Hans Joachim Iwand, Die Gegenwart des Kommenden. Eine Auslegung von Lukas 12 (1954): „Jahr um Jahr wird das Evangelium vom reichen Kornbauern am Erntedankfest verlesen. Mitten hinein in die Freude und das Glück über die Ernte, eine Freude, die wir wohl alle verstehen, denn wir haben erfahren, was Hunger und Hungersnot bedeu­tet — aber mitten hinein in dieses Glück der Geborgenheit erklingt eine Warnung. Der Tod wird sichtbar als Grenze aller unserer Möglichkeiten des Sammelns und Sorgens. Das Erntefest und und der Tod — das ist eine seltsame Zusammenstellung.“

Die Gegenwart des Kommenden. Eine Auslegung von Lukas 12

Von Hans Joachim Iwand

I

Es lief das Volk zu und kamen etliche Tausend zusammen, also daß sie sich untereinander traten. Da fing er an und sagte zu seinen Jüngern: Zum ersten hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, welches ist die Heuchelei. Es ist aber nichts verborgen, das nicht offenbar werde, noch heimlich, das man nicht wissen werde. Darum, was ihr in der Finsternis saget, das wird man im Licht hören; was ihr redet ins Ohr in den Kammern, das wird man auf den Dächern predigen. Ich sage euch aber, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. Ich will euch aber zeigen, vor welchem ihr euch fürchten sollt: Fürchtet euch vor dem, der, nach­dem er getötet hat, auch Macht hat, zu werfen in die Hölle. Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch. Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zwei Pfennige? Dennoch ist vor Gott deren nicht einer vergessen. Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser denn viele Sperlinge. Ich sage euch aber: wer mich bekennet vor den Menschen, den wird auch des Menschen Sohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes. Und wer da re­det ein Wort wider des Menschen Sohn, dem soll es vergeben werden; wer aber lästert den Heiligen Geist, dem soll es nicht vergeben werden. Wenn sie euch aber führen werden in ihre Schu­len und vor die Obrigkeit und vor die Gewaltigen, so sorgt nicht, wie oder was ihr antworten oder was ihr sagen sollt; denn der Heilige Geist wird euch zu derselben Stunde lehren, was ihr sagen sollt.
Lukas 12,1-12.

Wo Jesus ist, da fallen alle Schranken. Pharisäismus heißt in irgendeinem Sinne Schranken setzen, aussondern, absondern. Es ist dies schließlich unsere äußerste, aber auch unsere glänzend­ste Möglichkeit, wenn wir daran gehen, von uns aus Gottes Herr­schaft auf Erden aufzurichten. Wir können dann nichts anderes tun als einen Zaun ziehen zwischen uns und den anderen, zwi­schen den Gotteskindern und den Weltmenschen. Wir gehen im­mer wieder mit größtem Ernst an dasselbe hoffnungslose Unter­nehmen wie die ersten Pharisäer, die dieser Sache ihren Namen gaben. Sie wollten das fromme Israel schützen vor der befleckenden und zersetzenden Berührung mit dem von allen Seiten eindringenden Heidentum. Sie wollten der Väter Sitte wieder aufrichten. Sie wollten »mit Ernst Juden sein«. Sie wollten wie­der eine Tradition schaffen, an der erkennbar würde, wer zum Herrn gehört — und wer nicht! Dieses »und wer nicht« wird in solchem Falle unvermeidbar. Es ist die bedenkliche Schatten­seite aller religiösen Reformen, die von Menschen her in Szene gesetzt werden, das geradezu tragische Gesetz alles »positiven Christentums«, das unheimliche Hinterhaus zu dieser glänzenden Fassade. Von hier geht die stille und zuweilen auch sehr ver­nehmliche Anklage aus, die von draußen sich erhebende Revolte gegen dieses Für-sich-sein-Wollen der Guten und Gerechten. Sie begreifen nicht, daß sie eben damit all das Positive, das Wahre und Heilige, das Tüchtige und Vorbildliche, das ihnen anvertraut ist, in Mißkredit bringen. »Um euretwillen wird der Name Got­tes gelästert unter den Heiden« (Röm. 2,24). »Für den Geist ist solchermaßen gut sein eine Krankheit« (Nietzsche). Denn indem sie ein »Innen« setzen, setzen sie auch ein »Draußen«. Draußen aber bleibt dann das »ungebildete Volk« (man hatte im Juden­tum für das Draußensein diesen terminus technicus geprägt, in dem die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage ihren Ausdruck fand). Draußen heißt dann Grenze der Humanität, durch Gottes Gebot gezogene, geheiligte Grenze zwischen den beiden Söhnen eines Vaters. Draußen leben heißt dann notwendigerweise gesetzlos leben, Mensch in der Masse sein, preisgegeben an den Tag und seine Freuden, an die Sinnenlust und ihre Leere; das ist der Mensch außerhalb des Kreises der »Abgesonderten«, ungezügelt und in dumpfer Tätigkeit sein Dasein abwickelnd.

Jesus ist die Aufhebung dieser Grenze. Er steht an dem Ort, wo nach Meinung der Verantwortlichen in Israel »nichts mehr zu machen ist«. So sehen wir ihn. So will er gesehen sein, will sich so dem Gedächtnis seiner Gemeinde einprägen: er gehört in diese Umgebung! Er muß dort sein, wo sein Vater will, daß er sei, er, »der Sünder und Zöllner Geselle«. »Fürwahr, er trug un­sere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen« (Jes. 53,4). Jesus ist damit in seiner Person die Aufhebung, das Gericht Got­tes über unsere Absonderung. Indem er sich der Sünder erbarmt, richtet er den Pharisäer. Wir alle haben keinen anderen Weg der Umkehr und der Buße als diesen. Der Pharisäer, der wir sind, muß erfahren, daß sich Jesus allein des Sünders annimmt, der wir doch wohl auch und vornehmlich sind. Bei ihnen nimmt er seinen Standort ein. Die Nähe Gottes zu diesen Menschen, zu den Menschen in ihrem Ausgestoßen­sein, in ihrem Draußen­sein, die unbedingte, voraussetzungslose, weihnachtlich wunder­bare Nähe Gottes zu den wirklichen Menschen, das ist Jesus. Denn in Jesus begegnet die Wirklichkeit Gottes der Wirklichkeit des Menschen.

Das ist der Standort, den der Evangelist als Eingang der Jüngerrede (12,1-59) plastisch herausstellt. Wir sollten ihn nicht übersehen, sollten diesen Rahmen nicht als unwesentlich abtun oder gar zerbrechen. Jesus bildet mit den ihn umringenden, um­drängenden Massen eine untrennbare Einheit. Er ist und will nicht als Privatperson angesehen werden, »daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast« (Joh. 17, 24). Man sehe sich in den modernen Leben-Jesu-Darstellungen vornehm­lich liberal-bürgerlicher Prägung einmal an, wo diese ihn um­drängenden, durch ihn geheiligten und geretteten »Massen« hin­geraten sind. Sie sind längst aus seinem Bilde wegretuschiert. Ob das wohl zufällig geschah, daß Jesus und die Menschen von »draußen« getrennt wurden, die Lukas uns hier so untrennbar eins zeigt? Sollte dieser unmerklich isolierte, stillschweigend privatisierte Jesus nicht vielleicht aus dem Heiland Gottes einer der Unseren geworden sein, nicht mehr unser Richter, der ge­kommen ist, die Zäune abzubrechen und die Schranken aufzu­heben, die wir gezogen haben, sondern selbst solch ein Garant unserer frommen, unserer scheingerechten, unserer von Gottes Gerichten längst zerbrochenen Ordnungen. Wir haben aus Je­sus einen »Legislator«, einen Gesetzgeber, gemacht. Gilt es nicht, ihn aus diesen Fesseln wieder frei zu machen und denen zuzu­führen, die zu erlösen er gekommen ist? Jedenfalls stellt ihn Lu­kas bei der Gelegenheit dieser seiner Ermahnungen an die Jün­ger nicht als Prediger auf eine Kanzel, nicht wie einen Rabbi aufs Katheder, sondern läßt ihn sprechen aus dem Zusammenlauf des Volkes heraus.

Aus der Mitte ihn umdrängender Scharen von Menschen al­lerlei Volks mahnt Jesus die Jünger. Sie sollen es fertigbrin­gen, Gemeinde zu bauen, ohne den »Sauerteig des Pharisäismus«. Wehe, wenn er noch einmal aufgerichtet würde, der Zaun zwi­schen denen, die drinnen, und denen, die draußen sind! Wehe, wenn es wieder dazu käme, Bedingungen, Präparationen, Lebens­formen und Ordnungen vorzubauen, um zwischen Gottes Barm­herzigkeit und der Welt in ihrer sichtbaren und spürbaren Ver­lorenheit eine Sicherheitszone einzuschalten! »Welt ging verlo­ren, Christ ward geboren!« Da ist kein Übergang. »Hütet euch« vor solchen Unternehmungen! Es ist etwas Unechtes an dieser Heiligungsbewegung, welches die ganze Sache im Prinzip ver­dirbt. Diese Bewegung ist kein Leben, sondern Erstarrung; sie eint nicht, sondern sie spaltet. Sie lebt nicht vom Freudenruf der Umkehr, sondern vom Stolz auf ihre Entsagung. Sie zieht nicht an, sondern sie stößt ab. Sie macht den Menschen nicht wahr, sondern fügt zu seiner faktischen Gottlosigkeit und Ungerech­tigkeit noch den Schein der Frömmigkeit hinzu. Sie heilt den Schaden Israels mit einem Pflaster, nicht mit dem Wunder neuen Lebens. Sie hat nichts Befreiendes an sich, sondern lähmt Geist und Seele, sie bricht nicht von innen, aus dem Herzen, in das Äußere des Menschen hervor und nimmt dieses in seinen Dienst, sondern sie geht den umgekehrten Weg, von außen nach innen, sie will von der Zucht der Glieder, der Zunge, des Auges, der Hand ins Innere vorstoßen, und darum ist sie Heuchelei. Heu­chelei als objektive Lebensform!

Heuchelei im biblischen Sinne, als der gefährliche Punkt, dem der Zorn Gottes gilt, ist der Versuch des Menschen, an seiner ei­genen Wirklichkeit vorbei zu leben, eine faktische, verdeckte, ver­borgene Existenz zu führen (über die er nicht Herr ist) und eine nach außen hin zur Schau getragene (wo er über sich selbst ver­fügt). Heuchelei führt zur Doppelexistenz des Frommen, die ihn schwach und feige macht. Heuchelei muß da eintreten, wo ich vor Gott ein anderer bin (z. T. unbewußt!) als vor mir selbst und vor den Menschen. Der Mensch lebt dann in zwei Bildern, ein verdecktes, das nur Gott kennt, und ein gespieltes, das er den Menschen und sich selbst vortäuscht. Er macht dann die Gesell­schaft zur Stätte dieses verzweifelten Theaters. Dostojewskijs Rodion Raskolnikow ist das großartigste Beispiel einer solchen gespaltenen Existenz unserer Tage, zugleich auch der Fingerzeig, wie man aus ihr befreit wird. Wundern wir uns, wenn an dieser heimlichen Krankheit alles zugrunde geht, was uns das Leben wert macht, Familie und Gesellschaft, Staat und Kirche? Alles fängt an zu phosphoreszieren. Der wirkliche Mensch ist nir­gends mehr anzutreffen, der durch seine Schuld geprägte Mensch. Ein eingebildeter Christus vermag einen eingebildeten Kranken zu heilen; aber der wirkliche Christus, Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte und Auf erstandene, ist gekommen, den wirklichen Menschen zu suchen und gesund zu machen. Darum setzt Jesus dieses als oberstes Gebot über alles Wirken seiner Jünger: Nur keine Heuchelei! Nur kein Doppelbild. Keine versteckten Unter- und Hintergründe eurer geistlichen Funktionen, an die man dann nicht rühren darf. Wenn ihr euch damit behelft, dann wun­dert euch nicht, wenn euer Wort seine sammelnde und belebende Kraft verliert an denen da draußen. Ihr seid mehr als Funktio­näre, die eine Summe von Lehren auszurichten haben. Ihr seid selbst Menschen von Fleisch und Blut, Menschen voller Furcht und angefochten von innen und außen, Menschen, die fallen, um wieder aufzustehen, die ausreißen und die ihr Herr wieder in die Schlacht zurückholen muß. Die ersten Jünger haben sich auch nicht geschämt, vor aller Welt sich als die zu zeigen, die sie wa­ren: unverständige, furchtsame, verlorene und sündhafte Men­schen. Sie haben sich nicht als Heilige und Helden gezeichnet, sondern als Menschen von Fleisch und Blut. Darum sind die Evan­gelien keine Heiligenlegenden.

Warum aber Jesus die Jünger warnt vor diesem Scheinleben, erfahren wir sogleich: »Denn es ist nichts verborgen, das nicht offenbar würde.« Eines Tages kommt es doch an den Tag, wer ihr seid, und wenn es der Jüngste Tag sein sollte. Eines Tages wird es aus sein mit allen falschen Worten und Gesten, mit allen hochtrabenden Phrasen und selbstbewußter Aufgeblasenheit. Ei­nes Tages wird die Inflation der frommen Worte zu Ende sein, dann wird die Abrechnung fällig. Dann wird ein unerbittlicher Richter die Feststellung des faktischen Wertes umlaufender Phra­seologie treffen. »Sie sagen’s wohl und tun’s nicht« (Matth. 23,3). In diesem Licht wird all der Flitter und Schein abfallen, durch den die Selbstgerechten vor anderen etwas zu sein gedachten. Sein Auge wird keine Grenze kennen, es wird keine Finsternis geben, in die wir uns noch flüchten könnten, »daß auch in uns, im In­nersten unser selbst kein Raum mehr bleibt, wohin wir vor Gott fliehen könnten« (Luther Römervorlesung II, S. 43, 22). Die Welt­geschichte und — nach einem zwingenden Schluß vom Ganzen aufs Einzelne — auch die Lebensgeschichte eines jeden Menschen geht einer schonungslosen, unausweichlichen Offenbarung ent­gegen. Denn sie geht Jesus entgegen, und Jesus ist die Offen­barung aller Dinge. So ist er das Licht der Welt. Die Tatsache seiner irdischen Gegenwart ist die Garantie, daß wir seiner Offen­barung nicht entgehen werden. Sie hat bereits begonnen, die Welt unter ihr Licht zu stellen. Wir sind bereits offenbar! »Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit« (Eph. 4,25). Aber Jesus will nicht, daß wir bei dieser — irgendwie selbstverständlichen, nicht weiterführenden — Erkenntnis von der Automatik der mit ihm einsetzenden Gerichtsoffenbarung stehenbleiben. Seine Gleich­setzung von letzter, endgültiger Wirklichkeit einerseits und Of­fenbarung andererseits hat noch eine andere, eine positive Seite. »Was ihr in der Finsternis sagt, das wird man im Licht hören.« Das ist der Weg der Freudenbotschaft, die aus stillen Kammern und einem Winkel der Welt ins Licht der Öffentlichkeit dringt. Sorget nicht, wie ihr das heimlich euch ins Ohr Geredete kund­machen werdet. Es wird öffentlich werden. Es wird von den Dä­chern her laut werden, ohne euer Zutun. Das ist wieder die Au­tomatik der Offenbarung; aber nun so, »daß die Nacht vorge­rückt und der Tag nahe herbeigekommen ist« (Röm. 13,12). Es gibt eine innere Dynamik des Wortes im Ablauf der Zeiten. Was am See Genezareth begann, mußte laut werden in Jerusalem. Und was in Jerusalem geschah, mußte laut werden in Rom. Was der Bischof von Rhegium im Barbarensturm niederschrieb, mußte einmal zum Handbuch Karls des Großen werden, und was als Wittenberger Mönchsgezänk ins Dunkel abgedrängt werden sollte, mußte vor Kaiser und Reich verhandelt werden. Das Wort läuft wie eine Zündschnur, die an einer Stelle angebrannt ist. Eines Tages wird die Welt merken, daß sie unterminiert ist. Darum dürfen alle Wahrheitszeugen aus diesem Worte Jesu ihre Zuver­sicht schöpfen: auch wenn ihr Mund verstummt, die Offenba­rung dringt doch an den Tag! Es predigt. Es wird kund vor aller Welt. Das ist die andere, die nicht mehr selbstverständliche, die allem Anschein zum Trotz zu glaubende Seite aus der unauf­haltsamen Dynamik der Offenbarung. Es ist die Oster- und Auf­erstehungsseite dieser mit Jesus und durch Jesus unter uns be­gonnenen Gottesgeschichte.

Wenn es soweit kommt, wenn sie — die Welt! — merkt, was die Jünger Jesu zu sagen haben, wenn es aus den Kammern auf die Dächer kommt und aus den Kirchen in die Parlamente, wenn das Wort das Getto zerbricht, in das die Welt — in selt­samem Einverständnis mit den ihr sonst gar nicht angenehmen Pharisäern — das Wort des Lebens einzuschließen trachtet, dann kann man das Fürchten lernen. Dann werden sie sich an dieje­nigen halten, an die man sich in solchem Falle allein halten kann: an die Menschen, die seinen Namen tragen! Denn ihn, Jesus Chri­stus, können sie nicht mehr umbringen. Darum spricht er jetzt zu seinen Freunden: »Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können.« Denn wenn jener Unterschied der beiden Sphären, des Privaten und des öffentli­chen, des Kirchlichen und des Politischen, durchbrochen wird — in der Dynamik des dem Siege entgegengehenden Wortes —, wer­den sich die Gegenspieler nicht lange hinter dem Berge halten. Der Aufbruch des Wortes, mitten hinein in die Öffentlichkeit dieser Welt, mobilisiert auch die Kräfte, die dort ihren Thron errichtet haben. Ihr Aufmarsch wird durchaus so sein, daß die Jüngerschaft Furcht ergreift. Wie sollte sie nicht! Für diese an­fechtungsvollen Stunden und Zeiten gibt Jesus seinen »Freunden« eine Regel mit auf den Weg, die Ohnmacht dieser Mächtigen zu begreifen. Wenn sie den Leib getötet haben, sagt er, ist ihre Macht zu Ende. »Mehr können sie nicht.« Wir werden uns hüten müs­sen, daraus eine Allerweltsweisheit zu machen, eine verzweifelte Banalität für verzweifelte Buben, die, darum wissend, daß der Tod sie der Macht der Menschen entzieht, diesen Sprung in den Abgrund tun, wenn der irdische Richter sie zur Rechenschaft ziehen will. Es ist sicher keine gute Sache, mit dieser ultima ratio zu leben, auch dann nicht, wenn es der Rat der Weisen und der Könige sein sollte. Nicht das hat Jesus gemeint, daß der Jünger es in der Hand hätte, in ausweglosen Lagen den Tod zu wählen oder auch ihn nicht zu fürchten. Er will die Furcht nicht wegnehmen, sondern verschärfen. Er will die natürliche Todes­furcht überhöhen durch eine um so viel überlegenere Furcht, als die Ewigkeit der Zeit unvergleichlich überlegen ist. Jesus setzt — anders als der Stoiker und anders als der moderne Materialist — Furcht gegen Furcht. Gottesfurcht gegen Menschenfurcht! Die Got­tesfurcht hebt die Menschenfurcht auf. In ihr findet der Jünger seine Freiheit und Überlegenheit wieder, die er angesichts der be­drohlichen Lage seiner selbst zu verlieren in Gefahr war. Jesus setzt den Tod, der von Gott her droht, den Gerichtstod, gegen den anderen Tod, der uns von den Menschen her begegnet. »Daß uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine.« Wer Gott fürchtet, ist der Weltangst entnommen. »Fürchte Gott und halte seine Gebote« (Pred. 12,13). Das ist das älteste und pro­bateste Mittel, sich der Angst zu entziehen. Wer Gott nicht fürchtet, den wird keine Psychologie und keine Therapeutik von dieser »Weltangst« heilen. Aber Furcht Gottes und Furcht Gottes ist zweierlei; und hier liegt der Knoten, dadurch diese Lehre zwei­deutig und rätselhaft wird. »Wir fürchten alle Gott, sprechen mit Ehrerbietung von ihm, hören mit Ehrerbietung von ihm sprechen usw. und tun uns wohl auch bei der und jener Gelegenheit mit seiner Furcht einigen Zwang an, und übrigens bleibt alles beim alten . . . Das war aber auch nicht die Furcht Gottes der Altväter, die uns in dieser Schrift zum Muster dargestellt werden. Denn bei denen war die Gottesfurcht nicht Bedienter hinten auf dem Wa­gen, sondern Herrschaft und Kutscher zugleich. Ihnen war nichts so innig und heilig als sie, nichts so sauer, das sie ihretwegen nicht getan, nichts so süß, das sie ihretwegen nicht gelassen hät­ten . . . Die wahre Furcht Gottes muß Empfindung, muß Wahr­heit in uns sein; dann ist sie wohltätig in ihren Einflüssen und wunderbar in ihren Wirkungen mehr und anders, als wir mei­nen oder verstehen« (M. Claudius). So haben wir es selbst erlebt, daß Gottesfurcht hilft, wo keine Klugheit mehr Rat weiß. Es gab in Deutschland, als Hitler an die Macht kam, viel kluge und ge­bildete Menschen, die sahen, was für ein Unheil sich hier zu­sammenbraute. Warum unterwarfen sich so viele dem trügeri­schen Schein der hohlen Worte? Wir erkannten damals, was wir so lange vergessen hatten, verwöhnt durch das Fehlen echter An­fechtungen, daß zur Wahrheit Mut gehört, und zwar ein Mut, der von jenseits des Todes her gewonnen sein will. Und weil die »Klugen und Weisen« einen nur auf das Diesseits bezogenen Wahrheitsbegriff hatten, weil sie längst das Kreuz und seine Wahrheit aus ihrem modernen, optimistischen, philosophischen Weltbilde entfernt hatten, darum knickte der göttliche Dresch­schlitten, der über die europäische Landschaft dahinging, unsere geistigen Freiheiten wie der Sturm einen morschen, entwurzelten Wald. In diesen Tagen ist das Wort Jesu bei seinen »Freunden« wieder zu Ehren gekommen, und es wäre seltsam, wenn diese Anfechtung schon vorüber wäre.

Jesus sagt hier, daß es nur einen Weg und nur ein Mittel gibt, Menschenfurcht hinter sich zu lassen, das ist die Furcht vor dem, der, nachdem er (hören wir wohl: Er — nicht die Menschen!) ge­tötet hat (so drückt sich unser Evangelist aus, um für die heid­nisch-griechischen Leser, für die er schrieb, die Sache noch ein­mal ein wenig härter zu machen), auch Macht hat, den ewigen Tod zu verhängen. »Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch.« Jesus sieht hinter dem Bild des leiblichen Todes die Realität des Todes selbst. Das, sagt er, ist in der Tat das Schreckliche, das ist die Schwelle, wo es kein Zurück gibt. Hier geht es in der Tat ums Leben, wo es um Gott geht, nicht da, wo es euch ums Leben zu gehen scheint. Er sagt das nicht, um Furcht zu machen vor der Hölle, sondern um Gott groß zu machen. Gott ist der Herr über diesen Abgrund. Das heißt also: wenn die Jünger klug sind, dann werden sie damit rechnen, daß Gott und nicht ein Mensch entscheidet über Heil und Verdammnis. Mögen die Heiden ihre Weltangst zu bannen suchen durch Aufgipfelung immer neuer Sicherheiten — schließlich gilt immer noch: »Rosse sind Fleisch und nicht Geist« (Jer. 31,3) —, wahrhaft beständig und frei macht allein die Gottesfurcht, jene grenzenlose Unsicherheit, die doch grenzenlose Sicherheit ist.

Die Gottesfurcht macht die Jünger Jesu frei von dem, was der Mann auf der Straße den Zufall nennt, was die Alten Fatum nann­ten und was als Fatalismus eine große und gottwidrige Macht un­ter den Menschen unserer Tage geworden ist. Jesu Jünger können wieder Gott ihren Herrn sein lassen. Der eherne Himmel des Schicksals, unter dem die Heiden leben, ist zerrissen — Jesus hat ihn zerrissen —, und sie leben nun unter dem offenen Himmel, das heißt unter Gottes gnädiger Vorsehung. Jedenfalls von Goff her — so meint es Jesus hier — könnten sie so leben. Von Gott her ist kein Hinderungsgrund einzusehen, warum den Menschen nicht die Sperlinge ein Beispiel und Vorbild sein könnten. »Darum fürchtet euch nicht, denn ihr seid besser denn viele Sperlinge.« Wollt ihr nicht das große Geheimnis und Rätsel von Sein und Nichtsein, den Grund und die prima causa aller eurer Menschen­furcht, in die Hand zurücklegen, in der es in Wahrheit liegt? Wollt ihr nicht unter seiner Providenz sicher und frei über die Erde schreiten, wollt ihr nicht eintreten in das Land, da Frau Sorge nicht mehr Königin ist, in euer Kinderland, das euch näher liegt, als ihr denkt? Einen Schritt nur — und die Welt um euch her verwandelt sich in Gottes Welt und Gottes Reich.

Und dieser eine Schritt, erschreckend und beseligend zugleich, ist das Bekenntnis, das Bekenntnis zu Jesus. Zu ihm als dem Ge­kreuzigten und Auferstandenen. Zu ihm als dem Herrn der gan­zen Welt. Zu ihm mitten im Prätorium des heidnischen Cäsars und zu ihm auf der Akropolis von Athen. Zu ihm, ob sich die Zeichensüchtigen daran ärgern und die Philosophen uns für To­ren halten. Zu ihm als der Ohnmacht Gottes, die mächtiger ist als die Pforten der Unterwelt, zu ihm als der Torheit Gottes, die zum vergeblich gesuchten Stein der Weisen geworden ist. »Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch des Menschen Sohn bekennen vor den Engeln Gottes.« Wer mich vor dem irdi­schen Tribunal bekennt — Günther Bornkamm hat uns das ge­zeigt, daß »die Menschen« in diesem Spruch Jesu die Repräsen­tanten des öffentlichen, staatlichen, geistigen Lebens sind —, den wird der Weltenrichter (der wiederkehrende Christus) vor dem himmlischen Tribunal bekennen. Denn die Engel vollziehen das Endgericht. Bekennen heißt: sich zu jemandem bekennen. Eine Sache an einen Namen binden. Und in diesem Namen die Sache bezeugen. Sich zu Jesus bekennen, heißt die Sache Gottes und seiner Herrschaft an diesen Namen binden und in diesem Namen und keinem anderen die Sache Gottes, seine Gerechtigkeit und Wahrheit bezeugen. Unser Eintreten für ihn — im irdischen Rechtsstreit — wird einmal eingelöst und aufgewogen durch sein Eintreten für uns im himmlischen Rechtsstreit. Da, wo es um Tod und Leben im Sinne einer endgültigen, einer irreparablen Entscheidung geht! So leuchtet in den Stunden höchster Not über den Zeugen seines Namens eine Verheißung (bzw. eine Drohung) auf, die das Schwerste leicht, das Unmögliche möglich macht. Der Himmel ist der Erde so nahe und die Erde dem Himmel, das letzte Gericht dem vorletzten und das vorletzte dem letzten, das Rettende dem Gefahrvollen und das Gefahrvolle dem Rettenden, der Abgrund ist so tief und der Punkt, der uns vor ihm bewahrt, so nahe — daß, noch einmal sei es betont, von Gott her alles getan und gesagt ist, um den Jünger seiner Sache gewiß zu ma­chen. Dieses Bekenntnis hat eschatologischen Charakter. Hier kor­respondiert dem Bekennen auf Erden ein Bekennen im Himmel, dem geschichtlichen Bekennen in der Zeit ein übergeschichtliches am Ende der Tage. Nicht auf die Mathematik theologischer Lehr­gesetzlichkeit ist das Bekenntnis der Christen gegründet, sondern auf die angewandte Mathematik, auf die scientia practica, wenn du wie Petrus im Hofe stehst, während oben dein Herr zerschlagen wird, und die Magd dich greift: Du warst doch auch mit diesem Jesus von Nazareth — oder wenn das Synhedrium dich zitiert und dir verbietet, weiter das Kreuz Christi als den Sieg Gottes zu verkündigen in den Straßen der Stadt, wo sie ihn hingerich­tet haben — oder wenn sie dir die Christusidee lassen wollen, aber nicht den ins Fleisch gekommenen Herrn, den Davidssohn, den zu Bethlehem geborenen König der Juden — oder wenn das Festhalten am Namen Jahwe dir das Leben kostet, weil die Hei­dengötter seinen Namen ausgemerzt wissen wollen, um noch einmal auf Erden zu herrschen: dann erst begreifen wir, was es heißt: Wer mich bekennt vor den Menschen! Alles, was wir Be­kenntnis nennen und was uns als solches von den Vätern in der Christenheit überkommen ist, dürfte aus solchen Krisen geboren sein und ist Wegmarkierung, Beispiel und Ermutigung für die zu erlernende Jüngerschaft Jesu. Nicht auf das Bekenntnis an sich kommt es an, das sind oder können sein leere Formeln, tötender Buchstabe, ein Leichnam, den die Tendenz hinter sich gelassen (Hegel). Endzeitliche, vor Gott gültige Relevanz hat das Be­kenntnis nur, wenn es Bekenntnis zu Jesus ist. Wenn in diesem Namen die Sache Gottes in ihrem Entweder-Oder festgehalten wird.

Jesus bekennen oder ihn verleugnen, mit diesem Entweder-Oder zerreißt der Vorhang zwischen Zeit und Ewigkeit. Es ist das einzige Entweder-Oder, das die Schrift gelten läßt, das ein­zige, welches Sinn hat. Denn schließlich heißt ja Entweder-Oder immer, daß die Zeit aufgenommen ist in die Ewigkeit. Es gibt so viele falsche Entweder-Oder, zerstörende, hoffnungslose, ni­hilistische Entscheidungen, in die man uns zwingen will. Dann sollten wir es dem Elias gleichtun und in der Höhle bleiben. In diesen Stürmen ist Gott nicht. Auch mit dem Bekenntnis zu Jesus haben die Menschen, die Christen, oftmals gerade die frommen Menschen ihr falsches, menschliches, fanatisches, aus dem Bru­derhaß und nicht aus der Menschenliebe geborenes Entweder- Oder verbunden. Wieviel Entehrungen seines Namens sind unter seiner Gloriole durchgeführt! »Christus non illuditur nisi in purpura« (Luther). Christus wird nirgends so gut verspottet, als wenn sie ihm einen Purpurmantel umlegen. Darum noch einmal: Hütet euch vor der Heuchelei! Nur keine falschen, keine selbstgemach­ten Entweder-Oder, auch keine scheinbar christlichen, keine sol­chen, bei denen ihr von vornherein auf der richtigen Seite steht, keine solchen, bei denen ihr das letzte Wort, das erst fallen wird, Sein Wort schon vorwegnehmt. Was wirklich bekennen und was verleugnen heißt, darüber steht das Urteil noch aus. Es liegt in der Hand des Weltenrichters, der kommen wird. Es bleibt seine Entscheidung, der wir entgegengehen. Wir Menschenkinder kön­nen, auf dieses Entweder-Oder gesehen, nur mit Furcht und Zittern beten: »Daß, wenn du, o Lebensfürst, prächtig wieder­kommen wirst, ich dir mög‘ entgegengehn und vor dir gerecht bestehn.«

II

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage mei­nem Bruder, daß er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Teiler über euch gesetzt?
Lukas 12,13-14.

Das ist nun ein »echter« Lukas. Dieser Spruch von dem Mann aus der Menge, der Jesus zum Erbschlichter in einer Familienaus­einandersetzung mit seinem Bruder haben möchte, und das dar­auffolgende Gleichnis vom reichen Kornbauern. Es gibt Bilder, von denen wir auf den ersten Blick wissen, sie sind »echt«; man spürt es ihnen an, daß man hier vor einem Original steht. Das ist »ein echter Dürer«, so sagen wir wohl dann. Es liegt etwas Unmittelbares in solchen Bildern, das für sich selbst spricht. Ähn­liche Dinge gibt es nun auch in den drei ersten Evangelien. Vie­les haben sie miteinander gemeinsam, Matthäus, Markus und Lukas. Hier haben sie wohl gemeinsame Überlieferungen gehabt, die uns nicht mehr erhalten sind. Aber dann gibt es Stücke, die sind ihnen eigentümlich. Aus denen kann man entnehmen, was sie in der Verkündigung Jesu am meisten beeindruckte, wo ei­gentlich das Herzblut des einzelnen Evangelisten pulsiert. So gibt es Geschichten und Jesusworte bei Lukas, die nur er der Nach­welt überlieferte. Das ist »sein« Evangelium. Wenn man unseren Evangelisten ein wenig genauer liest, wenn man den Aufbau sei­nes Evangeliums mit dem der anderen vergleicht und vor allem den Reisebericht 9,51-18,14 sich etwas aufmerksamer ansieht, diesen gescheiterten Versuch des ersten »Historikers« (er hat als Rahmen die »historische« Methode auf die Rekonstruktion des Lebens Jesu anzuwenden versucht und ist »trotzdem« in das Neue Testament aufgenommen worden), den »Orten und Wegen« Jesu nachzugehen, wird man schnell ein Auge dafür gewinnen, was ein »echter Lukas« ist. (Wer mehr davon wissen will, nehme sich A. Schlatters Lukas-Kommentar zu Hilfe.) Aber weiter kommen wir leider nicht. Lukas hat diese Geschichten gesammelt; aber wer hat sie ihm berichtet, in welchen seltsamen Christengemeinden hat er diese herrlichen Gleichnisse und diese scharfen Jesusworte entdeckt? Wo hat man neben den Seligpreisungen die Weheworte — als Verschärfung — aufbewahrt? Warum haben andere sie weg­gelassen? Wo hat man sich nicht gefürchtet, der Nachwelt davon zu berichten, wie hart Jesus über den Reichtum urteilt, wie ernst er warnt, den Gegensatz von reich und arm für ethisch indifferent zu halten, für etwas dem Menschen Äußerliches. In den lukanischen Gleichnissen werden wir eines anderen belehrt (Luk. 16,25). Reich und arm sind keine »Zufälligkeiten« des menschlichen Le­bens, wie die Griechen auf Grund ihrer philosophischen Ansicht vom Menschen (des allein auf sich gestellten Menschen!) lehrten, sondern Reichtum ist eine Gott feindliche Macht, die sich zwischen Gott und den Menschen schiebt, er kann es nicht nur sein, er ist es. Wo er diese Wirkung nicht hat, wo Blindheit für Gott und den Nächsten nicht seine natürlichen, für den Träger des Be­sitzes verhängnisvollen Folgen sind, da ist es allein der Nähe des Reiches Gottes, das heißt Gottes Gnade und Allmacht, zu ver­danken (Matth. 19,26).

Und doch hat sich Jesus nicht an dem im Kleinen wie im Gro­ßen entfachten Streit um Mein und Dein beteiligt, wie das der Mann wollte, der mit seinem Bruder um das Erbteil hadert. »Wer hat mich zum Erbrichter = Teiler (Schiedsrichter) über euch ge­setzt?« Wir werden uns also hüten müssen, Jesus und seine Ver­kündigung hineinzuziehen in unsere höchst armselige, höchstens als Interimsmoral zu rechtfertigende Ordnung des Besitzes und des Eigentums, in jene Kämpfe, die in der Einzel- wie in der Völkerfamilie um die »Erbschaft« ausbrechen und Brüder zu Fein­den machen. Jesus kommt nicht in die Welt, um unsere höchst fragwürdigen Rechtsordnungen zu sanktionieren, durch die wir leben oder in denen wir vielmehr — von Jesus aus gesehen — das Leben verfehlen. Denn Abhängigkeit des Lebens von Besitz, diese furchtbare Umkehrung, die das Wunder des Lebens, die veneratio vitae, die Ehrfurcht vor dem Leben (A. Schweitzer), un­tergehen läßt in der Sorge um Besitz und Arbeit, Produktion und Planung, diese Sünde am Leben, die den Reichen zum blinden Toren macht und den Armen seine Nähe zum Gottesreich ver­fehlen läßt — sie zu strafen ist Jesus in die Welt gekommen, zu Menschen, die nicht mehr »wie die Kinder« leben, damit sie wie­der den Vater im Himmel erkennen, dazu wird er jetzt — als Richter angesprochen — das Wort nehmen.

III

Und er sprach zu ihnen: Sehet zu und hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat. Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, des Feld hatte wohl getragen. Und er gedachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nicht, da ich meine Früchte hin sammle. Und sprach: Das will ich tun: ich will meine Scheu­nen abbrechen und größere bauen und will drein sammeln alles, was mir gewachsen ist, und meine Güter; und will sagen zu mei­ner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wes wird’s sein, das du bereitet hast? Also geht es, wer sich Schätze sammelt und ist nicht reich in Gott.
Lukas 12,15-21.

Jahr um Jahr wird das Evangelium vom reichen Kornbauern am Erntedankfest verlesen. Mitten hinein in die Freude und das Glück über die Ernte, eine Freude, die wir wohl alle verstehen, denn wir haben erfahren, was Hunger und Hungersnot bedeu­tet — aber mitten hinein in dieses Glück der Geborgenheit erklingt eine Warnung. Der Tod wird sichtbar als Grenze aller unserer Möglichkeiten des Sammelns und Sorgens. Das Erntefest und und der Tod — das ist eine seltsame Zusammenstellung. Und doch ist das wohl der Sinn jener Ordnung, die unser Evangelium gerade für diesen Tag zur Lesung bestimmt hat. Und tut sie nicht recht daran? »Der Tod ist ’n eigner Mann. Er streift den Dingen dieser Welt ihre Regenbogenhaut ab und schließt das Auge zu Tränen und das Herz zur Nüchternheit auf! Man kann sich frei­lich von ihm auch verblüffen lassen und des Dinges zuviel tun, und gewöhnlich ist das der Fall, wenn man bis dahin zuwenig getan hat. Aber er ist ’n eigner Mann und ein guter Professor Moralium! Und es ist ein großer Gewinn, alles, was man tut, vor seinem Katheder und unter seinen Augen zu tun.« (Matthias Claudius. Über einige Sprüche des Prediger Salomo.)

Jahr um Jahr wird über unser Gleichnis gepredigt, hin und her im Lande, aber was geschieht? Was müßte denn geschehen? Es müßten unsere vollen Scheunen, so bedeutsam sie sind, dennoch ganz klein, ganz bedeutungslos werden — wenn wir nämlich die­ses Gleichnis Jesu recht begriffen hätten — vor dem Kreuz, das allein groß und erhaben und wirklich eine Stätte des Friedens zu heißen verdient. Der Bauersmann in unserem Text sagt zu sich selbst — und er wendet sich damit an sein eigenes Ich, an das, was in seinem Innern fragend, sorgend, wachend, fürchtend pocht und klopft und damit offenbar macht, daß er da doch noch eine Stimme in seinem Innern hat, die wie ein Vogel im Käfig hin und her flattert und sich müde stößt an den Gitterstäben eines goldenen Gefängnisses —, also zu diesem seinem besseren Selbst sagt dieser Bauersmann: Du hast, was du suchst. Vorrat auf viele Jahre. Laß Hungersnot kommen, dich wird es nicht erreichen. Laß Tausende umsinken zu deiner Rechten, Zehntausende zu deiner Linken, dich wird nichts treffen. Iß und trink und sei fröhlich. Ach, wenn dieser Mann seinen Frieden an einer anderen Stelle gesucht hätte, wenn er sich auf den Hügel von Golgatha gestellt und er von da aus erkannt hätte, wie klein, wie hinfällig, wie nichtig all diese Dinge sind, hinter denen wir Menschen Schutz suchen, von denen wir Frieden und Heil erwarten, und er hätte hier zu dieser fragenden, suchenden, noch nicht ganz erstorbe­nen Stimme in sich selbst gesprochen: Der ist dein Friede! — wäre er dann immer noch der Tor gewesen, der erschrecken mußte, wenn plötzlich in der Nacht der Tod ihn ruft?

Jesus Christus geht ans Kreuz und bezahlt sein Blut, auf daß wir gerettet würden. Jesus läßt seine Blicke über die Welt gehen, sieht das arme und zerschundene Volk, sieht die Herde, die kei­nen Hirten hat, sieht sie angstvoll und zitternd zusammenbre­chen — und sagt zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß (Matth. 9,37). Wenn Jesus von Ernte redet, dann meint er das nahe Ende der Welt (Matth. 13,39). Jesus sieht die Welt einer großen Ernte entgegenreifen, er hört bereits die Engel des Himmels, die ihre Sichel zum Schnitt ansetzen, er sieht uns alle von den kommen­den, großen Gerichten Gottes bedroht und angefochten. Er sieht uns verlassen und von Angst geschüttelt. Er sieht jenen Tag der Ernte kommen, da die Spreu vom Weizen gesondert wird. Er weiß, daß die Welt in dieser ihrer letzten Zeit einen Hirten nötig hat, der die Schlüssel der Hölle und des Todes in Seiner Hand hält. Nur der Bauersmann sieht das alles nicht. Er hört die Sichel des Todes nicht, die noch heute nacht durch sein volles, saftiges, sattes Leben schneiden wird. Er hört nichts und sieht nichts, weil seine vollen Scheunen, die gebauten und die noch geplanten, ihm den Blick verstellen, er sieht die Flut nicht, die bereits in seinen eigenen Hof hineinspült. Er begreift nicht, daß die Ernte uns an den Abschluß unseres eigenen Lebens, an die Rechnung erinnert, die von uns verlangt werden wird. Er sieht den Tod nicht, der sich hinter seinen Scheunen versteckt hält.

Als Kinder lernten wir den Spruch: »Und wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber und Gold erlöst seid von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blute Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.« Luther hat ihn eingesetzt in seine Erklärung des 2. Artikels, um uns das »gelitten, gekreuzigt, gestorben und begraben« eindrücklich zu machen. Das ist der Preis, der gezahlt werden mußte, »damit wir Frieden hätten«. Sollte nicht dieses Wort aus dem 1. Petrusbriefe etwas zu tun haben mit dem Erntedankfest, mit den vollen Scheu­nen, mit der Torheit des reichen Kornbauern, mit den dunklen und verborgenen Beziehungen und Bindungen, die von den vol­len Scheunen zu einer Seele hin- und hergehen und diese so satt und sicher machen? In allen Gleichnissen redet Jesus von sich. Alle Gleichnisse sind nur Rätselworte, die uns hellhörig machen sollen für die Geschichte, die mit Jesus, mit Seiner Geschichte, über uns und die ganze Welt gekommen ist. Ahnt der alte Mann, der hier seine Sicherheit und seinen Frieden bei dem sucht, was er hat, ahnt er denn nicht, daß Jesus gekommen ist, ihm etwas zu schenken, was er nicht hat, daß Jesus gekommen ist, seine goldenen Fesseln zu zerschneiden und ihn reich zu machen in Gott? Jesus hat auch diesen törichten alten Narren, der seine Scheu­nen nicht groß genug bauen konnte und dabei vergaß, daß wir alle in diese Welt nichts hineingebracht haben, darum auch nichts mit hinausnehmen werden — Jesus hat auch diesen alten Mann, den wir längst aufgegeben haben, über den wir lachen oder die Fäuste ballen und dem wir dann doch selbst so leicht ähnlich wer­den, wenn die Gelegenheit dazu da ist; auch ihn hat der Herr in sein Evangelium eingeschlossen. Der reiche Kornbauer gehört ins Evangelium des gekreuzigten und auferstandenen Heilandes.

Denn noch ist es Zeit. Noch ist es Zeit, klug zu werden und frei zu werden. »Jesus ist kommen, der starke Erlöser.« Jesus hat die Fesseln durchschnitten, die jeden von uns an das binden, was wir haben, und das »nicht mit Gold oder Silber«! Ist doch Jesus dazu von Gott unter uns gesandt, damit wir nicht mehr sagen: Hier hast du gute Ruh! — und dabei denken wir an unsere Häu­ser und Scheunen, an den Erntesegen aller Art, an die Arbeit und Leistung, die unseren Namen trägt, an Ruhm und Ehre, Geld und Ware, Weib und Kind. Jesus stört diese Ruhe. »Ich bin ge­kommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden.« Dazu ist Jesus unter uns Menschen getreten. Wer ihm nahe kommt, kommt dem Feuer nahe, und in diesem Feuer versengen die härtesten Fesseln. Es brennt, es tut oftmals sehr weh; aber hernach begreifen wir, daß hier Fesseln fallen und Fesseln fallen müssen, daß der Durch­gang durchs Feuer das Tor zur Freiheit ist. Wenn der reiche Korn­bauer nur stillhielte, wenn er nur jetzt nicht die Augen zumachte, da der Blitz von oben seine Lage so grell beleuchtet und ihm zeigt, wie arm er ist in all seinem Reichtum, wenn er sich mit hineinzie­hen ließe in das Feuer, das Jesus in seinem eigenen Herzen an­zünden möchte, dann könnte auch er noch ein freier, froher, gü­tiger und kluger Mensch werden, der dann nicht im Nachsinnen über seinen Besitz mit sich selbst Monologe hielte, wie er es im­mer höher und höher treiben könne, sondern der etwas lernen würde von der Kunst, sich Freunde zu machen mit dem Mammon der Ungerechtigkeit und Beutel zu füllen, die ihren Wert nicht verlieren, wenn der Tod uns nackt auszieht.

Einmal muß jeder reiche Mann das Feuer kosten. Wir wissen, daß der Mann, der den Herrn Christus in der Gestalt des armen Lazarus vor seiner Tür nicht erkannt hatte und darum erst klug wurde, als es zu spät war, hernach ganz allein dieses Feuer zu schmecken bekam, und wir kennen sein verzweifeltes Bitten aus dem Abgrund seiner Qual. »Hütet euch vor dem Geiz.« Wir ver­stehen, daß dies ein guter Rat ist, ein Rat, den Jesus uns gibt, weil er uns so herzlich und unbestechlich liebhat. Er sieht die Gefahr, die dem Menschen von seinem Besitz her droht. Er sieht, daß Besitz ein Name ist für falsche Sicherheit. Auf einmal bricht diese dünne Decke durch, und eine Lohe schlägt uns entgegen aus abgründiger Tiefe. Wir müßten nicht groß geworden sein in Revolutionen und Umwälzungen, um nicht wenigstens einen Hauch von dieser »Hölle und Qual« verspürt zu haben, die sich dann für die armen reichen Leute auftut. Der reiche Kornbauer aber hat noch Zeit. Wenn er weiß, daß er ins Evangelium gehört, wenn er die Hand nicht zurückstößt, die so hart und doch so heilsam-fest nach ihm greift, wenn er sich führen ließe »hinauf nach Jerusalem«, vielleicht gerade heute am Erntetage seine Scheu­nen hinter sich ließe und sein Angesicht dorthin richtete, wo das Kreuz auf sie beide wartet, auf diesen Jesus, der hier mit ihm redet, und auf ihn, der gezeichnet ist als Kind des Todes, wenn er im Gesetz die Gnade und im Ernst des Todes die Verheißung des Lebens begriffe — würde er dann nicht von jener Höhe, die das Kreuz bezeichnet, heimkehren als ein ganz anderer, arm geworden an dem, was er eben noch für Reichtum und Sicher­heit hielt, aber nun erst reich im Sinne der Ewigkeit, »reich in Gott«? Er hat den Preis erkannt, den Jesus für ihn zahlte. Nun versteht er, was die Christenheit singt:

Du bringst mich hoch zu Ehren
und schenkst mir großes Gut,
das sich nicht läßt verzehren,
wie irdisch Reichtum tut.

Wieder haben wir ein »Hütet euch« vernommen aus dem Mun­de des Herrn. Es ist der Mahnruf des Hirten, der die Seinen be­hüten will vor der Gefahr. »Hütet euch vor jeder Art von Hab­gier.« Das ist die Quintessenz des Ganzen. Darum haben die Leute in jenen ersten Christengemeinden, die Lukas besucht hat, unsere Geschichte als Gottes Wort erzählt. So ähnlich, wie der Prophet Nathan dem König David die Geschichte von dem reichen Mann erzählte, der dem Armen sein einziges Schaf wegnahm — und der König David wußte gar nicht, daß das seine eigene Ge­schichte war. Wenn unser Gleichnis an dem dafür bestimmten Sonntag ausgelegt wird, dann sitzen wir unter der Kanzel und denken: Wie töricht von diesem Bauern, der meint, er könnte ewig leben! Wir halten es wie im Theater: wenn wir nach Hause gehen, sagen wir zu unserem Nachbarn: »Ja, so ist das Leben, so sind die Bauern.«

Aber so billig kommen wir doch nicht davon. Am Ende be­kommst du doch noch den Schlüssel in die Hand; der Bauer ver­liert seine dir vielleicht sehr fremden Züge, er wird dir immer ähnlicher. Er wird wie ein Spiegel, in dem dein Leben im Lichte der Ewigkeit erscheint, und du hörst nur noch eins: Hütet euch vor jeglicher Art von Habgier. Und wo eben noch der Kornbauer stand, steht auf einmal der Kaufmann oder der Mann, der durch Wissenschaft oder Heilkunst reich wurde, den Politik oder Jour­nalistik zu Wohlstand brachte — ein Spiegel ist dieser Mann ge­worden für unser aller Torheit und ein Aufruf, unseren Reichtum als Armut zu begreifen und unsere Hände aufzutun wie Bettler, damit sie Jesus fülle mit den Gütern, die die Motten und der Rost nicht fressen.

Zwei Worte sind aus dieser Mahnung noch zu klären, das Wort Habgier, das in der Lutherbibel mit »Geiz« übersetzt wird, und das Wort »Narr«, das wir mit »töricht« wiedergegeben ha­ben. Die griechische Sprache hat hier ein Wort für Geiz, das wir im Deutschen schwer wiedergeben können; es heißt: das »Mehr­habenwollen«. Also dieses grenzenlose Streben nach Mehr, das in allem Schaffen und Produzieren, im privaten und staatlichen Kapitalismus wie eine Kraft, eine rastlose Bewegung drin steckt. Die Bibel meint, daß dieses Mehrhabenwollen die Wurzel alles Bösen ist (1.Tim. 6,10). Wie aber müßte es dann um einen Men­schen bestellt sein, der wirklich reich ist, reich in Gott? Müßte nicht ein solcher Mensch frei sein von dieser Unersättlichkeit des leeren, sich sorgenden, fürchtenden, nicht mehr denkenden Mehr­habenwollens? Müßte dieser Reichtum in Gott uns nicht fähig machen, mit den Dingen dieser Welt so umzugehen, wie sie ge­meint sind: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde« (Pred. 3) ? Müßten wir nicht lernen, arm in uns selbst, andere reich zu machen (2. Kor. 6,10)? War doch niemand ärmer als der Mann am Kreuz, und gerade er und geradeso hat er alle Welt reich gemacht, reich an Schät­zen, die niemand nehmen kann, die den Tod überdauern. Der »Narr« aber ist ein Mensch, der so lebt, als ob es keinen Gott und darum auch keinen Tod gäbe. Wir kennen das Wort aus den Psalmen und aus den Sprüchen der Weisheit im Alten Testament. Der Narr ist einer, der so denkt, redet, handelt, urteilt, als ob es keinen Gott gäbe (Ps. 14,1). Wie Frömmigkeit und Klugheit Hand in Hand gehen, gehören auch Gottlosigkeit und Torheit zusammen. Die Gottlosigkeit ist die Torheit der Menschen, ist die Blindheit, durch die sich auch die Weisen und Klugen unter ihnen — und sie oft am verhängnisvollsten — verrechnen. Denn »die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang« (Spr. 9,10). Darum sollten wir darauf achten, daß der Tod in unserem Gleichnis als Stimme Gottes vernommen sein will; denn nicht die Todesfurcht an sich macht weise, sondern die Einsicht, die im Tode die Stimme Gottes vernimmt und ihn allein fürchtet.

IV

Er sprach aber zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Sor­get nicht für euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht für euren Leib, was ihr antun sollt. Das Leben ist mehr denn die Speise, und der Leib mehr denn die Kleidung. Nehmet wahr der Raben: die säen nicht, sie ernten auch nicht, sie haben auch keinen Kel­ler noch Scheune; und Gott nähret sie doch. Wieviel aber seid ihr besser denn die Vögel! Welcher ist unter euch, ob er schon darum sorget, der da könnte eine Elle seiner Länge zusetzen? So ihr denn das Geringste nicht vermöget, warum sorget ihr für das andere? Nehmet wahr die Lilien auf dem Felde, wie sie wach­sen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch aber, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht ist bekleidet gewesen wie deren eines. So denn das Gras, das heute auf dem Felde steht und morgen in den Ofen geworfen wird, Gott also kleidet, wieviel mehr wird er euch kleiden, ihr Kleingläubigen! Darum auch ihr, fraget nicht danach, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, und fahret nicht hoch her. Nach solchem allem trachten die Heiden in der Welt; aber euer Vater weiß wohl, daß ihr des bedürfet. Doch trachtet nach dem Reich Gottes, so wird euch das alles zufallen. Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben. Ver­kauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Beutel, die nicht veralten, einen Schatz, der nimmer abnimmt, im Himmel, da kein Dieb zukommt, und den keine Motten fressen. Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.
Lukas 12, 22-34.

Eine heidnische Sage erzählt von der Erschaffung des Men­schen, daß eine Göttin, mit Namen Cura, auf deutsch: Frau Sorge, den Menschen geformt habe aus einem Stück Erde. Als sie ihr Gebilde aus Lehm geschaffen hatte, bat sie den Gott Jupiter, er möge ihm seinen Geist einhauchen. Jupiter tat das. Als nun das von Erde genommene Wesen zu leben begann, erhob sich ein Streit, wer ihm den Namen geben dürfte. Alle wollten es als ihr Eigentum reklamieren, der Gott, der den Geist gab, die Sorge, die die Gestalt fertigte, und die Erde, die den Stoff dazu hergab.

Da trat Saturn, der oberste der Götter, hinzu und verfügte: »Du Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist, du, Erde, weil du den Körper gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Körper empfangen. Weil aber die Sorge dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die Sorge es be­sitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es homo (Mensch) heißen, weil es aus humus (Erde) gemacht ist.« Diese alte Sage von der Sorge und dem Menschen ist dann von Goethe aufgenommen und eingefügt worden in die Tragödie des Faust, in jener ergreifenden Szene am Ende seines Lebens, als Faust davon träumt, die Völker durch Arbeit frei und glücklich zu machen. Da tritt die Sorge in seine einsame Kammer. Sie haucht ihn an, so daß er erblindet. Er hastet weiter, seinem Ende entgegen. Er wähnt, daß der Klang der Spaten zu seinen Füßen das Fanal einer neuen Zeit des Glückes und der Freiheit werden wird, während er in Wahrheit das Werk der Lemuren ankündigt, die sein Grab schaufeln. »Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern.«

Darum sage ich euch: Sorget nicht. Wir kennen den Spruch aus der Bergpredigt, wie wir sie bei Matthäus finden, wo er als Auslegung des Vaterunsers, das ihm vorangeht, vernommen wird. Hier bekommt die Mahnung des Herrn einen anderen Klang. Hier ist alles ausgerichtet auf das am Ende Kommende: Fürchte dich nicht, du kleine Herde. Es ist schon etwas in dem Ganzen zu spüren von der Kraft des Auferstandenen, wenn er, der Sie­ger durch die Macht des lebendigen Gottes, in die Kammer seiner Jünger tritt, die die Angst und die Sorge dort zusammengetrie­ben hat, und ihnen die Binde von den Augen nimmt, so daß sie seiner gewiß werden. Gerade von der Auferstehung Jesu her fällt ein starkes, helles Licht über die Torheit des Sorgens. Es ist, wie wenn der Morgen aufgeht und die Schatten der Nacht wei­chen müssen. Kein Wunder, daß die, die keine Hoffnung haben, von der Sorge übermannt werden; kein Wunder, daß in ihrem Herzen unablässig die Frage pocht: »Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden?« Kein Wun­der, daß von daher die blutigen Kämpfe der Menschen um die Futterplätze entbrennen; kein Wunder, daß die Sorge mit am Ti­sche sitzt, wo Regierungen und Kommissionen diesen Wettstreit der Interessen zu regulieren suchen — was würde es bedeuten, wenn wir einmal allen diesen dunklen Schatten den Rücken kehr­ten und unser Angesicht dem Osterfürsten zuwendeten, der mit dem Befehl in unsere Mitte tritt: Sorget nicht.

Nur von jenseits des Todes her hat dieser Ruf Kraft und Sinn. Denn Auferstehung heißt: also ist das Leben doch mehr als die Speise und der Leib — er ist in diese große Wandlung einge­schlossen — mehr als die Kleidung. Auf das Mehr kommt es an. Was machen wir daraus? Was macht unsere Blindheit daraus? Wenn wir das Mehr — und das besagt die große, helle überwälti­gende Hoffnung — streichen, dann degradieren wir die Lebensfrage zur Magenfrage, und die Leiblichkeit unserer Existenz wird »ein Erdenrest, zu tragen peinlich«, den wir schamvoll zu verhüllen trachten. Von hier, vom Menschen, von diesem Kind der Sorge her, ist der Mißklang in den Lobgesang der Schöpfung eingedrun­gen und durchsetzt ihren Lobgesang, der vom größten bis zum kleinsten Stern tagtäglich angestimmt wird, mit Angst und Sorge. Weil wir das Mehr des Lebens und der Leiblichkeit, das über die Berechenbarkeit und Sichtbarkeit hinausreichende Stück unserer Existenz, preisgegeben haben, darum ist nun die ganze Schöpfung ohne Mitte und ohne Herrschaft, darum müssen nun Blumen und Vögel unsere, des geistbegabten Menschen, Lehrer sein. So ist der Riß in die große Glocke gekommen, daß sie nicht mehr klingt, mögen Naturphilosophen und Dichter, Theologen und Prediger sie noch so eifrig schwingen. Der Anstoß, der sie neu zum Klingen und Schwingen bringen könnte, muß vom neuen Menschen aus­gehen, von der neuen Welt Gottes, von der Auferstehung. Von da aus kommt der Ruf: Sorget nicht! Von da aus darf es heißen: Deus sive natura, Gott oder die Natur, von da aus wird die Na­tur die Stimme Gottes und die Stimme Gottes das Natürliche sein. Die Aufklärung hat die Sache in gefährlicher Weise ver­kürzt, sie hat nicht begriffen, daß der Punkt, um die Welt aus den Angeln zu heben, außerhalb dieses Äons liegen muß, sie hat die dritte Dimension in ihrer Theologie vergessen.

Denn das Leben ist mehr als die Speise. Es ist darum mehr und nur darum mehr — weil es Totenauferstehung gibt. Weil der Mensch nicht vom Brote allein lebt, sondern von dem Wort, das von Gott her zu ihm — und nur und gerade zu ihm — kommt. Weil Gott nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen ist. Erst die Sorge hat uns so blind gemacht, daß wir das Große und das Kleine vertauscht haben. Das Leben ist das Große, und die Speise ist das Klei­ne, der Leib ist das Wunder, und die Kleidung ist unsere Zutat. Der Sorge verfallen, das heißt, der Auferste­hung und damit dem eigentlichen, nur vom neuen Äon her faß­baren Sinn des Lebens den Rücken kehren. Der Sorge verfallen heißt in den Schatten treten, den mein eigener Unglaube über meinen Lebensweg wirft. Die Sorge hat uns alle so blind gemacht, daß unser Tun ebenso hastig wie leer, unser Denken ebenso phan­tastisch wie ohnmächtig geworden ist. Was steckt denn hinter all den Plänen, den immer wieder neu gemachten, mit rühren­der Zuversicht im Osten wie im Westen über Trümmern und To­tengebeinen ungebrochen und unverwandelt proklamierten Rettungs- und Sekuritätsplänen? Wer denkt sie aus, und für wen werden sie ausgedacht? Die Sorge plant sie, und sie sind geplant, um die Welt mit Sorge zu erfüllen. Hier spürt man nichts von dem Frühlingswehen der Auferstehung. Nichts vom neuen Men­schen. Der Riß, die Disharmonie zu dem, was die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde predigen, wird immer größer. Wir haben die Maße verloren, so daß wir am Ende Got­tes Sache und unsere Aufgabe verwechseln. Die Sorge ist die Last des weißen Mannes geworden — und wer weiß, wie nahe ihm sein Ende ist.

Sollten wir nicht daran gehen, nach neuen Maßen unser Da­sein anzufassen, in seinen konkreten Sorgen und Bedrängnissen, in Gesellschaft und Haus, in Arbeit und Freizeit; sollten wir nicht versuchen, die Akzente wieder richtig zu setzen, die Rangordnung der Werte wiederherzustellen, wie sie eigentlich gemeint ist, das menschliche Dasein in allen seinen Fragen, den ideellen wie den materiellen, von den Gesetzen des Reiches Gottes und das heißt von der Auferstehung des Leibes her neu anzusehen und eine andere Überlegenheit zu beweisen, als wir sie bislang, gerade auch als Christen, an den Tag gelegt haben? Meinen wir nicht, daß dies auch eine Möglichkeit, ein Weg, ja der wirklich könig­liche Weg des Lebens wäre? Jesus ist darum gestorben und auf­erstanden, um uns zu helfen, daß wir Gottes Herrschaft unsere erste, vornehmste Sorge sein lassen. Muß denn noch mehr ge­schehen, um den Menschen nach dieser Richtung in Bewegung zu bringen?

So bekommt das Lied der Vögel unter dem Himmel und der Schmuck der Lilien einen neuen, unromantischen, realistischen Sinn. Denn diese unerlöste Welt wartet ja auf die Offenbarung der Kinder Gottes, wartet auf den neuen Menschen, der nicht mehr im Schatten der Sorge, sondern im Lichte der Hoffnung lebt. Sie wartet darauf, daß Menschen sich erheben, die mit Wort und Tat beweisen, daß der Schleier der Sorge am Ostermorgen zer­rissen ist wie der Vorhang im Tempel. Sie wartet darauf, daß wir wieder von der Mitte aller Dinge her leben, zentripetal und nicht zentrifugal, von der Herrschaft her, die Gottes Macht und Gnade kundtut, der gegenüber Sünde und Tod weichen müssen. Befehl und Verheißung liegt in dem Wort Jesu: Sorget nicht! Befehl an alle, die seiner Herrschaft trauen, die begreifen, wer in Jesus mit uns redet. Lind Verheißung der neuen Welt Gottes und des neuen Lebens, das in Jesus uns allen so nahe gekommen ist. »Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde wer­den, und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein heilbringender und eine neue Hoffnung« (Nietzsche). »Darum, wenn du eine Nachtigall singen hörst, so hörst du den feinsten Prediger, der dich dieses Evanglii ermahnet, nicht mit schlechten bloßen Worten, sondern mit der lebendigen Tat und Exempel, weil sie die ganze Nacht singt und gellt sich schier zu Tode und ist viel fröhlicher im Wald, als wenn sie im Vogelbauer gefangen ist, da man sie mit allem Fleiß warten muß, und sie doch selten gedeiht und le­bendig bleibt, als sollte das uns sagen: Ich will lieber in des Herren Küche sein, der Himmel und Erde geschaffen hat und selbst Koch und Hauswirt ist und täglich viel Vöglein speist und ernährt aus seiner Hand« (Luther). Es ist kein heidnisches, ob­schon ein unseren Ohren längst entwöhntes, aber doch — wenn wir Ohren haben, zu hören — seliges carpe diem, das die ganze Natur um uns her vorlebt. Und es ist ein großes, wenn nicht das größte Problem der Weltgeschichte, warum der Mensch, für den und auf den hin dies alles geschaffen ist, herausgetreten ist aus diesem Lebensgesetz des »Heute«, aus diesem Geborgensein aller Dinge in Gott, das ihn doch Tag um Tag zur Umkehr ruft: »Summa, wir haben so viel Meister und Prediger als Vögel in der Luft, die mit ihrem lebendigen Exempel uns zuschanden ma­chen, daß wir uns sollten schämen und nicht dürften die Augen erheben, wenn wir einen Vogel singen hören, als der Gottes Lob und unsere Schande gen Himmel schreit« (Luther).

Aber Jesus sagt noch mehr. Es geht ein Klang durch seine Rede, der auch den Ärmsten und Verzweifeltsten unter uns das Herz höher schlagen lassen könnte. Jesus fragt, wie man jemanden fragt, der etwas vergessen hat, was er nicht vergessen durfte: Wißt ihr nicht, ihr Menschen, was ihr für Gott bedeutet? Was sind die ande­ren Wesen dieser Erde verglichen mit den Menschen? »Wieviel seid ihr besser denn die Raben.« »Wieviel mehr wird er euch kleiden, ihr Kleingläubigen.« Begreifen wir denn nicht, daß Gottes ver­schwenderischer Reichtum, den er um uns ausbreitet im Blühen und Wachsen des doch so schnell vergehenden Lebens der Pflan­zen und Tiere, eine Spitze hat, die auf uns, auf den Menschen im Menschen, weist? Der Mensch bezeichnet auf jeden Fall die Stelle in der ganzen Schöpfung, wo Gottes eigentliches Wunder, wo seine ganze Herrlichkeit und Größe sich offenbaren wird. Hier ist Gottes größte Tat, hier ist seine volle Gnade und Barm­herzigkeit zu erwarten.

Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des bedürft. Warum soll es denn nicht wieder so unter uns zugehen, daß wir Gott die Dinge anheimbefehlen, die, wenn wir sie zu unseren Sorgen machen, bald alles andere, Gottes Reich und alles, was dazuge­hört, Leben, Freude und Liebe, Güte und Geduld, Erkenntnis und Glaube wie ein böses Unkraut überwuchern und überwachsen werden? Menschen, die aus meiner Heimat im Osten jetzt her­ausgekommen sind, haben mir erzählt, daß da, wo vor ein paar Jahren noch die sorgsam bestellten Felder ihre reiche Frucht tru­gen, heute Disteln und Unkraut das ganze Land bedecken. Ist das nicht ein Bild unseres ganzen Lebens? Da, wo einmal ein Fragen und Suchen nach Wahrheit und Erkenntnis war, wo die Menschen nachsannen, um den eigentlichen Fragen des Lebens auf den Grund zu kommen, wo in oft großer Armut ein reines Herz und ein hoher Geist sich regten, da ist heute alles überdeckt von dem Schlinggewächs des, was wir essen und was wir trinken sollen. Unser Text hat hier ein Wort, das Luther übersetzt: »Fah­ret nicht hoch her«, andere übersetzen: »Ängstet euch nicht.« Es wird schwer zu entscheiden sein, wer recht hat. Aber die War­nung vor dem Luxus würde schön hineinpassen in diese Mah­nungen Jesu. Denn der Luxus macht die Menschen unzufrieden, er läßt das Trachten nach den vergänglichen Gütern so mächtig unter uns werden. Ein großer Gelehrter hat auf den engen Zusam­menhang hingewiesen, der zwischen dem Luxus und dem Kapi­talismus besteht. Das alles heißt Öl in die Flammen der Sorge gießen. Warum können wir nicht wieder singen:

Er weiß viel tausend Weisen,
zu retten aus dem Tod,
ernährt und gibet Speise
zur Zeit der Hungersnot,
macht schöne, rote Wangen
oft bei geringem Mahl,
und die da sind gefangen,
die reißt er aus der Qual.

Hier kommt das Wort »Zufall« zu seinem Recht. Gemeint ist damit eine zusätzliche Gabe, etwas, was Gott hinzufügt, hinzutut. Essen und Trinken, Haus und Hof, Acker, Vieh und alle Güter sind solche zusätzlichen Gaben. Gaben, an denen wir nicht unbedingt Gottes Vaterschaft und Liebe ablesen können. Er kann es geben und Er kann es nehmen. Das, woran wir Gottes Vater­güte immer erkennen und begreifen, ist die Gabe seines Reiches, ist das Aufgenommenwerden dahin, »wo Fried und Freude lacht«, ist das ewige Leben.

Das »Sorget nicht« geht aus in ein »Fürchte dich nicht, du kleine Herde!« Jesus will damit sagen: Wartet nicht mit dem, was ihr nun tun müßt, bis ihr viele seid. Seht nicht um euch her, auf die anderen, die nicht mittun, die schlafen, die müde und träge sind, seht nach oben. Seht, daß das Wohlgefallen Gottes wie ein helles Leuchten über euch, gerade über euch steht. Gottes Reich beginnt nicht, wie Massenbewegungen beginnen, obschon solche Bewegungen immer wieder einen eigentümlichen Zauber auf fromme, auf Gottes Reich wartende Menschen ausgeübt haben. Aber »Hütet euch« auch hier! »Die ›Menge‹, wenn sie als Instanz für die Wahrheit behandelt wird und ihr Urteil das Urteil sein will, verabscheut der Wahrheitszeuge mehr als das junge sittsame Mädchen ein Tingeltangel. Und die zur Menge als Instanz reden, sind in seinen Augen Werkzeuge der Unwahrheit. Die Menge ist die Unwahrheit. Ich könnte weinen, jedenfalls kann ich die Sehnsucht nach der Ewigkeit lernen, wenn ich an die Erbärmlich­keit unserer Zeit denke, welche die heillosesten Zustände des Al­tertums weit übertrifft« (Kierkegaard). Nein, Gott ist nicht beiden starken Bataillonen, das sollen die Jünger Jesu als Regel Seiner Strategie mitnehmen. Sie sollen sich nicht fürchten, wenn sie se­hen, daß sie in der Minorität sind. Die »Gemeinde« ist immer die »kleine Herde«. Wenn Gott seine Schlachten schlägt, bedient er sich der Geringen, der Minoritäten, der unscheinbaren Werk­zeuge, sonst möchte »Israel sich rühmen wider mich und spre­chen: Meine Hand hat mich erlöst.« Wer zu der kleinen Schar gehören will, die Gott je und dann in besonderer Weise expo­niert, die bleibt, wenn die anderen »hinter sich gehen«, der muß lernen, mit der ungeheuren Paradoxie zu rechnen, daß das Reich, das für die ganze Welt da ist, dessen Türen für alle offenstehen, dessen Ruf in allen Zungen vernommen wird — daß dieses uni­versale Geschehen des Reiches Gottes da beginnt, wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind, wie es immer wieder ge­wesen ist: in den Gemeinden am See Genezareth, in den Hafen­vierteln von Korinth und den Hausgemeinden von Rom, in dem Turmstübchen des grauen Klosters von Wittenberg und den Bür­gerschaften von Zürich und Genf, bei den Kohlenarbeitern von Sheffield und den Pilgervätern, die ihren Covenant unter Gottes Gegenwart beschwören und das Leben der Heiligen in der neuen Welt beginnen. Wortwörtlich sind solche Verheißungen Jesu in Erfüllung gegangen — und es ließen sich hierzu noch mancherlei Beispiele aus der jüngsten Geschichte in Deutschland und anders­wo anführen.

Es wird, es muß geradezu ein Mißverhältnis bestehen zwischen der Sache, die ihr zu vertreten habt, und der Zahl derer, die da­für eintreten. Fürchtet euch darum nicht. Versucht nicht unter der Parole der Volksmission oder des Öffentlichkeitswillens aus dem Glaubensartikel der Kirche einen Schauartikel zu machen. Schämt euch des Evangeliums nicht, das der kleinen Herde gilt. Wenn es einmal von Gott her tagen wird über den Fortgang Seines Rei- dies, die Schleier fallen werden über dem, was wir Kirchenge­schichte nennen, werden die »kleinen Herden«, die hier und da Gottes Reich bezeugt und die Welt in die Schranken gefordert haben, den wahren Zusammenhang und die lautere Tradition Seines Reiches repräsentieren — und was wir »Kirche« nennen, wird sehr nahe an den breiten Weg herankommen, wo die vielen zur Verdammnis wandeln. »Die Menge ist die Unwahrheit«, es gibt auch eine christliche, eine fromme Menge — vergeßt nicht, euch umzuschauen, worauf das Wohlgefallen Gottes ruht. Denkt daran, daß es besser ist, ihm als den Menschen zu gefallen. »Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott?« Das ist die Sprache derer, »die so ein armes Häuflein sind« und doch nicht »verza­gen«. Darum — es liegt hier dasselbe Motiv zugrunde wie bei der Mahnung im Eingang, die Menschen nicht zu fürchten, die den Leib töten — fürchtet euch nicht, auch wenn ihr entdecken werdet, daß ihr eine »kleine« Herde seid. Fürchtet euch vielmehr, dort zu stehen, wo die Sonne nicht scheint, wo das Licht erlosch, wo das Wohlgefallen Gottes nicht euer Himmel und eure Zu­versicht ist, wo die Menschen nicht suchen, »was droben ist«, wo sie nach unten, auf sich und die anderen schauen, aber nicht in den Himmel, der sich in Jesus Christus aufgetan hat.

Denn das, was ihr können sollt, könnt ihr nur hier. Nur da, wo die Nähe des Reiches Gottes geglaubt wird, wo wir von sei­nem Kommen und seinen — neuen Gesetzen leben, werden wir es wagen, »Narren in Christo« zu sein. Und das müßten wir schon werden, wenn anders uns das, was jetzt folgt, nicht anmu­ten soll wie die Parole eines weltfremden Schwärmers: Verkauft euren Besitz und gebt Almosen! Macht euch Beutel, die nicht ver­alten, einen Schatz, der unerschöpflich ist in den Himmeln, wo ein Dieb nicht hinkommt noch eine Motte ihr Zerstörungswerk treibt. Schon die alte Kirche hat Mühe gehabt, mit diesen und ähnlichen Worten Jesu — dem spezifisch lukanisch-jakobinischen Kerygma! — fertig zu werden. Zunächst hat sie die Sätze noch wörtlich genommen und erst später allegorisiert. Sie wollen aber wörtlich genommen sein. Sie wollen ohne Abstrich gehört sein. Wir Europäer könnten doch etwas wissen von Beuteln, die über Nacht ihren Wert verloren haben, von Dieben, die — gewiß nicht ohne Gottes Zulassung — uns zeigen, was dieser Welt Güter wert sind, von Motten, die unsere Festkleider zernagen und die Weissagungen des Jesaja an das üppig-unbekümmerte Jerusa­lem zur modernsten Lektüre machen, die man den offenbar im­mer noch ahnungslosen Europäern auf den Nachttisch legen sollte. »Es heißen aber nicht allein Motten und Rost, so die Kleider und Eisen und Erz fressen, noch die Mäuse und Ratten, die man mit Fallen fängt, auch nicht allein Diebe, die heimlich Kästen räu­men, sondern auch die großen lebendigen Motten und öffentli­chen Diebe, als die großen Eisenfresser und Scharrhansen zu Hofe, die einem Fürsten können Boden und Beutel leeren und zuletzt um alles bringen, was er hat. Also auch in Städten, nicht allein die einem Bürger zum Haus einsteigen, sondern eine Stadt fein heimlich aussaugen mit Wuchern und Schinden, auf dem Markt und wo sie können, so daß kurzum, wo Geld und Gut ist, da müssen auch Motten und Diebe sein …« (Luther).

Darum seid klug! Das vergrabene Pfund hat keinen Wert. Geld an sich, Vermögen, Besitz an sich sind Zeichen der Angst und der Sorge. Was nutzt der Reichtum, wenn ringsherum die Armut und das Elend wächst? Dieses Horten toter Werte ziemt den Kin­dern des kommenden Reiches nicht. Laßt das Geld dem dienen, wozu es — im Sinne des Gottesreiches bestimmt ist: der Barm­herzigkeit. Welcher Triumph, wenn der Reichtum, das Geld, das kälteste und unpersönlichste unter allen Dingen der Erde, unter euren Händen und unter der Direktive der Gottesherrschaft dem Wachsen des Reiches Gottes dienen muß! So wie der Teufel sich für seine Zwecke — nur zu oft und zu erfolgreich — fromme In­stitutionen und Phrasen aneignet, so soll hier, bei euch, das Ge­genteil geschehen: ihr sollt den Mammon der Ungerechtigkeit dienstbar machen, ihr sollt das, was Menschen auseinanderbringt, zwingen, Menschen zu Freunden zu machen. Ihr sollt aus dem unbarmherzigsten Stoff des Geldes einen Mantel des Erbarmens weben, um eures Bruders Blöße zu decken. Denkt daran, daß der Weltenrichter euch am Ende der Tage nicht fragen wird: Wo ist euer Vermögen?, sondern daß er euch fragen wird: Wo ist euer Bruder? Er wird nicht fragen: Was hast du gegessen, wie hast du dich gekleidet (das nur zur Beruhigung der allzu Skrupulösen unter uns und zur Beunruhigung derer, die meinen, man müsse nun sauer sehen und sich in Sack und Asche hüllen)?, sondern er wird, wenn du ihm gefolgt bist, das Geheimnis deines Lebens aufdecken: Ich war nackend, und du hast mich gekleidet, ich war hungrig, und du hast mich gespeist. Dann wirst du wissen — dann, wenn dir dieses Wissen nicht mehr schaden kann —, daß du einen Schatz im Himmel hast. Dann werden dort Heimlichkeiten offenbar werden, vor denen euch nicht zu grauen braucht.

Unser Text gebraucht hier das Wort »Almosen«. Dieses Wort ist bei uns in Verruf gekommen. Wir sollten das unsere tun, um es wieder zu dem zu machen, was es im Sinne Jesu ist. Das Wort bedeutet seinem ursprünglichen Sinne nach: »Tat der Barmher­zigkeit«. Es bedeutet immer ein Ganzes, immer etwas, bei dem Herz und Hand beteiligt sind. Barmherzigkeit ist eine Macht, die das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein fleischernes — das heißt ein menschliches, mitfühlendes, mitfreuendes und mitklagendes Herz geben wird. Barmherzigkeit ist der neue Geist, der da einzieht, wo die Sorge weicht. »Gebt Almosen« heißt in Wahrheit: Laßt Barmherzigkeit zur Tat werden, laßt sie zu einem Wirklichkeit, Besitz und Habe bestimmenden und verwandelnden Gesetz werden. Die Barmherzigkeit ist das Gesetz des Himmelreiches, das einzige, das hier gilt. Wehe dem, der da­gegen verstößt; Heil allen, die nach ihm leben!

Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein! Hier müßte man nun eigentlich jeden Leser dieser Auslegung bitten, sich Luthers Auslegung zum ersten Gebot im Großen Katechis­mus vorzunehmen. Denn es ist kaum je Besseres zu dieser Sache geschrieben worden. Was hier aus dem Worte Jesu aufleuchtet, ist das erste Gebot. Denn einen Schatz haben heißt doch wohl, etwas haben, was wir lieben und woran wir hängen, dessen Be­sitz uns Glück und Heil verbürgt. »Darum will er uns von allem anderen abwenden, das außer ihm ist, und zu sich ziehen, weil er das einige, ewige Gut ist. Als wollte er sagen: was du zuvor bei den Heiligen gesucht hast, oder auf den Mammon und sonst vertraut hast, das versieh dich alles zu mir und halte mich für den, der dir helfen und mit allem Guten reichlich überschütten kann« (Luther zum 1. Gebot).

So ist denn dieser Abschnitt ein Stück »Nationalökonomie« aus der Perspektive der Gottesherrschaft geworden. Jesus läßt sich nicht herausdrängen aus dem Alltag unseres Lebens, und von der bekannten Rede der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Le­bens, die heute wieder um uns wirbt, weiß der Herr nichts. Du und dein Bruder — das sei der Bereich, in dem die Barmherzigkeit walte, die neue Welt Gottes, die sich vor dir aufbaut. Mein und Dein — das ist das Reich der Sorge und der Einsamkeit, das eben damit hinter dir liegt. Die Nähe des Gottesreiches bedeutet, daß eine große Wendung, ein Umbruch fällig ist: die Wendung, zu der uns die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde rufen. Denn ihr Ruf heißt nicht (wie wir das allzulange falsch gedeutet haben): Zurück zur Natur — sondern: Das Him­melreich ist nahe herbeigekommen.

V

Eure Hüften sollen umgürtet sein und eure Lampen angezün­det und ihr selbst sollt Menschen gleich sein, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbricht von der Hochzeit, damit sie, wenn er kommt und klopft, ihm sogleich auftun. Selig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch, er wird sich gürten und sie sich zu Tische legen lassen und herzutreten und ihnen aufwarten. Auch wenn er (erst) in der zweiten, auch in der dritten Nachtwache kommt und findet sie so, selig sind jene. Dies aber wisset, daß, wenn der Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, er es kaum zugelas­sen hätte, daß sein Haus durchgegraben würde. Seid auch ihr bereit, denn der Sohn des Menschen kommt zu der Stunde, da ihr es nicht glaubt. Es sprach aber Petrus: Herr, sagst du dies Gleichnis zu uns oder zu allen? Und der Herr sprach: Wer ist denn der treue, verständige Haushalter, den der Herr über sein Gesinde setzen wird, daß er jedem zu seiner Zeit das rechte Maß an Getreide gebe? Selig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, so tun findet. Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn, wenn er kommt, über alle seine Güter setzen. Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr verzieht zu kommen, und an­fängt die Knechte und Mägde zu schlagen und zu essen und zu trinken und sich zu berauschen, so wird der Herr jenes Knechtes an einem Tage kommen, da er ihn nicht erwartet, und zu einer Stunde, da er es nicht merkt, und wird ihn in Stücke hauen las­sen und seinen Teil zu den Ungläubigen stellen. Jener Knecht aber, der den Willen seines Herrn kannte und keine Vorberei­tungen traf, noch nach seinem Willen handelte, wird schwer ge­züchtigt werden. Der aber nichts davon wußte und gleichwohl auch Dinge tat, die der Strafe wert sind, wird milde gezüchtigt werden.
Lukas 12,35-48.

Man muß beachten: zwischen Vers 34 und Vers 35 besteht ein sachlicher Zusammenhang. Anders als Matthäus und Markus hat unser Evangelist die beiden großen Themen: den Ruf Jesu zur Freiheit vom Besitz und die Mahnung zur Wachsamkeit, eng aneinander gerückt. Er hat eine Klammer um beide gelegt, eine in der Sache begründete Klammer. Denn die Abhängigkeit des Lebens von den Gütern dieser Welt, das Sichhängen an die Schät­ze, die der Rost und die Motten fressen, ist offenbar nur die Kehrseite einer müde gewordenen Hoffnung. So geht es, wenn Knechte aufhören, mit der Wiederkehr ihres Herrn zu rechnen. Dann verfallen sie dem Vorfindlichen, klammern sich an das Vor­handene. Wenn man die Jesusworte von Vers 35 ff. als Kommen­tar zu Vers 34 verstehen darf, dann hat er mit dem Schatz zum mindesten etwas gemeint, was nicht hier ist. In der Redeform des Messiasgeheimnisses hat er von seiner Zukunft gesprochen, von seinem Weggehen und Wiederkommen. Er hat damit deut­lich gemacht, wie wir diesen Schatz finden; wie man frei wird, so frei, wie die Vögel sind; wie man heimfindet in den wahren Rhythmus des Lebens, in dem die andere »geistlose« Kreatur noch steht. Ebendarum, weil unser Leben aufgehört hat, ein war­tendes, hoffendes, ausschauhaltendes Leben zu sein, sind wir der Sorge und dem Besitz verfallen. Es geht hier Jesus nicht etwa nur um ein »christliches« Leben als Spezialform des Lebens über­haupt, sondern es geht um das Leben selbst. Es geht darum, wen man unter den Lebenden »selig« sprechen kann. Wer die enge Pforte gefunden hat. Wer hier — und auf das Hier und Jetzt kommt dabei alles an — den rechten Weg nach dort gefunden hat und auf ihm wandelt. Wer den »Schatz«, also den Zentral­wert des Lebens, »für den es sich zu leben lohnt«, im Gegenwär­tigen sucht, gleich ob das nun Personen- oder Sachwerte, ob es hohe oder niedrige Ziele sind, der wird sein Leben verlieren. Wer es aber verliert, indem er es ganz und gar von dem Kommenden her erwartet, der wird’s gewinnen. Das heißt leben: als Knecht des kommenden Herrn auf der Zinne stehen und bereit sein. Den Schmerz und die Drangsal dessen ganz in sich aufnehmen, daß unsere Liebe und unsere Hoffnung keinen konkreten, keinen greifbaren und sichtbaren Inhalt hat! Daß wir darauf angewie­sen sind, »bis daß er kommt«, uns an die Verheißung zu halten. In dieser Erwartung sein Leben zubringen, es ganz und gar in diese Erwartung einschmelzen, dieses Erstgeburtsrecht nicht preis­geben für das Linsengericht auch noch so lockender gegenwär­tiger, greifbarer Möglichkeiten — das heißt ein treuer Knecht sein. »Es wird die Zeit kommen, daß ihr werdet begehren, zu sehen einen Tag des Menschensohnes, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe hier! Siehe da! Geht nicht hin und folget auch nicht« (Luk. 17, 22 f.). Ist nicht die ganze Kir­chengeschichte — auch unsere aller jüngste — erfüllt von diesem: Siehe hier, siehe da!? Wissen wir auch, wie schwer es dann ist, mitten in solchen hochgestimmten Zeiten sich die Ohren zu ver­stopfen und alle diese Erscheinungen und vermeintlichen Theophanien — Gott in der Geschichte! — an sich vorübergehen zu lassen, wie Elias in seiner Höhle, ohne herauszutreten? Immer nur nein sagen, immer Protestant sein müssen! Nicht mit ein­stimmen dürfen, wenn sie das Schlagwort vom positiven Chri­stentum prägen, nein sagen, laut und vernehmlich nein, wenn sich die Kirche — die wartende — verwechselt mit dem Reiche Gottes — dem Gegenstände ihrer Erwartung. Nein sagen zu jedem religiösen, klerikalen oder auch kulturprotestantischen Kurzschluß, der uns die Verchristlichung der ganzen Welt verspricht und damit das eine nimmt, was nicht von dieser Welt ist. Ein wartender Knecht sein heißt ein freier Mann sein, der sich nicht bindet, einer, den nichts ganz befriedigt, was dieser Äon ihm zu bieten vermag. Ein wartender Knecht sein heißt ergriffen sein von einer Erwartung, die anders noch als die Idee in der Philosophie, näm­lich den ganzen Menschen ergreifend, über diese Welt hinaus­langt und weiß, auf wen sie hofft. Der so Hoffende ist gefeit gegen die Sorge. Er wird nicht erblinden. Er wird helle Augen behalten. »Laßt eure Lichter brennen.« Er wird nicht da Rast machen, wo kein Ruheplatz vorhanden ist, wo sich doch alles verändert, wo sich doch alles dreht. Er wird in der Fremde ein Fremdling sein, in der Welt ein Wanderer, in der Zeit einer, der nicht stillsteht, im Kampf einer, der nicht abrüstet. »Laßt eure Lenden umgürtet sein.« Weil diese Welt abbruchreif ist, muß unser Leben in ihr aufbruchbereit sein. Sonst passen wir nicht hinein. Darum seid gleich wie (beachte die Gleichnisrede) Men­schen, die auf ihren Herrn warten«, »die aber gottis warten, die bitten gnad, aber sie stellen es frey und tzu gottis gutem willen, wenn, wie, wo und durch was er yhn helffe. An der hilffe zweyf- feln sie nit. Sie geben yr aber kein namen nit, sie lassen sie gott teuffen und nennen, unnd solt es auch lange an masz vortzogen werden. Wer aber der hilff einen namen gibt, dem wirt sie nit, dann er wartet unnd leydet gottis radt, willen und vortzihen nit. Das ist, meyn seel ist ein wartendes aber harrendes ding wurden« (Luthers Bußpsalmen, Psalm 130,5). Wenn irgendwo die Heilsbedeutung der Lehre von der Wiederkunft Christi für die Gemeinde mit Händen zu greifen ist, dann hier. »Selig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet.« »Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark« (1. Kor. 16,13). »Selig ist, der da wachet« (Offb. 16,15). In diesem einen Punkte liegt der ganze Unterschied zwischen den guten und den bösen Knechten. Hier wird die Linie sichtbar, die als Gerichtslinie mit­ten durch das Gesinde des Herren geht: die einen rechnen damit, daß ihr Herr — der zur Zeit abwesend ist — wiederkommt. Die anderen benehmen sich, als ob er ihnen die Herrschaft übertra­gen hätte und selbst nicht mehr käme! Das ist die Licht- und Schattenseite seines Ferneseins. Das ist die tiefste und schwerste Versuchung der Menschen, die sein Werk auf Erden treiben, in seiner Aufgabe heute stehen, es ist die Versuchung des Großin­quisitors, des Vikariates Christi. Die eschatologische Kompo­nente ist das Prägezeichen in unserer christlichen Existenz. Wer dieses Zeichen nicht an sich hat, der soll gewiß sein, daß sein Teil bei den Ungläubigen sein wird. Christlich existieren heißt in der Erwartung des kommenden Herrn existieren. Wo diese Er­wartung erloschen ist, da ist nicht nur ein unwesentliches oder akzidentielles Stück unseres christlichen Lebens stillgelegt, nicht etwa »nur« die Hoffnung erstorben, sondern damit ist alles per­vertiert und korrumpiert, der Glaube und die Liebe und die Hoff­nung, das Ganze ist verkehrt.

Denn Jesus Christus ist der Kommende. Er begegnet jedem, dem er wirklich begegnet, von der Zukunft her, als das kommende Leben, als der Herr der kommenden Welt. Anders kann er nicht unser Herr sein. Wäre er nur einer, der einmal gekommen ist, also eine Größe der Vergangenheit, wir würden uns seiner be­mächtigen. Der »historische Jesus« ist in unserer Hand, nicht mehr wir in der seinigen. In Jesus ist die Unterscheidung zwischen Ver­gangenheit und Zukunft aufgehoben, das, was hinter uns liegt, verwandelt sich in das, was vor uns liegt. »Der ist’s, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist« (Joh. 1,27), anders kann man von ihm nicht zeugen. Jesus ist der ein­zige Mensch der Geschichte, von dem das gilt. Nur als der Kom­mende ist er der, der gekommen ist. Beides ist ineinander ver­woben. Jesus ist nicht einmal gekommen und gegangen und wird wiederkommen, wie einer, der aus einem Zimmer geht und um­kehrt und Wiedereintritt. Solche Vorstellungen greifen fehl, wo es um sein Kommen geht. Darum redet Jesus nur gleichnishaft von Kommen und Wiederkommen. Jesus will sagen: als der Kom­mende bin ich jetzt mitten unter euch. Und als der, der ich be­reits gekommen bin, werde ich zu euch kommen. Der Wieder­kommende bleibt der, der gekommen ist. Er gürtet sich wie bei dem Abschiedsmahl (Joh. 13) und dient seinen Knechten, wie er ihnen bei seiner ersten Ankunft diente (Mark. 10,45). Der Jesus des ersten und der Jesus des zweiten Advent ist sich gleichge­blieben. Er hat sich nicht verändert, er ist die Ereignis gewordene Treue Gottes in Zeit und Ewigkeit. Was er uns war, das wird er wieder sein. In Jesus gibt es allerdings eine Wiederkehr aller Dinge. Jesus Christus ist derselbe in Zeit und Ewigkeit. Selig die Knechte, die in ihrer wartenden, hoffenden, allezeit wachen Exi­stenz von dieser Treue leben. Die mit diesem Jesus Christus rech­nen. Deren Schatz wird dann in der Tat dort sein, wo das Gesetz der Todeswelt und der Vergänglichkeit keine Geltung hat. Wer Jesus Christus recht erkennt, dem verwandelt er sich aus einer Größe von gestern in eine solche von morgen. Aber dieses Mor­gen liegt nicht mehr innerhalb der Zeit, sondern ist das, was die Zeit zur Zeit macht, zu dem langgezogenen, mit Seufzen und Sehnen erfüllten Noch-Nicht seiner Wiederkunft. »Ja, komm, Herr Jesu.« Dieses Gebet ist nicht zufällig das letzte Wort des Neuen Testamentes.

Das alles ist in diesem Gleichnis, das Jesus seinen Jüngern für die »Zeit« mit auf den Weg gibt, enthalten. Sie sind Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten, wenn er aufbricht von seiner Hochzeit. Ohne Bild gesprochen: Wenn Jesus kommen wird, wird er kommen als Bräutigam, der die Braut gewonnen hat. Er hat sie sich gewonnen — seine Gemeinde — auf der Bluthochzeit in Golgatha. Sie ist insofern sein, als sie eine wartende, ihn er­wartende Gemeinde ist. Was soll seine Wiederkunft denen, die ihn nicht mehr erwarten? Die werden nicht einmal die Rede da­von verstehen. Die, welche damit zufrieden sind, daß er einmal gekommen ist, und sich als Verwalter und Erben seiner Hinter­lassenschaft fühlen, kann die Kunde von seiner Wiederkunft nur als ein Mythos berühren. Damit zeigen sie nur, wie es faktisch um ihre Existenz steht! Sie müssen jetzt Herren spielen, sie müs­sen mit Brotwunder und Schauwunder arbeiten, sie müssen ver­gessen, daß wir alle gleicherweise wartende Knechte sind, sie müs­sen Scheidungen aufrichten, wo Einheit sein sollte, sie müssen sich trösten mit dem, was anderen zugehört. Sie sind dem Namen nach Haushalter, aber treu sind sie nicht; wie könnten sie es auch sein, wo sie ja doch mit dem kommenden Herrn nicht mehr rech­nen. So wird hier das Ethos im Leben der Menschen untereinan­der, Zucht und Gerechtigkeit auf der einen Seite, Zuchtlosigkeit und Gewalttat auf der anderen, von diesem einen Punkt her an­gestrahlt: von der Zukunft des Herrn. Es wirkt dieses Gleichnis wie ein Wort, das alle Menschen verstehen, nicht nur die Jün­ger; es ist eine Antwort auf die Petrusfrage im faktischen Sinne: das begreifen alle. Was ein »treuer und kluger Haushalter« ist, verstehen sie genauso wie das andere, was ein hochgekommener Knecht ist, der sich als Herr gebärdet. Sich mit dem Herrn ver­wechseln ist der Schlüssel zu aller Tyrannei, im Großen wie im Kleinen, im Staatlichen wie im Kirchlichen. So enthüllt sich das Gleichnis von den wartenden Knechten, und alle Welt kann hin­einschauen und erkennen, daß hier der Grund liegt von Gerech­tigkeit und Ungerechtigkeit. Daran liegt alles. Daß der Herr, der gekommen ist, der wiederkommende Herr bleibt und wir seine Knechte.

Mitten in dieses Gleichnis ist ein anderes hineinverwoben, wel­ches sich durch das ganze Neue Testament zieht und Antwort sein will auf die Frage: Wann kommt das Ende? Wann kommt der Herr? Kein Wunder, daß die, welche an seine Wiederkunft nicht glauben, über eine solche Frage lächeln. Sie verraten damit nur, wes Geistes Kind sie in Wahrheit sind. Wer ihn erwartet, kann gar nicht anders fragen als: Wann wird das geschehen? Aber es gibt keine Antwort darauf. Es kann keine darauf geben. Denn diese Wiederkunft liegt eben nicht in der verlängerten Zeitreihe, die unser Geist in die Zukunft hinein legt, um sie ihres geheimnisvollen Charakters zu entkleiden. Nein, Jesus gebraucht eine andere Redeweise, um uns zu antworten: wie ein Dieb! Un­berechenbar, wirklich auf uns zukommend, nicht in unserer Hand liegend, so wird die Zukunft des Herrn sein. So wird er erschei­nen wie ein Dieb, als die große Erschütterung und Beraubung allen, die sich halten an das, was sie haben, an die Schätze dieser Welt, an das Wissen um das, was war, an das Christentum als Tradition, an Jesus als den Gekommenen, Bekannten, den an die Kirche oder die Theologen oder gar die Historiker Ausgelieferten. Allen diesen wird sein Kommen sein wie der Einbruch eines Die­bes in den Palast des Reichen. Aber den Armen, Wartenden, Hof­fenden, denen, die sich gegürtet haben zum Aufbruch, denen, die ihre Lampen brennend halten, wird es Erfüllung sein, Bestätigung dessen, was sie geglaubt und gehofft haben. Sie werden sich ge­rechtfertigt finden in ihrer scheinbar gebrochenen Existenz, in dem merkwürdigen Expressionismus ihres erwartungsvollen Lebens.

Hier liegt auch der Schlüssel zu jenem Satz: daß der Wissende, wenn er fehlt, schwerer gestraft werden wird als der Unwissende bei gleichen Fehlern. Denn der Unwissende kann noch staunen, ihm können noch die Augen aufgehen. Aber der Wissende hat seinen Lohn dahin! Wissen, ohne danach zu leben, ist schlim­mer als Unwissenheit. Ein Jünger sein heißt in jedem Falle ein Wissender sein.

VI

Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon! Aber ich muß mich zu­vor taufen lassen mit einer Taufe; und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde! Meinet ihr, daß ich hergekommen bin, Frie­den zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei wider zwei, und zwei wider drei. Es wird sein der Vater wider den Sohn, und der Sohn wider den Vater; die Mutter wider die Tochter, und die Tochter wider die Mutter; die Schwiegermutter wider die Schwiegertochter, und die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter. Er sprach aber zu dem Volk: Wenn ihr eine Wolke sehet aufgehen vom Abend, so sprecht ihr alsbald: Es kommt ein Regen — und es geschieht also. Und wenn ihr sehet den Südwind wehen, so sprecht ihr: Es wird heiß werden — und es geschieht also. Ihr Heuchler! Die Gestalt der Erde und des Him­mels könnt ihr prüfen; wie prüft ihr aber diese Zeit nicht? Warum richtet ihr aber nicht von euch selber, was recht ist? So du aber mit deinem Widersacher vor den Fürsten gehst, so tu Fleiß auf dem Wege, daß du ihn loswerdest, auf daß er nicht etwa dich vor den Richter ziehe und der Richter überantworte dich dem Stockmeister und der Stockmeister werfe dich ins Gefängnis. Ich sage dir: Du wirst von dannen nicht herauskommen, bis du den allerletzten Heller bezahlest.
Lukas 12,49-59.

Es ist also das Kommen Jesu selbst schon ein Stück Gericht. Das meint Jesus mit dem Wort: »Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, was wollte ich lieber, denn es brennete schon.« Es ist nicht das Feuer der Begeisterung, von dem der Herr hier redet, wie man das Wort manchmal fälschlich verstanden hat, sondern es ist das Weltenfeuer des großen Gerichtes Gottes, in dem alles verbrannt und geläutert wird, was Menschen tun und was Menschen sind. Jesus kommt, um ein Feuer anzuzünden, und wahrhaftig, seit er gekommen ist, brennt es unter uns. Seitdem hört es nicht auf mit Gerichten, die über die Menschen kommen, Revolutionen und Kriegen, in denen unsere Sünde und unsere Schuld gerichtet wird. Seitdem hört es nicht auf, zu brennen unter uns, auch im geistigen Leben. Wir müssen unsere eigenen Kritiker sein, wir müssen den Balken sehen, der in unserem eige­nen Auge sitzt. Wir wissen: mit welcherlei Maß wir messen, da­mit werden wir auch gemessen werden, das Gericht, das wir hal­ten, wird auch mit uns gehalten; das ist die Wahrheit, die mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Dieses Feuer brennt so heiß, daß es in ihm kein Mensch aushalten kann. Es ist das Feuer des Gerichtes, das im Bewußtsein der Menschen, in ihrem Gewissen, entfacht ist. Anders als bei Sokrates, anders, als es die Stoiker taten, anders, als es die tun, die im Gewissen die Stim­me der Natur zu vernehmen meinen, hat Jesus einen Feuerbrand in unsere Herzen geworfen, den niemand löschen kann. Wir ver­stehen nun, warum er sagt, er möchte, daß es schon hell brennte. O daß die schlaffen, trägen, toten Gewissen erwachten, daß die menschliche Gesellschaft ihre Sünde begriffe, daß sie nicht von einer Schuld zur anderen blind und töricht weitertriebe, daß nicht die Gespenster der Toten eines Krieges den nächsten provozieren, daß die Menschen, endlich, endlich einmal erwachten und begrif­fen, wer das Feuer angezündet hat, in dem ihnen so heiß und bange wird, und zu Gott selber ihre Zuflucht nehmen, zu dem lebendigen Gott, der in Jesus Christus handelt.

Aber Jesus sagt auch, warum es noch aufgehalten wird, warum der Weltenbrand noch nicht so hell und so verzehrend lodert, wie er ersehnt, denn er muß zuvor noch mit der Taufe getauft werden, die seine Vollendung bedeutet. Das Aufhaltende ist sein Opfer. Zwischen den Tagen, da er das Feuer auf die Erde ge­bracht hat, und jenem Tag, da in diesem Feuer die ganze Welt mit ihrer Sünde und ihrer Schuld verzehrt werden wird, steht seine Taufe, steht der große Akt der Gnade Gottes, daß er selbst seinen Sohn in die Bluttaufe des Kreuzes führte, damit jeder dort seinen Frieden und seine Gerechtigkeit fände, also das fände, was das Feuer nicht verzehren und was der Weltenbrand nicht ver­schlingen kann. Aber gleichwohl, damit wir nicht zu früh vom Frieden reden, der Frieden, den er bringt, ist ein anderer als der, in dem wir hier leben. Er bringt nicht den Frieden auf die Erde, sondern das Schwert, die Zertrennung, die Gespaltenheit. Es muß erst einmal Aufruhr sein, ehe Friede ist, weil der Friede, in dem wir miteinander leben, kein echter ist, weil Vatersein und Sohnsein, weil Mutter und Tochter, weil Bräutigam und Braut in dem, was sie bindet, nicht den Frieden haben, weil das kein Band ist, das hält, wenn das Weltenfeuer Gottes brennt. Darum muß jetzt schon offenbar werden, daß alle diese natürlichen Bindungen kein Halt sind, daß wir alle dann allein sind, daß der Sohn sich nicht klammern kann an seinen Vater und die Tochter nicht an ihre Mutter, wenn die letzte Frage laut wird und die Zeichen des Weltgerichtes Gottes sichtbar werden.

Denn diese Zeichen sind da, nur wir sehen sie nicht. Wir kön­nen das Wetter beurteilen, wenn Regen kommt, wir wissen, wenn die großen Perioden der Hitze einsetzen, wir kennen die Erde und wir kennen den Himmel; aber die Zeit kennen wir nicht. Die Zeit, die unsere Zeit ist, die letzte Zeit, den Tag, unseren Tag im Angesicht der Ewigkeit. Die Zeit ist das Geheimnis unseres Lebens, das Geheimnis der Geschichte. Wer von uns weiß denn, daß nur noch Zeit zwischen unserem Heute liegt und seinem Kommen. Nur noch Zeit. Abnehmende, schwindende Zeit. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag zieht herauf!

Es gibt nur eines, womit dieser Tag ausgefüllt werden kann, dieser Tag zwischen der Erscheinung Jesu Christi und seiner Wie­derkunft. Wer klug ist, der versöhnt sich rechtzeitig, ehe die Stunde des Gerichtes kommt. »Versöhne dich mit deinem Wider­sacher, solange du auf dem Wege bist.« Wer mag der Widersacher sein, der uns dem Richter übergibt, wer mag der Richter sein, der uns dem Gefängnis übergibt, wes mag das Gefängnis sein, das uns einschließt? Dieser Widersacher ist kein anderer als Gott. Wollen wir mit der Umkehr bis auf den Tag warten, da Gott Gericht hält? Was wollen wir tun, um uns selbst aus dem Schuldturm zu befreien, in den uns das Ende unserer eigenen Wege führt? Darum versöhne dich mit deinem Widersacher, versöhne dich mit Gott, solange es Zeit ist, solange noch die Taufe Jesu dazwi­schensteht, zwischen dem Anfang, da er das Feuer auf die Erde brachte, und dem anderen, da dich dieses Feuer verzehrt. Die Zeit, die Gott uns noch gelassen hat dank der Bluttaufe Jesu Christi, ist Gnadenzeit. Jesus Christus ist der Kommende; aber er ist ge­kommen, damit wir sein Kommen ertragen, damit wir uns freuen können auf den Tag, wenn er kommt, um uns zu erlösen.

Quelle: Hans Joachim Iwand, Die Gegenwart des Kommenden. Eine Auslegung von Lukas 12, BSt 50, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 21966.

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