Ethik als Leben im Geiste Jesu Christi
Von Albert Schweitzer
Lebendige Wahrheit wird das Christentum den aufeinanderfolgenden Geschlechtern werden, wenn in ihnen ständig Denker auftreten, die im Geiste Jesu den Glauben an ihn in den Gedanken der Weltanschauung ihrer Zeit zur Erkenntnis werden lassen. Wo das Christentum zu einem überlieferten Glauben wird, der den Anspruch erhebt, von den Einzelnen einfach übernommen zu werden, verliert es die Beziehung zu dem geistigen Leben der Zeit und die Fähigkeit, in neuer Weltanschauung neue Gestalt anzunehmen. Hört die Auseinandersetzung zwischen Überlieferung und Denken auf, so leidet die christliche Wahrheit und mit ihr die christliche Wahrhaftigkeit Not. Darum hat es eine so tiefe Bedeutung, daß Paulus es als etwas Selbstverständliches unternimmt, den Glauben an Jesum Christum in dem Materiale der eschatologischen Weltanschauung seiner Zeit in seinem ganzen Umfang und seiner ganzen Tiefe auszudenken. Die Worte „Den Geist dämpfet nicht“ und „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, die er in die Entstehungsurkunden des Christentums eingetragen hat, besagen, daß das denkende Christentum in dem glaubenden sein Recht haben soll und daß es dem Kleinglauben niemals gelingen darf, mit der Ehrfurcht vor der Wahrheit fertig zu werden.
Das Christentum ist also Christusmystik, das heißt gedanklich begriffene und im Erleben verwirklichte Zusammengehörigkeit mit Christo als unserem Herrn. Indem Paulus Jesum kurzweg als unseren Herrn bezeichnet, erhebt er ihn über alle zeitlich gegebenen Vorstellungen hinaus, in denen das Geheimnis seiner Persönlichkeit begriffen werden kann, und stellt ihn als das alles menschliche Definieren überragende geistige Wesen hin, an das wir uns hinzugeben haben, um in ihm die wahre Bestimmtheit unseres Daseins und unseres Wesens zu erleben.
Alle Versuche, dem Christentum den Charakter als Christusmystik zu nehmen, bedeuten eine ohnmächtige Auflehnung gegen den Geist der Erkenntnis und der Wahrheit, der in dem ersten und größten aller christlichen Denker zu Worte kommt.
Wie die Philosophie von tausend Abwegen zuletzt immer wieder zur elementaren Einsicht zurückkehren muß, daß alle wahrhaft tiefe und lebendige Weltanschauung mystischer Art ist, insofern als sie irgendwie in bewußter und wollender Hingabe an den geheimnisvollen unendlichen Willen zum Leben besteht, aus dem wir sind, so kann das christlich bestimmte Denken nicht anders, als diese Hingabe an Gott, wie Paulus es schon tut, als in der Gemeinschaft mit dem Wesen Jesu Christi zustande kommend zu begreifen.
Gottesmystik als unmittelbares Einswerden mit dem unendlichen Schöpferwillen Gottes ist unvollziehbar. Alle Versuche, lebendige Religion aus reiner monistischer Gottesmystik zu gewinnen, sind vergeblich, ob sie im Stoizismus, bei Spinoza, im indischen oder im chinesischen Denken unternommen werden. Sie erfassen die Richtung, aber sie finden den Weg nicht. Aus dem Einswerden mit der unendlichen Wesenhaftigkeit des Allwillens zum Sein ergibt sich keine andere als eine passive Bestimmtheit des menschlichen Daseins, ein Aufgehen in Gott als ein Untergehen im Ozean des Unendlichen. Reine Gottesmystik bleibt etwas Totes. Einen Inhalt bekommt das Einswerden des endlichen Willens mit dem unendlichen erst, wenn es als Stillewerden in ihm und zugleich als Ergriffensein von dem Liebeswillen erlebt wird, der in uns zum Bewußtsein seiner selbst kommt und in uns Tat werden will.
Auf den Pfad des Lebens gelangt die Mystik nur, wenn sie durch den Gegensatz des Liebeswillens Gottes zu seinem unendlichen, rätselhaften Schöpferwillen hindurchgeht und über ihn hinauskommt. Weil das menschliche Denken das Ewige nicht erkennen kann, wie es an sich ist, ist ihm gesetzt, beim Dualismus anzulangen und ihn überwinden zu müssen, um sich in dem Ewigen zurechtfinden zu können. Wohl muß es in alle Rätsel des Seins hineinschauen, die sich dem Denken auftun und es beunruhigen. Zuletzt aber darf es alles Unerkennbare dahingestellt sein lassen und den Weg gehen, Gottes als des Willens der Liebe gewiß werden zu wollen und in ihm Frieden und Betätigung zu finden.
Die messianisch-eschatologische Weltanschauung ist die in unbefangenem, kraftvollem Denken erfolgende Überwindung des Dualismus durch das sieghafte Auftreten des Glaubens an den Gott der Liebe in dem an den unendlich rätselhaften Schöpfergott. Darum muß alle religiöse Mystik irgendwie messianischen Glauben in sich aufnehmen, um den Odem des Lebens zu empfangen. So ist die messianisch-eschatologische Mystik Pauli ein Ausdruck der zur lebendigen Wahrheit durchgedrungenen religiösen Mystik als solcher. In Jesu Christo wird Gott als Wille der Liebe offenbar. In der Gemeinschaft mit Christo verwirklicht sich also die Gemeinschaft mit Gott, wie sie uns bestimmt ist.
Daß Paulus durch die eschatologische Weltanschauung gehemmt ist, Christusmystik mit Gottesmystik gleichzusetzen, hat eine tiefe Bedeutung. Für alles Erkennen bleibt Gottesmystik stets etwas Unvollendetes und Unvollendbares. Indem Paulus sich dabei bescheidet, in der Gemeinschaft mit Christo die Gotteskindschaft verwirklicht zu sehen, ohne diese Kindschaft als Sein in Gott begreiflich machen zu wollen, ist er wie ein Leuchtturm, der die christliche Mystik aus allen ihren Irrfahrten in die Wasser zurückleitet, in denen ihre Fahrt verlaufen soll. Auf die Fluten des Ewigen hin-ausscheinend, steht Pauli Mystik auf dem festen Grund der geschichtlichen Erscheinung Jesu Christi. –
Eine Wandlung hat sich in unserem Glauben an das Reich Gottes vollzogen. Wir schauen nicht mehr auf eine naturhafte Umgestaltung der Verhältnisse dieser Welt aus, sondern nehmen das Weiterbestehen des naturhaft gegebenen Übels und Leidens als etwas hin, das uns von Gott zu tragen bestimmt ist. Unser Hoffen auf das Reich stellen wir auf das Wesentliche und Geistige desselben ein und glauben an dasselbe als an das durch den Geist gewirkte Wunder der Unterwerfung der Menschheit unter den Willen Gottes. Diesen Glauben an das durch das Wunder des Geistes kommende Reich müssen wir mit derselben Glut im Herzen tragen wie das Urchristentum seine Hoffnung auf die Erhebung der Welt in den übernatürlichen Zustand. Das Christentum vermag nichts dawider, daß ihm von Gott gesetzt ist, seinen Glauben zu vergeistigen. Unsere Sorge aber muß sein, daß die Stärke unseres Glaubens durch die Wandlung desselben nicht betroffen wird. Es ist Zeit, daß unser Christentum sich davon Rechenschaft gibt, ob wir wirklich noch Glauben an das Reich Gottes haben oder ob wir ihn nur noch in überlieferten Sätzen mitführen. In einem tiefen Sinne gilt dem dogmatischen Sorgen unserer Tage das Wort Jesu: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch dies alles zufallen.“
Wo der christliche Glaube es aber unternimmt, die Bedeutung der Erscheinung Jesu und das Wesen der durch ihn gebrachten Erlösung in lebendigem Glauben an das Reich Gottes zu begreifen, trifft er auf Paulus als den Wegbereiter solchen Christentums. Nimmer aufhörendes Urchristentum redet aus seinen Worten heraus.
Groß ist die reformatorische Wirkung, die Paulus durch seine Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben gegen den Geist der Werkgerechtigkeit im Christentum entfaltet hat. Noch Größeres wird er ausrichten, wenn seine Mystik des Erlöstseins in das Reich Gottes durch die Gemeinschaft mit Christo in stillem Wirken unter uns die Macht zu entfalten beginnt, die in ihr liegt.
So sehr gegen alle falschen spiritualisierenden und symbolischen Erklärungen der mystischen Erlösungslehre Pauli betont werden muß, daß sie naturhaft gedacht ist, so sicher ist andererseits, daß dieses Naturhafte wie von selbst geistige und ethische Bedeutung annimmt.
Wie Radium seiner Natur nach in steter Emanation begriffen ist, so die paulinische Mystik in steter Umsetzung aus dem Naturhaften ins Geistige und Ethische. Wunderbar leuchten die geistige und die ethische Bedeutung in der naturhaften auf. Darin bekundet sich, daß das Naturhaft-Eschatologische nur das äußere Wesen dieser Mystik ausmacht, während ihr inneres durch die tiefe Verbundenheit der Vorstellung der Erlösung mit dem Glauben an das Reich Gottes bestimmt ist, die ihre Bedeutung behält, auch wenn der Begriff des Reiches Gottes sich aus dem Naturhaften ins Geistige wandelt. Darum sind Pauli Worte von dem in den Geschehnissen unseres Daseins und in unserem Denken und Wollen zu erlebenden Sterben und Auferstehen mit Christo in unserer Weltanschauung ebenso wahr als in der seinen.
Durch seine Lehre vom Geist schlägt er selber die Brücke von jener Weltanschauung zu der unsrigen. Während der Glaube seiner Zeitgenossen noch ganz durch die äußeren Phänomene des Geistbesitzes fasziniert ist, erfaßt er den Geist als das Sichtbarwerden aller Strahlungen des Überirdischen in dem Irdischen. Diese Strahlungen bewertet er nicht nach der Lichtstärke, die sie haben, sondern nach der Wirkung, die sie entfalten. So stellt er die unscheinbaren ethischen Erweisungen des Geistes am höchsten und erkennt die Liebe als die Gabe, in der das Ewige, wie es an sich ist, in dem Zeitlichen Wirklichkeit wird.
Pauli Lehre vom Geist besagt also, daß das Metaphysische der Erlösung als Teilhaben am ewigen Leben in der Zeit unseres Seins in der irdischen Welt als ein Geistig-Ethisches in Erscheinung tritt.
Der Geist Jesu, den wir als ethischen Geist in uns zur Wirkung kommen lassen, ist identisch mit dem Geiste, der uns das ewige Leben verleiht. Das Metaphysische und das Geistig-Ethische sind bei Paulus also in der Art identisch, daß das Geistig-Ethische das Metaphysische in sich trägt.
Diese in der eschatologischen Weltanschauung entstandene Auffassung der Einheit des Ewigen und des Ethischen trägt unvergängliche Wahrheit in sich. Unser Denken findet sich in ihr wieder, als wäre sie aus ihm geboren.
Das Einzigartige der paulinischen Erlösungslehre ist, daß sie in tiefem Denken und zugleich in unmittelbarem Erleben entstanden ist. Dieses Tiefe ist ein Elementares, weil es den Drang zum Erlebtwerden in sich trägt.
Das Erlebnis, das Paulus uns als die Pforte des Eingangs zum Ewigen auftut, ist das Sterben und Auferstehen mit Christo. Was liegt alles in der Tatsache, daß er das Zustandekommen des neuen Lebens nicht als Wiedergeburt bezeichnet! Er geht an diesem in der Sprache, die er redet und schreibt, geprägt vorliegenden Ausdruck vorüber, weil er in der eschatologischen Lehre von der Erlösung unmöglich ist. Gehören die Erwählten dem Reiche Christi in der Seinsweise der Auferstehung an, so kann ihre Erlösung als ein schon im natürlichen Dasein vorweggenommenes Teilhaben an demselben nur darin bestehen, daß sie in der Gemeinschaft mit Christo ein verborgenes Sterben und Auferstehen durchmachen, durch das sie neue, der Welt und ihrem eigenen natürlichen Wesen bereits enthobene und in die Seinsweise des Reiches Gottes versetzte Menschen werden. Diese im Vorstellungsmaterial der eschatologischen Weltanschauung naturhaft-sachlich gedachte Auffassung der Erlösung trägt zugleich eine ungeheure geistige Sachlichkeit in sich. Während der Gedanke der Wiedergeburt ein Gleichnis bleibt, das aus einer anderen Welt an den urchristlichen Glauben herangetragen wird, ist die Vorstellung des Sterbens und Auferstehens mit Christo aus ihm geboren und wird für jeden Menschen, der bei Christo neues Leben sucht, zu einer sich stets erneuernden urchristlichen Wahrheit. –
Scharenweise treten aus Pauli Briefen Worte heraus, die uns das Geleite durchs Leben anbieten, vertraute Worte, weil wir sie kennen, immer neue Worte, weil sie sich denjenigen, die sich ihnen anvertrauen, in immer neuer Bedeutung offenbaren. Der Gedanke des Sterbens und Auferstehens mit Christo bringt uns in eine immer weitere Kreise ziehende innerliche Auseinandersetzung mit unserem Dasein. Von ihm empfangen wir eine Deutung der Geschehnisse, die uns begegnen. Er läßt uns nicht in den Ereignissen dahingehen, sondern hält uns an, in ihnen den uns bestimmten Weg aus dem natürlichen Sein zum Sein im Geiste zu suchen. Wollen wir ruhig dahinleben, so fällt er uns mit der Frage an, ob sich in unseren Gedanken das Ergriffensein durch Christum auslebt, oder ob dieses uns als ein fernes Wort am Horizonte des Lebens steht.
Wer in die Gewalt des Gedankens vom Sterben und Auferstehen mit Christo geraten ist, kommt in ein immer tieferes Erleben der Sünde hinein und erlangt in dem Ringen um das Absterben von der Sünde eine stille Gewißheit der Sündenvergebung. Solches verheißt Paulus denen, die, wie er, das Erlöstsein durch Christum in sachlicher Weise in ihrem Leben zur Tat werden lassen wollen.
Wie ergreifend wahr ist seine Lehre, daß wir Christi Geist nicht als natürliche Menschen, sondern nur insoweit besitzen können, als etwas von dem Sterben mit Christo in uns Wirklichkeit geworden ist!
Diejenigen, die durch Christum aus dieser Welt erlöst sind, läßt Paulus nicht aus ihr heraustreten, sondern stellt sie in sie hinein, daß sie in ihr die Kräfte ihres Seins im Reiche Gottes bewähren. Seine ungeheure Sachlichkeit bewahrt Paulus vor aller Überspanntheit. Weil der Gedanke des Sterbens und Auferstehens mit Christo in dem Glauben an das Reich Gottes wurzelt, drängt die in ihm enthaltene Weltverneinung nicht zur Askese und zur Absonderung von der Welt. So bleibt diese religiöse und dazu noch in der Weltanschauung der Weltenderwartung entstandene Ethik bei aller Glut, die in ihr lodert, gesund und natürlich. Aus tiefer Notwendigkeit und in wunderbarer Selbstverständlichkeit läßt sie das Erlebnis des Erlöstseins in der Gemeinschaft mit Christo als Erweisung des Geistes des Seins im Reiche Gottes Tat werden.
Als moderne Menschen sind wir in Gefahr, mit unserem Glauben an das Reich Gottes in Reich-Gottes-Propaganda und äußerlicher Reich-Gottes-Arbeit steckenzubleiben. Die neuzeitliche Reich-Gottes-Frömmigkeit ruft die Menschen zu Reich-Gottes-Arbeit auf, als könnte jemand etwas für das Reich Gottes tun, der nicht Reich Gottes in sich trägt. So sind wir in der besten Absicht stets in Gefahr, veräußerlichtem Reich-Gottes-Glauben ergeben zu sein.
Pauli Reich-Gottes-Glaube zieht die Möglichkeit einer Entwicklung dieser natürlichen Welt zum Reiche Gottes nicht in Betracht. Aber, obwohl er diese Welt aufgibt, mutet er dem Erlösten dennoch zu, den Geist des Reiches Gottes, der in ihm ist, in ihr zu betätigen. Rein aus innerer Notwendigkeit, nicht mit Absicht auf Erfolg entsteht so Wirken, das durch das Reich Gottes bestimmt ist. Wie ein Stern aus dem Zwange des Glanzes, der in ihm ist, über einer dunkeln Welt leuchtet, auch wenn keine Aussicht ist, daß er einen Morgen kündet, der über ihr aufgehen wird, also sollen die Erlösten das Licht des Reiches Gottes in der Welt erstrahlen lassen.
Um diese Betätigung des Reiches Gottes aus innerer Notwendigkeit muß sich alle auf zweckmäßige Verwirklichung derselben gehende Arbeit als um ihren Kern anlegen. Immer haben wir des unerbittlichen Gesetzes eingedenk zu bleiben, daß wir nur so viel Reich Gottes in die Welt bringen können, als wir in uns tragen.
Diese Verinnerlichung erlebt unsere Reich-Gottes-Frömmigkeit in der des Paulus. In ihr gestählt, wird sie unabhängig davon, daß ihr der Geist der Zeit entgegenkommt und daß sie Erfolg sieht. Wohl können wir als solche, die aus der eschatologischen Weltanschauung herausgetreten sind, nicht anders, als die Umgestaltung der Verhältnisse der Menschheit im Sinne des Reiches Gottes wollen und an ihr arbeiten. Der Geist Gottes, der aus der Nichterfüllung der eschatologischen Erwartung des Reiches Gottes zu uns redet, gebietet es uns. Urchristlich aber muß unser Glaube an das Reich Gottes darin bleiben, daß wir seine Verwirklichung nicht von zweckmäßigen und organisatorischen Maßnahmen, sondern von einem Mächtigwerden des Geistes Gottes erwarten. So wissen wir auch, daß die aus innerer Notwendigkeit geschehende Erweisung des Geistes des Reiches Gottes, dessen wir im Sterben und Auferstehen mit Christo teilhaftig werden, die Reich-Gottes-Arbeit ist, ohne die alle andere umsonst bleibt. –
Mystik ist nicht etwas, das fremd an das Evangelium Jesu herangetragen wird. Dieses selber ist ja nicht einfache Verkündigung des Reiches Gottes, sondern verheißt in geheimnisvollen Worten die Erlangung des Reiches Gottes und die damit gegebene Erlösung denen, die mit Jesus als dem zukünftigen Herrn des Reiches in Gemeinschaft sind. So hat die mystische Erlösungslehre Pauli ihre Wurzeln in dem Evangelium Jesu. In Pauli Lehre von der Notwendigkeit des Sterbens und Auferstehens mit Christo leben die Worte weiter, in denen Jesus die Seinen beschwört, mit ihm zu lei-
den und zu sterben, um ihr Leben zu gewinnen, indem sie es mit ihm verlieren. Was tut Paulus anderes, als solchen Worten Jesu die Bedeutung zu geben, die sie für alle, die ihm jemals angehören wollen, in sich tragen!
In derselben Weise lebt in Pauli Ethik die des Evangeliums Jesu weiter. Jesu Ethik des Bereitseins auf das überirdische Reich Gottes wird bei Paulus zur Ethik des Erlöstseins in die Seinsweise des Reiches Gottes, das in der Gemeinschaft mit Jesus erlebt wird. Durch den Gedanken der bereits Wirklichkeit gewordenen Erlösung durch Christum wandelt sich bei ihm die Ethik der Erwartung des Reiches Gottes in die der Bewährung derselben. Sie tritt aus der Abhängigkeit von der eschatologischen Erwartung heraus und verbindet sich mit der Gewißheit, daß mit Christo die Verwirklichung des Reiches begonnen hat.
Dabei behält sie die ganze Unmittelbarkeit und Wucht der Ethik der Bergpredigt. In seinem vollen Glanze erstrahlt Jesu großes Gebot der Liebe in Pauli Hymnus von der Liebe, die größer ist als Glaube und Hoffnung, und in Geboten, die er für das alltägliche Leben ausgibt.
In den Herzen, in denen Pauli Mystik der Gemeinschaft mit Christo lebendig wird, ist nimmer ersterbende Sehnsucht nach dem Reiche Gottes und zugleich Trost, daß wir seine Vollendung nicht schauen. Drei Dinge machen die Gewalt des Denkens Pauli aus. Es eignen ihm eine Tiefe und eine Sachlichkeit, die uns in ihren Bann zwingen. Das Feuer des urchristlichen Glaubens schlägt aus ihm in den unsrigen hinein. Ein Erleben mit Christo als dem Herrn des Reiches Gottes spricht aus ihm, das uns in die Bahn gleichen Erlebens reißt. Paulus führt uns auf den sachlichen Weg der Erlösung. Er liefert uns Christo aus…
Auszüge aus Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1930.
Quelle: Albert Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, hrsg. v. Hans Walter Bähr, München: C.H. Beck, 51988. S. 82-91.