Das innere Gebet – Begegnung mit Christus
Von Henri Caffarel
Wir wollen einen ersten Aspekt des inneren Gebets erwägen: «Das Gebet ist Begegnung des Christen mit Jesus Christus.» Wenn ich hier lieber von Christus als von Gott spreche, so deshalb, weil Gott sich durch und in Christus zu erkennen geben wollte.
Christus ist gekommen, um uns an sich zu ziehen und uns mit sich und in sich zum Vater zu fuhren und uns dadurch in die Tiefe des Mysteriums Gottes eindringen zu lassen.
Wie bei jeder Begegnung sind im Gebet beide Personen aktiv. Christus führt uns auf geheimnisvolle Weise in seine Gedanken, sein Empfinden, seinen Willen ein und verwandelt uns. Der Mensch soll seinerseits alle Kräfte darauf richten, zu hören, zu verstehen und Antwort zu geben.
Im folgenden soll auf drei Punkte eingegangen werden: Im Evangelium Christus kennenlernen wollen, um die Frage beantworten zu können «Wer ist Christus?» Was empfindet Christus für mich? Wie reagiere ich?
Wer ist Christus?
Um eine persönliche Beziehung mit Christus knüpfen zu können, muß ich Ihn zuerst kennenlernen.
Und ganz grundlegend lerne ich Ihn im Evangelium kennen.
Fünfunddreißig Jahre priesterlichen Wirkens als Familienseelsorger haben mich gelehrt, daß die Liebe abnimmt, wenn man aufhört, den anderen kennenlernen zu wollen, und daß sie lebendig bleibt, wenn die Aufmerksamkeit füreinander wachgehalten wird. Genauso ist es auch in unserer Beziehung zu Christus.
Daher muß man im Evangelium Jemanden suchen. Wenn man eine mathematische Abhandlung studiert, so stellt man keine Fragen nach dem Seelenzustand des Autors, sondern sucht lediglich eine Information. Die junge Frau hingegen sucht im Brief ihres Verlobten — über das explizit Geschriebene hinaus – begierig nach den inneren Regungen, dem Reichtum des Herzens oder nach der Gestimmtheit seiner Seele. Ebenso sollte man auch das Evangelium lesen.
Doch genügen Intelligenz und Intuition nicht, wenn man sich dieser Lektüre hingibt. Erinnern wir uns: am Abend des Ostertages erscheint Christus ganz plötzlich inmitten seiner versammelten Jünger und «öffnete ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift» (Lk 24,45). Bitten wir um eben diese Gnade, wenn wir unser Evangelium zur Hand nehmen.
Wir werden im Evangelium an erster Stelle die Worte, das Verhalten, die Taten und die Gesten Jesu Christi suchen. Das ist wesentlich. Aber man muß darüber hinausgehen und das entdecken, was ich sein inneres Antlitz nennen möchte. Es gilt, zu den verborgenen Bereichen seiner Persönlichkeit vorzustoßen, zur lebendigen Mitte, von der die Taten, Gesten und Worte Christi ausgehen, und zur Tiefe seines Herzens zu gelangen. Betrachten wir in diesem Geist einige Szenen.
Es ist die Liebe, die Ihn die Kinder, die Ihm entgegenlaufen, umarmen läßt. Es ist die Liebe, die sein Mitleid mit der trauernden Witwe erregt, die Ihn zu ihrem toten Sohn fuhrt. Es ist die Liebe, die Ihm jene Worte eingibt, welche die mißtrauische Samariterin Vertrauen schöpfen lassen. Und wieder ist es seine Liebe, die Ihn zum Schluchzen bringt, als Maria Ihm den Tod ihres Bruders Lazarus mitteilt. Die Juden, die zueinander sagen: «Seht, wie lieb er ihn hatte», begreifen das.
Wenn Christus nicht auf die Erde gekommen wäre, wenn Er die Menschen nicht geliebt hätte, könnte man denken, daß die Liebe eines Gottes eher eine furchterregende als anziehende und aufbauende Realität ist — wie bei jenem Helden in Graham Greenes Roman, der ausruft: «Die Liebe Gottes! Sie zündete einen Busch in der Wüste an, nicht wahr? Und riß Gräber auf und ließ die Toten im Dunkeln wandeln? Oh, ein Mensch wie ich würde eine Meile weit davonlaufen, wenn er diese Liebe um sich fühlte» (Die Kraft und die Herrlichkeit).
Ein Mißverständnis ist für den, der das Evangelium meditiert, unmöglich. Die göttliche Liebe, die durch das menschliche Herz Christi zum Ausdruck gebracht wird, zeigt sich herzlich, warm, demütig, zuvorkommend und mitleidend.
Als Christus zur Samariterin sagte: «Wenn du die Gabe Gottes kennen würdest» (Joh 4,10), spielte Er auf diese unvergleichliche Liebe an, zugleich aber auch auf eine noch bewundernswertere Wirklichkeit: die Gabe des göttlichen Lebens. In einem alten Sprichwort heißt es: «Freundschaft trifft entweder auf Gleichheit oder sie schafft sie». Wenn der König eine Hirtin liebt, macht er aus der Hirtin eine Königin. Wenn der Sohn Gottes einen Menschen liebt, macht er aus einem Menschensohn einen Gottessohn! Es gibt zahlreiche Worte Christi, die diese Gabe des göttlichen Lebens betreffen: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» (Joh 10,10). «Ich bin das Leben» (Joh 14,6).
Die Freundschaft Christi, das «Leben» Christi — das sind die beiden Komponenten der «Gabe Gottes» an die Menschen.
Fassen wir unseren ersten Punkt zusammen: wer beten will, muß entschlossen das Evangelium in die Hand nehmen und es nicht mehr loslassen, sondern täglich darauf zurückkommen. Je mehr die Jahre vergehen, desto mehr wird das Antlitz Christi anschauliche Züge annehmen und desto mehr wird der Beter die «Gabe Gottes» zu schätzen wissen.
Wer ist Christus für mich?
Es genügt nicht, die Frage: «Wer ist Christus?» zu beantworten. Man muß sich darüber hinaus noch fragen: «Wer ist Er für mich?» Während des Gebetes werde ich mein Bestes tun, seine Liebe zu mir zu entdecken. Mit vier Aspekten dieser Liebe wollen wir uns näher befassen.
Er liebt mich seit jeher. Durch eine Erzählung wird der dahinterliegende Gedanke fur uns vielleicht besser nachvollziehbar als durch abstrakte Überlegungen. Einer meiner Freunde erzählte mir eine Erinnerung aus seiner Kindheit. Seine Mutter hatte ihm einmal während eines Sommerspazierganges auf dem Land gesagt: «Weißt du, François, ich liebe dich schon seit mehr als 12 Jahren.» Der Junge erwiderte mit seiner kindlichen Logik: «Das ist nicht möglich, denn da gab es mich noch gar nicht.» «Und doch ist es wahr», ergriff die Mutter wieder das Wort, «als ich noch ein Mädchen war, liebte ich bereits den Sohn, den ich später einmal haben würde.» Noch dreißig Jahre später war dieser Mann ganz bewegt, als er von dieser Erinnerung sprach.
Gott hat mich seit Ewigkeit erdacht, oder vielmehr: Er ersinnt mich aus Liebe — in seinen Gedanken und in seinem Herzen; Er liebt mich seit Ewigkeit.
Er liebt mich persönlich. Manche Menschen «lieben» uns anonym, ohne uns anzuschauen, ohne uns zu kennen, weil es ihren Interessen entgegenkommt, zu uns nett zu sein. Christus liebt uns nicht wie die Sonne, die ihr Licht und ihre Wärme den Wäldern und Meeren, den Tieren und Menschen unterschiedslos schenkt, nicht nur als Teil dieser Menschheit, die Ihm teuer ist, sondern Er liebt mich als einzigartiges Wesen ganz persönlich. Blaise Pascal legte Christus die Worte in den Mund: «Ich habe an dich in meiner Todesangst gedacht; ich habe diesen Blutstropfen für dich vergossen.»
Er liebt mich, so wie ich bin. Wäre das nicht der Fall, müßte ich, wenn ich mir beim Gebet einer persönlichen Schuld bewußt bin, versucht sein zu denken: «Daß Er mich persönlich liebt, will ich gerne glauben, aber liebt Er mich auch als Sünder?» Die Erfahrung im Umgang mit verheirateten Menschen hat mich gelehrt, daß einen Menschen zu lieben bedeutet, ihn zu lieben, wie er ist. Wie oft habe ich zu einem Mann oder zu einer Frau, die mir von ihrem Ehepartner sprachen, gesagt: «Wenn Sie warten und ihn erst lieben, wenn er so sein wird, wie Sie ihn sich erträumen, können Sie bis in Ewigkeit warten und selbst dann garantiere ich Ihnen nicht, daß er so sein wird, wie Sie ihn sich wünschen!»
Im Gebet liebt Christus mich so, wie ich bin, mit meinen guten und mit meinen schlechten Seiten, mit meinen Tugenden und meinen Schwächen, und nach und nach hilft Er mir, so zu werden, wie Er mich möchte.
Er schaut mich mit Liebe an. Die Evangelien sprechen oft vom Blick Christi. Der Blick spielt in der menschlichen Kommunikation eine so große Rolle. Eines Tages kam ein junger Mann zu Jesus und der Evangelist Markus schreibt: «Da sah ihn Jesus an und weil er ihn liebte, sagte er…» (10,21).
Möge ich daher während der Gebetszeit spüren, wie dieser Blick Christi auf mir ruht, der mich persönlich meint und mich liebt, so wie ich bin.
Auf die Liebe Christi reagieren
Da das Gebet eine Begegnung zweier Personen ist, werde ich mich nicht damit zufriedengeben, Christus kennenlernen zu wollen und herauszufinden, wer Er für mich ist, sondern ich werde reagieren und eine Antwort geben.
Erste Reaktion: Ich öffne mich der Liebe Christi. Wenn ich im Sommer nach dem Erwachen die Fensterläden öffne, durchflutet Sonnenlicht mein ganzes Zimmer. Diese Haltung der Offenheit gegenüber der Liebe Christi ist der Glaube; es ist ein wesentlicher Aspekt des Glaubens.
Zweite Reaktion: Ich gebe mich Christus hin und zwar so, wie ich bin, denn Er liebt mich so, wie ich bin. Wie ein Leintuch, das in der Sonne auf dem Rasen ausgebreitet ist, gebe ich mich hin: arm und wahrhaftig. Ich möchte das Wort wahrhaftig unterstreichen. So viele Menschen sind weder Gott, noch sich selbst, noch anderen gegenüber wahrhaftig. Lieben heißt, mich hingeben und zwar wahrhaft und unverstellt.
Dritte Reaktion — auch sie ist wieder eine Reaktion der Liebe: es ist die Reaktion des hl. Paulus auf dem Weg nach Damaskus: «Herr, was soll ich tun?» (Apg 22,10). Ich stelle mich Ihm zur Verfügung und im Verlauf des Gebetes bemerke ich allmählich, was seine Liebe von mir erwartet. Ich nehme mir fest vor, darauf zu antworten.
Vierte Reaktion: Hoffnung. Die Liebe zwischen zwei Menschen trachtet mit ihrer ganzen Spannkraft danach, in Besitz zu nehmen und in Besitz genommen zu werden. So verhält es sich auch Gott gegenüber. Wie könnte man diese Liebesgemeinschaft mit Ihm nicht ersehnen? Der Psalmist ruft aus: «Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?» (Ps 42,3). In einem betenden Menschen wachsen unablässig die Sehnsucht und die Hoffnung. Ich schließe mit dem Wort, das Christus zur hl. Katharina von Siena sprach: «Schaffe du weiten Raum in dir, und Ich werde Mich zum brausenden Wildbach machen.»
Übersetzt von Eva und Josef Außermair.
Quelle: Henri Caffarel, Weil Du Gott bist. Hinführung zum inneren Gebet, Einsiedeln: Johannes, 22002, S. 18-25.