Wofür ist das Christentum gut?
Von Timothy Radcliffe
Während eines Abendessens vor einigen Jahren reichte mir ein Freund, ein Professor für Religionssoziologie, eine Frage weiter, die ihm sein jugendlicher Sohn gestellt hatte: „Warum sollten wir Christen sein? Wofür soll das gut sein?“ Zunächst überraschte mich die Frage. Wenn das Christentum wahr ist, braucht es keinen anderen Zweck außer Gott. Wir beten Gott nicht an, um eine Gegenleistung zu bekommen. Meister Eckhart meint dazu, „Manche Leute … wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die hebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“[1] Somit wäre es frevelhaft, Gott möglicher Vorteile wegen zu lieben.
Mein Freund ließ aber von der Frage nicht ab: „Was haben Sie davon? Was macht das Christsein aus?“ Wenn Jesus gekommen ist, damit wir das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10), muss sich das irgendwie in unserem christlichen Leben niederschlagen. Es muss irgendeine rätselhafte Qualität in unserem Leben geben, die Menschen fasziniert und auf unsere Teilnahme an Christi Tod und Auferstehung hindeutet. Kardinal Suhard, Erzbischof von Paris in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, schrieb: „Zeuge sein heißt nicht Propaganda treiben, ja nicht einmal verblüffen, sondern ein Mysterium bilden. Es heißt so leben, dass das Leben unverständlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“[2] Es bedeutet keinesfalls, dass Christen bessere Menschen sind. Eine solche Behauptung wäre abstoßend. Da die Welt häufig meint, wir wären aber dieser Ansicht, genießt sie es umso mehr, unsere Sünden aufzudecken. Jesus hat jedoch gesagt, er sei gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten (Mk 2,17), und das tut er immer noch. Was ist also das Besondere an einem christlichen Leben? In meinem Buch What Is the Point of Being a Christian? untersuche ich das.[3] Zusätzlich zu den in diesem Beitrag behandelten Themen – Hoffnung, Freude, Freiheit, Mut und Körperlichkeit – beleuchte ich, wie unser Glaube unser Verständnis von Wahrheit, Gemeinschaft und Ruhe berührt.
Am Leben zu sein ist mehr als ein biologischer Zustand. Wir gedeihen, indem wir auf Gott als denjenigen gerichtet sind, in dem wir Erfüllung, Glück und Freiheit finden. So zu leben bedeutet, sich nach vorn, auf die Zukunft hin, auszurichten. Wenn wir nicht hoffen, dann leben wir in gewisser Weise nicht menschlich. Wir sind erfüllt von einem „Sehnen nach Unsterblichkeit“[4], einem Hunger nach dem Transzendenten, der gestillt wird, weil Gott nie etwas erschafft, das dazu verdammt ist, für immer unbefriedigt zu bleiben.
Die westliche Gesellschaft wurde in den letzten Jahrhunderten durch den Optimismus der Aufklärung aufrechterhalten, der durch die Errungenschaften der industriellen Revolution weiter befeuert wurde. Wir schienen auf einer Welle unvermeidlichen Fortschritts nach vorne getragen zu werden. Diese Zuversicht ist durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, das Grauen des Holocausts und die Obszönität der Atombomben erschüttert worden, die Hunderttausende unschuldiger Zivilisten und Zivilistinnen in Nagasaki und Hiroshima getötet haben. Sie erfuhr ein letztes trotziges Aufblühen in den wilden 60er Jahren. Jetzt aber steht unsere Jugend da, konfrontiert mit einer unsicheren Zukunft, mit den möglicherweise katastrophalen Folgen des Klimawandels und mit der Zunahme der gewalttätigen Formen des Fundamentalismus auf allen Kontinenten der Erde.
Seit dem Schwarzen Tod in Europa hat eine Gesellschaft wohl nie so sehr der Hoffnung bedurft wie heute. Die Aufklärung wurde durch das Vertrauen in eine Zukunft getragen, die wir selbst schaffen konnten, das jedoch führte zur Brutalität der Regime des 20. Jahrhunderts, die Menschen nach ihrem Willen beugten. Hugh Rayment-Pickard schrieb: „Wenn es einmal einen Plan gibt, muss er implementiert werden, und die Ressourcen für diesen Plan müssen überwacht und verwaltet werden. Diejenigen, die gegen den Plan sind oder nicht kooperieren, müssen auch „verwaltet“ werden. Das ganze Projekt, eine geplante Zukunft herbeizuführen, erfordert die Auferlegung der ‚instrumentellen Vernunft‘, wie Adorno und Horkheimer es genannt haben: eine kontrollierende Rationalität, die die gesamte Natur für ihre gewählten Zwecke in Dienst nimmt.“[5]
Die christliche Hoffnung wird häufig dann entdeckt, wenn der Plan abhandengekommen ist und wir keinen Weg nach vorn sehen. Dantes Reise in das Paradies begann, als er „vom graden Weg [s]ich abgewandt“[6]. Dieses Verständnis von Hoffnung dämmerte mir am Ende eines grauenhaften Tages zu Beginn des Völkermords in Ruanda, an dem ich durch das Land gereist bin, ein Flüchtlingslager besucht habe und vor allem mit einer Krankenstation voller durch Landminen verstümmelter Kinder konfrontiert wurde. Als wir uns am Abend mit unseren dominikanischen Schwestern trafen, was konnte ich da sagen? Welche möglichen Worte der Hoffnung konnten ausgesprochen werden? Es gab jedoch etwas zu tun. Wir konnten uns an die Worte Jesu erinnern, die er am Abend vor seinem Sterben sagte, als es schien, dass es keine Zukunft außer Golgota gab. Er vollzog einen Akt, der nach einer Hoffnung griff, die damals nicht in Worte gefasst, sondern nur durch Gesten signalisiert werden konnte: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“
Unsere Herausforderung besteht darin, schöpferische Gesten zu finden, die nicht nur von unserer Hoffnung sprechen, sondern auch Zeichen dafür sind, dass das, was wir ersehnen, in uns bereits im Keim lebendig ist. Eine solche Geste, die mich bis heute begleitet, ist die Christmette mit Pedro Meca OP, dem Kaplan für die Obdachlosen in Paris, an der ich im Jahre 1996 teilgenommen habe. Jedes Weihnachten stellt er mitten in Paris ein großes Zelt auf, in dem auf einem Altar aus Pappe die Mette für 1000 Menschen gefeiert wird, die außer Pappe kein Obdach haben. Die Freude dieses Festes war ein Vorgeschmack von der Zukunft, von jenem Reich, in dem niemand Demütigung oder Hunger oder Leid ertragen muss, da wir in Gott zu Hause sein werden. Wir brauchen die Fantasie und den Mut für solche Gesten, die auf unsere Hoffnung hinweisen, die jenseits unserer Worte liegt.
Die Freude jener Christmette war nicht nur ein angenehmes Gefühl. Sich zu freuen heißt, menschlich lebendig zu sein. Das spanische Wort alegria ist lateinischen Ursprungs und wurde zunächst wohl auf Tiere, vor allem auf Pferde bezogen. Alacer equus war ein lebhaftes, feuriges, schwungvolles Pferd, das vor Leben strotzt, umherspringt und herumtollend mit den Hufen scharrt. Und unsere christliche Freude ist der Beginn unserer Teilnahme am Leben Gottes. Die Freude Gottes ist kein göttliches Gefühl. Sie ist das Sein Gottes, das „Ich bin“, dem Mose in der Wildnis begegnete. In der Tat vergleicht Eckhart die Freude Gottes mit der Überschwänglichkeit eines Pferdes, das auf seiner Koppel umhergaloppiert.
Wie bei David, der vor der Bundeslade tanzte, soll diese Freude in unsere Gottesdienste überströmen:
„Lobt ihn mit dem Schall der Hörner, lobt ihn mit Harfe und Zither!
Lobt ihn mit Pauken und Tanz, lobt ihn mit Flöten und Saitenspiel!
Lobt ihn mit […] klingenden Zimbeln! Alles, was atmet, lobe den Herrn!“(Ps 150,3-5)
Leider ist die gängige Feier der Sonntagseucharistie alles andere als ekstatisch! Am Ostermorgen tanzen Bischöfe und Klerus nicht mehr in ihren Kathedralen, wie einst im Mittelalter. Diese Festlichkeit markierte den Anfang der Predigt Jesu, der Wasser in Wein verwandelte. Seine Freude war seine Autorität, selbst wenn er Menschen schockierte, indem er mit Sündern feierte. Sie ist auch unsere primäre Autorität.
Es überrascht nicht, dass die frühen Dominikaner und Dominikanerinnen für ihren Frohsinn bekannt waren und dass ihre Hauptmetapher für das Evangelium „der neue Wein, der dich berauscht“ lautete. Die Heilige Katharina von Siena schrieb an Fra Bartolomeo: „Macht es wie einer, der sich berauscht und dabei sich selber verliert und nicht mehr sieht.“[7] Sie schrieb ferner: „Tun wir wie der Berauschte: er denkt nicht mehr an sich, nur an den Wein, den er trank und von dem ihm zu trinken übrigbleibt.“[8] Es scheint, als sei der Genuss von Wein bei den Brüdern nicht immer nur metaphorisch gewesen!
Christliche Freude kann bedrückend sein, wenn sie eine erzwungene Fröhlichkeit ist. Nichts kann deprimierender sein als zu hören: „Sei glücklich, weil Jesus Dich hebt.“ In der Tat hat eine für die Kirche von England durchgeführte Umfrage festgestellt, dass sich viele junge Menschen verpflichtet fühlen, glücklich zu sein, und deshalb Momente der Traurigkeit als Versagen und ein Zeichen ihrer Unzulänglichkeit erfahren. „Traurigkeit wird angesichts .erreichbaren‘ Glückseins nicht leicht eingestanden. Daher könnte für junge Menschen Traurigkeit eine machtvolle Quelle verborgener Scham und Einsamkeit sein.“[9] Sie ist mit ein Grund für die Epidemie von Selbstmorden auf der ganzen Welt.
In den Evangelien ist das Gegenteil von Freude jedoch nicht Traurigkeit. In den Seligpreisungen wird uns gesagt: „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). In den Evangelien ist das Gegenteil von Freude Hartherzigkeit, die uns vom Glück oder Leid der anderen isoliert. Wir beten, dass uns unser Herz aus Stein entnommen und uns ein Herz aus Fleisch gegeben wird. Traurigkeit erweicht das Herz und schaufelt einen Platz für Freude frei. Daher waren die fröhlichsten Heiligen wie Dominikus und Franziskus zugleich auch die traurigsten. Andernfalls wäre jedes Glück, das wir erwerben könnten, eine selbstsüchtige Flucht aus unserem eigenen Fleisch und Blut.
Nach den synoptischen Evangelien war das Letzte Abendmahl ein Passahmahl, die Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Gefangenschaft in Ägypten. Es wurde behauptet, dass Judas Jesus verraten habe, weil er enttäuscht gewesen sei. Jesus schien die verheißene Befreiung von der Unterdrückung durch die Römer nicht herbeizuführen, und deshalb fühlte sich Judas betrogen. Aber die letzten Worte Jesu an Judas waren: „Freund, dazu bist du gekommen?“ Vielleicht ist dies das Angebot einer tiefergehenden Befreiung, selbst einer von unserem schwerwiegendsten Scheitern.
Die Europäische Wertestudie, die alle zehn Jahre veröffentlicht wird, zeigt regelmäßig, dass der am meisten geschätzte Wert der westlichen Gesellschaft Freiheit ist, und dennoch fühlen sich viele Menschen gefangen: durch Armut, durch ihr genetisches Erbe, durch ihre Erziehung, durch politische Systeme, die ihnen das Gefühl der Ohnmacht vermitteln, oder durch persönliches Versagen. Auch die „freie Welt“ ist von einem weit verbreiteten Gefühl des Opferseins geprägt. Und die Freiheit, nach der wir dürsten, wird oft lediglich einengend als Verbraucher-Wahl verstanden, die hohle Freiheit, zwischen fast identischen Produkten zu wählen. Deshalb soll das Christentum die äußerst ansprechende Freiheit Christi verkörpern, denn danach sehnen wir uns.
Jesu Freiheit brach sich in seiner Spontaneität Bahn. Im Markusevangelium wird das Wort euthus, „sofort“, mit Jesus in Verbindung gebracht. Jesus handelt ohne Zögern. Spontaneität bedeutet nicht, das Erste zu tun, was einem in den Sinn kommt. Jesus handelt aus der Mitte seines Seins. Seine Handlungen entspringen dem, was er ist. Wie bei der Freude ist dies eine paradoxe Freiheit, die mit einschließt, was ihr Gegenteil zu sein scheint. Jesus ist frei, weil er spontan den Willen seines Vaters tut. Dies ist die tiefgründige Freiheit, das zu tun, was er tun muss. „Dann begann er, sie darüber zu belehren, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen.“ (Mk 8,31) Letztlich ist das die Freiheit, sein Schicksal anzunehmen.
Cornelius Ernst OP schrieb:
„Was wir zunächst bei Jesus und dann bei uns selbst vor allem verstehen müssen, ist, dass Gottes Bestimmung für den Menschen einen Übergang, einen Aufstieg, einen Eingang in die Tiefen der Zielsetzung Gottes und so ihre Erfüllung beinhaltet. Menschliche Freiheit wird nur in der Dimension der Bestimmung, in der sie wirklich ausgeübt wird, angemessen geschätzt. Im Laufe unseres alltäglichen Lebens ergeben sich für die Freiheit Entscheidungen; der grundlegende Sinn dieser Entscheidungen kann nur dann beurteilt werden, wenn sie unter dem Gesichtspunkt unserer endgültigen Bestimmung bewertet werden. Tatsächlich sind die richtungsweisenden Entscheidungen diejenigen, in denen unsere Bestimmung aufgrund der Entscheidung auf neue Weise sinnvoll wird. Die Bestimmung ist nämlich kein Schicksal, das uns von einer fremden und unergründlichen Macht auferlegt wird. Die Bestimmung ist der Ruf und die Einladung des Gottes der Liebe, die besagen, dass wir in hebender und schöpferischer Zustimmung auf ihn antworten sollen.“[10]
Sofern man meint, wir seien nicht von genau dieser Freiheit betroffen, wird unseren Worten der Kontext fehlen, in dem sie Sinn ergeben könnten. Die Kirche wird jedoch meist als Ort ängstlicher Furcht gesehen, da sie strenge Grenzen zieht. Somit wird unsere Morallehre als einengend, als die Unterwerfung unter externe Kontrolle gesehen und nicht als etwas, das uns dazu befreit, in Christus wir selbst zu sein und die Freiheit der eigenen Kinder Gottes zu genießen. Als Petrus von einem Engel aus dem Gefängnis befreit wurde (Apg 12), dachte er zunächst, es sei eine Vision. Auch unsere Hände wurden von den Fesseln befreit, aber glauben wir das? Wenn wir das nicht glauben, warum sollten wir dann erwarten, dass unsere Zuhörer es glauben?
Mut ist eine Tugend, die allgemein geachtet wird, und Feigheit ist laut Screwtape im Buch von C. S. Lewis „schrecklich vorauszuahnen, grässlich zu fühlen, entsetzlich, sich daran erinnern zu müssen“[11]. Das heidnische Rom wurde wohl aufgrund des Mutes der Märtyrer bekehrt. Die Art, wie sie dem Tod entgegentraten, war der notwendige Kontext dafür, dass ihre Worte von der Königsherrschaft Christi oder von der Auferstehung überhaupt einen Sinn ergaben. Die zentrale Stelle der Märtyrer in der Frühkirche könnte morbide und Leben verneinend erscheinen, aber G. K. Chesterton schrieb, Mut sei „fast eine contradictio in terminis. Er bedeutet einen starken Wunsch zu leben, der die Form der Bereitschaft zum Sterben annimmt.“[12] Vor dem Märtyrertod davonzulaufen wäre die Verleugnung ihrer Hoffnung, die Dämpfung ihrer Freude und der Verzicht auf ihre Freiheit gewesen. Wie sie sich dem Tod stellten, machte sichtbar, was es heißt, vollkommen lebendig zu sein.
Für Aristoteles gilt der tapfere Soldat als das Hauptbeispiel für Mut. Nach Thomas von Aquin zeigen wir Mut vor allem durch Ausharren, und das sogar gepaart mit Freude.[13] Das ist der Mut, den wir heute brauchen. Die Enthüllungen von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute sind eine Schande für die Kirche; Bischöfe haben diesen Skandal schändlich verheimlicht; im Westen schwören viele Menschen ihrer Taufe ab, die Zahl der Gemeindemitglieder sinkt und die Kirche scheint zu wanken. Bis jetzt gibt es kein Anzeichen dafür, dass wir die Krise hinter uns haben. Sie könnte noch Jahre andauern. Wir brauchen den christlichen Mut, durchzuhalten und dabei auf Christus zu warten. Nach Kardinal Newman ist der Christ jemand, der auf Christus harrt.[14] Das ist keine hilflose Passivität. Der Rhythmus des liturgischen Jahres lehrt uns, aktiv zu warten, alle unsere Sinne für die Zeichen der Gegenwart Christi unter uns und die kleinen Kostproben des endgültigen Sieges zu öffnen.
Mut, wie Feigheit, steckt an. Wir wählen, welche wir mit anderen teilen. Im Gefängnis auf Robben-Island haben Nelson Mandela und seine Freunde ihren Mut am Leben erhalten, indem sie einander verborgene Botschaften unter Klodeckeln hinterließen oder in Sträuchern versteckten. Das englische Wort für Vertrauen, „confidence“, wird von confidens abgeleitet, das heißt „zusammen glauben“. Natürlich brauchen wir den Mut, die Vergehen der Kirche mit offenen Augen anzuschauen, aber wir unterstützen einander auch durch das Weitergeben der frohen Botschaft der mit uns verbundenen Mitglieder des Leibes Christi, die ihres Glaubens wegen selbst heute noch Verfolgung erleiden und die das Leben der Ärmsten der Armen teilen und ihre Hoffnung an den dunkelsten Orten bezeugen. Hierüber wird nicht oft in der Presse berichtet. Wir stützen uns gegenseitig in unserem Mut, nicht durch einen blinden Optimismus, sondern durch das Teilen von Zeichen der Hoffnung miteinander.
Mut verlangt auch, dass wir akzeptieren, verwundbare sterbliche Wesen zu sein. Wir alle werden hin und wieder verletzt und es ist sicher, dass wir sterben werden. Wir sind beseelte Körper. Deswegen benötigt unser christlicher Glaube Verkörperung. In Rom waren die Heiden nicht nur von dem Märtyrertod der Christen beeindruckt, sondern auch von ihrer Pflege der Körper von Kranken jedweder Religion. Der Körper ist wesentlich für die meisten unserer großen Glaubenslehren: Schöpfung, Inkarnation, Auferstehung, das Menschsein und das Gottsein Christi, die Realpräsenz. Nahezu alle Sakramente heiligen Schlüsselmomente unseres körperlichen Lebens: Geburt und Tod, Essen und Trinken, Krankheit und Sexualität. Unsere Erlösung vollzieht sich in unserem körperlichen Leben. In dem Film Billy Elliot, der Geschichte eines Arbeiterjungen, der Balletttänzer werden möchte, wird der Held gefragt, was er fühlt, wenn er tanzt. Er antwortet: „Elektrizität“. Gnade elektrisiert unseren Körper. Deshalb beten wir mit unserem Körper: Wir stehen auf und setzen uns, wir verneigen uns und knien, wir tanzen und gehen bei Prozessionen mit. Etty Hillesum, eine niederländische Jüdin, starb im Jahre 1943 in Auschwitz. Ein Teil ihrer Reise bestand darin, niederknien zu lernen. „Ein Verlangen, mich hinzuknien, pulsiert manchmal durch meinen Körper, oder genauer gesagt, es ist, als ob mein Körper für den Akt des Kniens bestimmt und gemacht worden ist.“[15] Die neun Gebetsweisen des Heiligen Dominikus waren alle mit körperlichen Gesten verbunden, was gut zu jemandem passt, dessen Sendung der Kampf gegen die körperfeindlichen Lehren der Albigenser war.
Der Dualismus ist die Versuchung gewesen, gegen die das Christentum von Anfang an zu kämpfen hatte. Das ist auch heute noch so. Die zeitgenössische Trivialisierung der Sexualität wurzelt in einer Art Verachtung des Körpers. Auch wenn, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, die Sexualethik nicht das Hauptanliegen des christlichen Morallebens ist, bleibt eine Vision der Bedeutung unserer Sexualität symptomatisch für unsere Liebe zu unserem Körper und für seine Wertschätzung. Ich glaube, dass die Grundzüge einer christlichen Ethik in der hoffnungsvollen Geste Jesu wurzeln: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Eine angemessene Sexualethik lebt die Großzügigkeit, die Verletzlichkeit und die Treue des Sich-selbst-Schenkens Jesu aus.
Eine Gesellschaft, die fürchtet, unsere Leiblichkeit anzunehmen, wird auch vor dem Tod fliehen. Saul Bellow sagte, die „Unkenntnis des Todes zerstört uns.“[16] Er ist der dunkle Hintergrund, den ein Spiegel braucht, bevor uns irgendetwas klar wird. Mut heißt nicht, furchtlos zu sein, sondern nicht zum Gefangenen der eigenen Angst zu werden. Als der Herzog von Norfolk dem Heiligen Thomas Morus sagte, er müsse vorsichtig sein, weil „des Prinzen Zorn tödlich ist,“ entgegnete Thomas: „Ist das alles, mein Herr? Dann ehrlich gesagt, gibt es keinen anderen Unterschied zwischen Eurer Hoheit und mir, als dass ich heute sterben werde und Ihr morgen.“[17]
Folglich sollte das Christsein zu etwas gut sein. Unsere Worte bedeuten gar nichts, wenn sie sich nicht darin verkörpern, wie wir auf besondere Weisen lebendig sind. Wir haben eine seltsame Hoffnung, die sich genau dann offenbart, wenn es keine Zukunft zu geben scheint; wir haben eine Freude, die groß genug für Trauer ist; und wir haben eine Freiheit, die darin gipfelt, dass wir unser Leben weggeben. Das alles verlangt von uns den Mut, der eine so starke Liebe zum Leben ist, dass wir bereit sind zu sterben, und es verlangt auch die Wert Schätzung unserer körperlichen Existenz. Wenn Menschen einem solchen lebendigen, hoffnungsvollen, freien Glauben nicht begegnen, dann sind alle unsere Evangelisierungsversuche reine Zeitverschwendung. Unsere Worte wären leeres Geschwätz.
Aus dem Englischen übersetzt von Martha M. Matesich.
Timothy Radcliffe OP, geb. 1945 in London, trat 1965 dem Dominikanerorden bei, studierte in Oxford und Paris, war Professor der Theologie in Oxford, gehörte zur Friedensbewegung und arbeitete in der Seelsorge für Menschen mit Aids. 1982-1988 war er Prior von Oxford, 1988-1992 Provinzial der Dominikaner in England und 1992-2001 Ordensmeister (Generaloberer) des Dominikanerordens. Er bezeichnet sich heute als Wanderprediger und Vortragsreisender und hat Ehrendoktorate von Oxford und Universitäten in Frankreich, Italien und den USA inne. Veröffentlichungen u. a.: I Call You Friends (2003): Seven Last Words (2005); Why Go to Church? The Drama of the Eucharist (2008). Für CONCILIUM schrieb er zuletzt über „Theologie – eine Aufgabe, die mit Freude erfüllt“ in Heft 4/2000. Anschrift: Blackfriars, St Giles, Oxford 0X1 3LY, Großbritannien. E-Mail: timothy. radcliffe@english.op.org.
Concilium 47 (2011), S. 118-125.
[1] Predigt 16b, in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 1: Meister Eckharts Predigten, hg. v. Josef Quint, Stuttgart 1958, 274.
[2] Kardinal Suhard, Der Priester in der Welt des Menschen („Le Prêtre dans la Cité“, Hirtenbrief, 1949), Luzern/ München 1961, 103.
[3] Timothy Radcliffe, What Is the Point of Being a Christian? London/New York. 2005. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt; demnächst erscheint es auch auf Deutsch.
[4] William Shakespeare, Antonius und Cleopatra, fünfter Aufzug, 2. Szene.
[5] Hugh Rayment-Pickard, The Myths of Time: From St. Augustine to American Beauty, London 2004, 119.
[6] Dante Alighieri, Die Hölle, erster Gang.
[7] Caterina von Siena, Sämtliche Briefe An die Männer der Kirche I, hg. v. Werner Schmid, St. Pölten 2005, Brief 208 an Fra Bartolomeo Dominici, 57.
[8] Caterina von Siena, Gotteserfahrung und Weg in die Welt, hg., eingel. u. übers, von Louise Gnädinger, Olten/Freiburg im Breisgau 1980, Brief an Madonna Regina, 59.
[9] Sara Savage u.a., Making Sense of Generation Y: The World View of 15-25 Year-Olds, London 2006, 48.
[10] Cornelius Ernst, The Theology of Grace, Dublin 1974, 81.
[11] C. S. Lewis, Dienstanweisung für einen Unterteufel, Freiburg 1958, St. Gallen 1944, 128.
[12] Gilbert Keith Chesterton, Das Abenteuer des Glaubens. Orthodoxie, hg. von Peter Schifferli, (Christliches England, Bd. II), Olten 1947, 156.
[13] Thomas von Aquin, S.th. H-II, q. 136, art. 4, ad 2, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 21: Tapferkeit, Maßhaltung (1. Teil), II-II, 123-150, Heidelberg u.a. 1964, 199f.
[14] Vgl. John Henry Newman, Pfarr- und Volkspredigten, Bd. 3, Predigt 25: „Der Zwischenzustand“, Stuttgart 1951, 403ff.
[15] Etty Hillesum, A n Interrupted Life: The Diaries of Etty Hillesum 1941-1943, übersetzt v. A. J. Pomerans, London 1996, 129. In der deutschen Ausgabe der Tagebücher (Das denkende Herz, Freiburg u.a. 1983) ist der zitierte Satz nicht enthalten (Anm. d. Red.).
[16] Gloria L. Cronin/Ben Siegel (Hg.), Conversations with Saul Bellow, Jackson, Miss. 1994, 228.
[17] William Roper, The Life of Sir Thomas More, Knight (ca. 1556), in: Gerard B. Wegemer/Stephen W. Smith (Hg.), A Thomas More Source Book, Washington, D.C. 2004, 50.