegeben. Doch das ist noch nicht genug. Die angesprochene Spannung wird durch ein bestimmtes Gebet bis zum Äußersten getrieben und darin zu­gleich bis ins Unendliche hinein ge- und zu­gleich entspannt: es ist das Gebet des Lob­preises Gottes, der Doxologie. Wie ist das zu verstehen, wenn man es überhaupt verstehen kann?

Lob und Klage – einander verbunden

In der Bibel begegnen uns, sowohl im Alten wie im Neuen Testament, vier Sprechhandlun­gen des Betens: da ist das Bittgebet, in dem die Gläubigen darauf vertrauen, dass sich Gott um ihre Sorgen sorgt, da ist das Dankgebet, in dem sich das Leben umso mehr vertieft, als es in vielen Widerfahrnissen als Geschenk erlebt und Gott verdankt werden darf. Während es bei diesen Gebetsgängen vor allem um etwas geht, was Menschen erbeten oder wofür sie danken, konzentrieren sich die anderen beiden Weisen des Betens vor allem auf die Bezie­hung zu Gott selbst. So ist die Klage die Eröff­nung einer und der Durchgang durch eine Be­ziehungskrise mit Gott, und so ist das Lobge­bet eine Vertiefung der Gottesbeziehung, in­dem Gott um seiner selbst willen (und nicht zuerst, weil man etwas davon „hat“) gepriesen wird. Die Klage und Anklage, wie sie vor al­lem im Psalm 22 begegnen, dessen Beginn Je­sus am Kreuz betet, benennen die Dunkelheit Gottes, seine Verborgenheit, seine Unerhörtheit in einer Situation, in der er doch hören müsste.

Auf den ersten Blick scheinen Klage und Lob sich wie Feuer und Wasser zueinander zu ver­halten. Schaut man aber genauer hin, dann verhält sich das Lobgebet nicht so wie das Dankgebet zur Klage: denn das Dankgebet könnte in der Not kaum gesprochen werden. Beim Lobgebet kann dies aber der Fall sein. Wenn man von dieser Ahnung Gottes in der [23] Dunkelheit keine Ahnung hat, kommt man leicht, wie die frühere exegetische Forschung, dazu, den dritten Teil von Psalm 22 (V. 23-32) als einen später angefügten Teil zu betrachten. Denn in diesem dritten Teil wird Gott gelobt und die ganze Welt wird dazu aufgerufen Gott zu loben. Dabei hat sich die klagenswerte Si­tuation des betenden Menschen nicht verän­dert.[1] Im Durchgang durch die Klage hat sich aber seine Gottesbeziehung verändert, von der Anklage zum Lobpreis. Wie ist das möglich?!

Es ist wohl das Ver-Rückteste, was uns hier im biblischen Beten begegnet. Denn bisherige Zuschreibungen werden buchstäblich ver­rückt: wollte man das Lobgebet der Wohlergehens­situation zuschreiben, dann wird diese Ordnung der spirituellen Sprechhandlungen gründlich durchbrochen. Die Doxologie ist nicht nur mit dem Dankgebet verheiratet, son­dern sie ist auch liiert mit der Klage!

„…der Name des Herrn sei gepriesen!“

Bei Ijob begegnet uns der angesprochene Zu­sammenhang in hymnischer Präzision: „Nackt kam ich aus meiner Mutter Leib, nackt kehr ich dorthin zurück! Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Namen des Herrn sei gepriesen!“ Hier wird grundgelegt, dass Ijobs Klage, wie sie in den folgenden Kapiteln zum Ausdruck kommt, niemals zum Fluch gegen Gott wird. Aus dem Elend heraus bringt er es fertig (oder besser es wird ihm die Gnade ge­schenkt), den Blick von sich auf den großen Schöpfergott zu lenken, auf den Gott, der die Macht zu allem hat, der über allem steht und der größer ist als alles, auch als das Elend des Ijob. Artur Weiser hat in seinem Kommentar zum Ijobbuch vor mehr als einem halben Jahr­hundert dazu geschrieben: „Der Gott, an dem Hiob zerbricht, ist ihm der letzte Halt, zu dem er betend die Hände erhebt und mit den Wor­ten des liturgisch-hymnischen Segensspruchs ,Der Name Jahwes sei gesegnet’ gleichsam den Segen in die Hand Gottes zurückliegt, die ihn von ihm genommen hat.“[2]

Ijobs Wort ist keine Vergleichgültigung und Banalisierung des Lebens, dass es eigentlich egal sei, was gegeben und was genommen sei. Auch geht es nicht darum, Gott als Willkürgott herauszustellen, dem es selbst egal sei, wie er mit den Menschen umgehe. Gott soll nicht kleiner und hässlicher gemacht werden, son­dern größer, größer auch als das eigene Elend, womit sich in Gott der Raum möglicher Ret­tung eröffnet. Die Doxologie leistet sich Gott­vertrauen gegen den Augenschein.

Deswegen ist der Lobpreis Gottes, so merkwür­dig das klingt, mit der Klage verschwistert. Denn der Glaube, dass Gott größer ist als das eigene Elend, ermöglicht erst die Klage Ijobs, wie sie nirgendwo sonst in der Bibel schärfer ausge­drückt wird. Denn wohin soll die Klage gehen, wenn es keine „Gottesfurcht“ gibt? „Worin er­weist sich die Gottesfurcht und Ehrfurcht vor Gott? Ist es demütiges Schweigen vor Gott, weil der Mensch zu gering ist gegenüber der Größe Gottes? Oder hat die Klage Ijobs etwas mit Got­tesfurcht zu tun?“[3] Die Antwort lautet: „Gottes­furcht heißt angesichts von Leid und einer im Kosmos verborgenen Weisheit, als Mensch in Würde aufrecht zu stehen vor Gott und die Fra­gen unbeirrt solange zu stellen, bis eine ,kleine’ Antwort erfolgt, die weiterleben und weiterhof­fen lässt. Wie sich diese Beziehung entwickelt, hat niemand in der Hand und unterliegt auch nicht fremder Begutachtung oder Beurteilung.“ Und: „Ermöglicht ist diese tiefe Einsicht durch das gottesfürchtige Vertrauen, dass Gott alles zusammenhält und niemals das schlimmste Chaos eintreten lässt, nämlich dass er sich der Klage der Menschen entzieht.“[4]

Die menschliche Ohnmacht, die Ijob erfährt, ist nicht das Letzte, was den Menschen bleibt, es bleibt und ist immer nur das Vorletzte gegenüber dem wirklich Letzten, gegenüber Gott. „Das Ein­geständnis menschlicher Ohnmacht ist nicht das Einzige und nicht das Letzte, was Hiob zu sagen [24] hat; darum ist sein Wort nicht der Ausdruck ei­ner nihilistischen oder fatalistischen Resignati­on, nicht das Zeichen eines völligen Zusammenbruchs.“[5] Ijob nimmt sich nicht wichtiger, nimmt auch sein eigenes Elend nicht wichtiger als Gott. Der Lobpreis Gottes gibt ihm die Mög­lichkeit, von Gott her auf sich zu schauen und sich darin aufzurichten. So paradox es klingt: Die Demut der Anbetung richtet auf, indem Gott noch zugetraut wird, dass er nicht im Elend des Menschen aufgeht, sondern mit seinem unend­lichen Geheimnis unendlich mehr ist als was Menschen ermessen und erfahren. Obgleich Gott nicht heilsam handelt, wird seine gleichwohl ge­glaubte Handlungsmacht in Schöpfung und Ge­schichte gepriesen.[6]

Ijob macht seine Elendserfahrung nicht zum totalitären Maßstab für die Beurteilung Gottes. Er lässt Gott noch einmal größer sein als alles was er erlebt. Es ist ein gottermächtigendes Gotteslob und erlöst den Menschen von Selbstvergöttlichung, sei es in seiner Macht, sei es in seiner Ohnmacht, indem er die Ohnmacht so „vergöttlicht, als wäre ihr nicht die Macht und Allmacht Gottes gewachsen. Dabei geht es überhaupt nicht um eine Verkleinerung des Menschen, sondern um seine realistische Selbsterfahrung in diesem Leben zwischen Ohnmacht und Macht auf der einen und ange­sichts des allmächtigen Gottes auf der anderen Seite. Die Alternative wäre der Fluch gegen Gott, der zur totalen Verkleinerung des Men­schen führt, weil er sich darin selbst alle Mög­lichkeiten des „Darüberhinaus“ abschneidet und seinen eigenen endgültigen Tod betreibt. Die Frau des Ijob nennt diese Alternative beim Namen wenn sie in Ijob 2,9 rät: „Hältst Du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott, und stirb!“ Was hier mit Fluchen gemeint ist, wäre die totale Verzweiflung, nämlich sich der Möglichkeit zu verweigern, „Gott in Dunkel­heit als den je größeren zu erahnen“.

Gott ist größer als „alles“

Mir geht es hier nicht um die Frage, ob und wie im Dunklen, im Leid und im Bösen Gott am Werk ist oder sein kann, sondern um die menschliche Einstellung, Gott größer sein zu lassen als das eigene Leben und die eigenen Er­fahrungen, seien sie gut oder seien sie schlimm. Aus dieser Perspektive ist das Dank­gebet für sich allein noch gewissermaßen ge­brauchsorientiert, indem Gott im Dank mit dem identifiziert wird, was man von ihm erhal­ten hat. Auch darüber hinaus hat der Lobpreis entgrenzende Wirkung, indem Gott weit über das Geschenkte hinaus gepriesen wird, nicht weil man etwas bekommen hat, sondern weil Gott Gott ist, das unendliche und unverfügba­re Geheimnis der Menschen und aller Welten. Und über die Bitte hinaus gilt das Gott Gott sein lassende Wort, dass sein aus seinem Ge­heimnis heraus unbegreifbarer Wille geschehe.

In der Doxologie geht dem Glaubenden auf, dass Gott weder im Erbetenen noch im Ver­dankten noch im Erlittenen aufgeht. Diese spi­rituelle Einsicht spiegelt sich konzeptionell im Dogma des abgelehnten Patripassianismus[7] (nämlich dass Gott-Vater leidet): Dreifaltig­keitstheologisch ist es richtig zu sagen, dass Gott in der zweiten göttlichen Person, in Jesus Christus, das Leiden der Menschen geschicht­lich erfahren hat und dass diese Offenbarung zugleich Auskunft darüber schenkt, dass der Geist des Auferstandenen in allen leidenden Menschen (auch in allen Menschen, die sich freuen) mitleidet und mitfühlt (vgl. Röm 8,26). Indem die Kirche sagt, dass Gott-Vater nicht in dieser Form mitleidet, hält sie daran fest, dass Gott insgesamt immer unendlich viel mehr ist als die Freuden und Leiden der Menschen und dass gerade dies unsere große Hoffnung ist.

Denn wäre er nicht darüber hinaus in unver­fügbarer und unendlich geheimnisvoller Wei­se allmächtig, dann hätten wir keine Hoffnung über unsere begrenzte Freude, über das Elend und über den Tod hinaus. Genau dies, dass Gott immer größer ist als was Menschen sind [25] und erfahren, wird in der Doxologie auf Gott selbst so ausgedrückt. In der Anbetung „abs­trahiert“ der Mensch gewissermaßen von sich selbst und gewinnt sich aus dem Geheimnis Gottes heraus in einer neuen und durchaus konkreten Weise. Selbstverständlich ist eine solche doxologische Spiritualität nicht zu ver­ordnen, sie ist selbst oft nur zu erahnen.

Lobpreis im Elend

Aber wo Menschen sich in diese Ahnung hi­neinbegeben, wo sie sich diese Ahnung schen­ken lassen, ist immer wieder im Großen und Kleinen das möglich, was Elie Wiesel in seinem „Prozess von Schamgorod“[8] erzählt, was dort zwar in einer ganz extremen Situation ge­schieht, was aber auch gerade deshalb für un­sere Spiritualität wichtig ist, denn im Extrem bewahrheitet sich, was dann auch für weniger extreme Erfahrungen im menschlichen Leben zwischen menschlicher Ohnmacht und der An­erkennung der Macht Gottes im Gotteslob gilt. In tiefer Not treffen sich jüdische Gläubige zum Gottesdienst. Aus ihrem Elend heraus machen sie Gott den Prozess und klagen ihn an, bis hin zur Verurteilung, weil er sein Volk so im Stich lässt. Kaum ist das Urteil gesprochen, erhebt sich der Rabbi und ruft die Gemeinde zum wichtigsten Lobpreis Israels auf, zum Hauptge­bet bei der Sabbatfeier:

Ewiger, unser Gott! Großer, Allmächtiger, Hocherhabener! So haben Abraham, Isaak und Jakob dich erkannt, so haben alle unsere from­men Ahnen dich verehrt. Deine Gnade erhält das All … In deiner unendlichen Macht o Herr gibst du den Gestorbenen neues Leben – nie versagt deine Hilfe … Wer ist wie du, Herr al­ler Kräfte! Wer gleicht dir, der du tötest und be­lebst und sprießen lässt das Heil!… Gelobt seist du, o Gott, der Leben hervorgehen lässt aus dem Tode! Heilig bist du, Heiliger ist dein Na­me und heilige Scharen preisen dich für und für. Gepriesen seist du, o Gott, der du in Hei­ligkeit waltest![9]

Das faszinierendste am Lobpreis ist, dass hier Menschen, in welchen Situationen auch im­mer, von sich und ihren Situationen absehen und ablassen können und sich auf die Aner­kennung des unbegreiflichen, unverfügbaren und allmächtigen Gottes konzentrieren. In die­sem nicht für das gegenwärtige Leben einfach hin instrumentalisierbaren Geheimnis, das al­le unsere Zugriffe auf Gott übersteigt, liegt ge­rade unsere Hoffnung in diesem Leben und darüber hinaus, eine Hoffnung, die in seinem Geheimnis wurzelt, nicht in unserem Wissen und Handeln.[10] Es ist die Spiritualität des Los­lassens. Darin wächst auch jene Spiritualität, die Verstorbenen in dieses Geheimnis hin los­lassen zu können, mit der großen Hoffnung, dass wir uns in diesem Geheimnis wieder fin­den werden.

In der Doxologie ist kein Wenn-Dann-Spiel mit Gott mehr möglich, und es ist auch abso­lut unnötig. Denn wenn die biblische Spiritua­lität nicht ins Leere läuft, sondern wenn sie tat­sächlich die inhaltliche Richtung dieses Ge­heimnisses offenbart, nämlich dass Gott im tiefsten Abgrund seines Geheimnisses zugleich die tiefste Liebe und Rettung ist, dann braucht es keine Zugriffe mehr. Zugriffe und Geschäf­te gibt es immer nur in ressourcenbegrenzten Kontexten. Bei Gott aber gibt es keine Bedin­gungen. Genau diese Entgrenzung bringt die Doxologie in den Blick.[11]

Gebetetes „Nichtwissen“

Im Lobpreis Gottes reicht die Eindeutigkeit des in der Bibel offenbarten Gottes in sein Ge­heimnis hinein, nämlich dass es nicht ein Ge­heimnis des Bösen und zum Bösen ist, sondern ein Geheimnis unendlicher Versöhnung und Liebe. Die Rettung ist längst in Gott beschlos­sen, auch wenn ihre Erfüllung wartet, sie wird sich mit Sicherheit im Tode und in die neue Welt hinein ereignen.[12] Das unendliche Ge­heimnis Gottes, das in der Doxologie in seiner [26] Allmacht gepriesen wird, ist keine Black-Box und damit bedeutungslos. Die Richtung dieses Geheimnisses ist uns in der Offenbarung ge­offenbart, nämlich dass Gott nicht der Satan, sondern ein Gott ist, der durch die schlimms­ten Erfahrungen hindurch dann immer doch, und wenn auch erst „am Ende“, die Menschen rettet und ihnen unendliche Versöhnung und Liebe schenkt. Aber gerade die Unendlichkeit dieser Liebe im unfassbaren Geheimnis Gottes ist es, die einen nochmals eigenen theologi­schen Index präzisiert, nämlich die über die im eigenen Bereich geglaubte Gottespräsenz un­erschöpflich hinausreichende Unbegrenztheit genau dieses Gottes.

Darin werden die eigene Identität und Offen­barung auf den geheimnisvollen, verborgenen und unendlichen Gott bezogen, der unverfüg­bar mehr ist als alles, was uns geoffenbart ist. Letzteres ist wie eine Insel im Meer göttlicher Unendlichkeit, unverrechenbar, nur in der Doxologie zu preisen. Dieser doxologischen Spiritualität entspricht das Dogma des IV. Laterankonzils, nämlich, dass alles, was wir von Gott sagen und auch im Glauben hoffen, Gott unähnlicher ist als ähnlich. Es geht um das ers­te Gebot: Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst nirgendwo andere Götter neben mir haben, weder in Gesellschaft noch in Kirche, weder in deinen eigenen Erfahrungen noch in deinem eigenen Leiden. Nichts Diesseitiges ist Gott ge­genüber zu vergöttlichen und ihm gegenüber absolut zu setzen. Er allein ist der Absolute (vgl. Gen 20,2-3).

Die Doxologie preist die biblische Offenba­rung als die Spitze vom Eisberg, als die au­thentische Botschaft eines Gottes, der unend­lich viel mehr in allen Welten und darüber hinaus ist, als was uns diesbezüglich gegeben ist. So paradox es klingt: im Lobpreis Gottes strecken wir uns auf die Nichtbenennbarkeit Gottes aus, auf seine radikale Transzendenz gegenüber Menschheit und Welt, wir gönnen ihm gewissermaßen die „Kategorie“ seiner Nichtkategorialität. Damit wird das Eindeutig­keitsprofil der Offenbarung nicht aufgelöst, aber die Gläubigen werden daran erinnert und lassen sich in der Doxologie daran erinnern, dass man auch mit der Offenbarung Gott nie­mals „im Griff` haben kann, mit keinem Wenn-Dann, auch nicht in den subtilsten For­men intellektuell-theologischer Überlegungen und auch nicht in den subtilsten Formen der Spiritualität. Letztlich ist alles an ihn abzuge­ben, wie im Tod ohnehin alles abzugeben ist. Aus dieser Perspektive ist das Sterben in seiner radikalsten Erfahrung menschlicher Ohnmacht zugleich die schärfste Erfahrung doxologischer Hingabe.

Die Einstellung, im Bezug auf Gott kein zu­griffiges Wissen haben zu können, wie sie die negative Theologie vor allem im Anschluss an Nicolaus Cusanus als „docta ignorantia“, als gelehrtes „Nichtwissen“ herausstellt, wird in der Doxologie spirituell vollzogen, nämlich als gebetete „ignorantia“, als gebetetes Nichtwis­sen, dessen Negativität nichts Negatives im Sinne des Bösen oder Schädlichen ist, sondern auf ihrer Rückseite den Raum des unendlichen Gottes eröffnet, der allein über unsere Wirk­lichkeiten hinaus Hoffnung schenkt. Denn nicht nur das theologische Denken, sondern auch das Beten kann sich immer wieder in der Versuchung befinden, das in der Offenbarung geschenkte „positive“ Glaubenswissen als po­sitivistischen Zugriff auf das Geheimnis Got­tes misszuverstehen.

Auswirkungen auf das Leben

Die Doxologie löst sich zwar im Blick auf die Göttlichkeit Gottes von der menschlichen Pra­xis, hat aber gleichwohl „indirekt“ praktische Konsequenzen bzw. Auswirkungen. Denn dies ist ein Horizont, der auch den Einsatz für das gottes- und menschengerechte Profil unter­läuft oder überragt und auch nochmals die, die gegen dieses Profil destruktive Gottes- und Menschenverhältnisse betreiben, diesem Ge­heimnis Gottes aussetzt und dabei dieses Ge­heimnis so weit und unendlich sieht, dass es auch undualistisch diejenigen, die von der Ka­tegorialität, also von den Inhalten der Offen­barung her auszugrenzen und abzugrenzen wären, in einer eigenartigen, unzugänglichen [27] Weise umfasst. Es sind dies wir selbst als Sün­der und Sünderinnen. Es sind dies aber auch die schlimmsten Täter und Täterinnen.[13]

Die Richtungsanzeige, die uns aus der Offen­barung diesbezüglich geschenkt ist, ist die nie abgeschlossene Bereitschaft Gottes zur Versöh­nung und zur Rettung der Menschen. Diese in das Geheimnis Gottes hinein unendlich zu den­ken und ohne Zugriff, aber in großer Hoffnung zu glauben, erreicht und überschreitet dann je­ne Grenze der Unvorstellbarkeit, die es verhin­dert, auch gegen den Augenschein, Gottes Ge­heimnis allen Menschen zu Grunde zu legen. Von entscheidender Bedeutung für unsere dies­seitigen Geschichten und für die Geschichte ist dabei, dass kirchliche und christliche Existenz die doxologische Anbetung Gottes im Men­schenbezug als entsprechende Praxis, nämlich als unbedingt solidarische und versöhnungs­offene Weite erfahrbar werden lässt.

Der alte kirchliche Grundsatz, dass die Lex orandi, die Weise des Betens, die Lex credendi, die Weise des Glaubens, und von daher auch die Lex practicandi, die Weise des Handelns, be­stimmt, wäre eigens zu entfalten. Wer Gott über das hinaus, was wir wissen, was wir erfahren, wofür wir ihn benötigen, geradezu kontrafak­tisch auch noch in schlimmen Erfahrungen an­beten kann, wer also in dieser Weise doxologiefähig ist und darin zutiefst den unendlich ge­heimnisvollen, unverfügbaren Gott anerkennt, auch dann, wenn er/sie weder für zwischen­menschliches Verhalten noch für eigenes Wohl­ergehen „brauchbar“ ist, öffnet sich für ein uni­versal unendliches Gottesverständnis, das man nicht im Griff haben muss und kann und das allen Menschen und Religionen zugrunde liegt. Dann kann mit Gläubigen aller Religionen zu Gott als dem Geheimnis der ganzen Welt gebe­tet werden.

Die Doxologie ist auch die spirituelle Basis kirchlicher Leitungsverantwortung. Wenn es richtig ist, dass Paulus in 1 Tim 6,11-16 Timo­theus als „Mann Gottes“ und damit als einen, dem die Hände aufgelegt wurden, anspricht, dann gilt für ihn und für alle, die in der Kirche das Sagen haben, eben diese Erinnerung: „Er­fülle Deinen Auftrag rein und ohne Tadel, bis zum Erscheinen Jesu Christi, unseres Herrn, das zur vorherbestimmten Zeit herbeiführen wird der selige und einzige Herrscher, der Kö­nig der Könige und Herr der Herren, der allein die Unsterblichkeit besitzt, der in unzugängli­chem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat und noch je zu sehen vermag: ihm gebührt Ehre und ewige Macht (= doxa) Amen“. Wer diesen doxologischen Gebetshymnus nicht zu beten vermag, oder unehrlich betet, weil er nur die eigene Macht im Blick hat, und nicht Gott die letzte Ehre gibt, seinem allmächtigen Ge­heimnis genauso wie seiner ausdrücklichen Mahnung, die Menschen aufzurichten, ist nicht nur untauglich für kirchliche Leitung, sondern versündigt sich an Gott und den Menschen.[14]

Zusammenfassung: Im biblischen Lobpreis Gottes lässt der Mensch Gott größer sein als das eigene Ich und das eige­ne Volk, als die eigenen Vorstellungen und das menschliche Denken, als das Glück und das Leid, als die Nähe Gottes und seine Verdunkelung. Die „Ehre Gottes“, des Geheimnisvollen, in seiner Lie­be und Allmacht Unerschöpflichen, steht über allem und kann deshalb alles umfassen und tra­gen. Es ist die Anbetung Gottes als Gott, um sei­ner selbst willen, bezogen auf alle menschliche Erfahrung, aber von keiner abhängig.

Ottmar Fuchs ist Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Quelle: Bibel und Kirche, 63. Jahrgang, 1/2008, 22-27.


[1] Zur Wende von Klage zum Lobpreis im Psalm 22, Vers 22b, obgleich die Not noch nicht gewendet ist, vgl. Ottmar Fuchs, Die Klage als Gebet, München 1982.

[2] Artur Weiser, Das Buch Hiob (Das Alte Testament Deutsch 13), 4/1963, 33.

[3] Ulrike Bechmann, Das Lied der Weisheit, in: dies./Klaus Bieberstein, Weisheit im Leiden. Ijobs Ringen und das Lied der Weisheit in Ijob 28, Stuttgart 2007, 39-77, 60.

[4] Ebd. 64.

[5] Weiser, Hiob 33.

[6] Zu dieser Polarität von Macht und Gnade als Kern der Lobspirituali­tät der Psalmen vgl. Dorothee Steiof, Das Gotteslob der Psalmen im Spannungsfeld von Macht und Gnade, in: Rainer Bucher/Rainer Krockauer (Hg.), Macht und Gnade, Münster 2005, 88-102.

[7] Vgl. Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtig­keit, Regensburg 2007, 97ff.

[8] Vgl. Elie Wiesel, Der Prozess von Schamgorod, Freiburg i.Br. 1987.

[9] Vgl. E. N. Mannheimer, Festgebete der Israeliten, Tel Aviv 1978, 1ff.

[10] Vgl. Karl Rahner, Die unverbrauchbare Transzendenz Gottes und unsere Sorge um die Zukunft, in: Schriften zur Theologie, Bd. 14, Ein­siedeln 1980, 405-421.

[11] Vgl. dazu das eindrucksvolle Buch von Mary Jo Leddy, Radical Gratitude, Orbis Bock 2002.

[12] Vgl. Fuchs, Das Jüngste Gericht, 110-165.

[13] Vgl. Fuchs, Das Jüngste Gericht, 137-153.

[14] Vgl. Johannes Panhofer/Matthias Scharer/Roman Siebenrock (Hg.), Erlöstes Leiten, Ostfildern 2007.

Hier der Text als pdf.

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