Karl Jaspers, Das Gewissen vor der Bedrohung durch die Atombombe (1950): „Die Atombombe wird erst dann unmöglich, wenn Gewalt unter dem Recht steht. Dies setzt die übergeordnete Menschheitsinstanz voraus, deren Entscheidung getragen wird von den Rechtsformen, die die Souveränität jeder Staatlichkeit gebeugt haben unter eine Weltordnung der freien Menschheit in der Gegenseitigkeit des Mit­einanderredens und gesetzlich geordneten Ringens um die ständige Besserung der immer auch noch ungerechten Zustände.“

Das Gewissen vor der Bedrohung durch die Atombombe (1950)

Von Karl Jaspers

Es herrscht Einmütigkeit in der Verurteilung der Atombombe ihrer ungeheuren Zerstörungskraft wegen. Zwar ist bei jedem grundsätz­lich neuen Schritt in der Entwicklung der Zerstörungswaffen schon die Empörung dagewesen. Angesichts der Kanonen soll Luther ge­sagt haben: Hätte Gott die Erfindung des großen Geschützes durch die Menschen bedacht, so hätte er die Schöpfung der Welt unterlas­sen. Die U-Boote wurden bei ihrem ersten Auftreten mit gleichem Entsetzen und gleichem moralischen Zorn empfangen. Nach einiger Zeit wurden sie, wie alle früheren Waffen, selbstverständlich. An­gesichts der Atombombe aber scheint der Wissende heute ein Ver­hängnis zu spüren, das einen grundsätzlich neuen Schritt in Sinn und Folgen des Krieges bringt.

Tatsache ist, daß die Atombombe von denen, die ihr Geheimnis kennen, hergestellt wird. Es ist kaum zu zweifeln, daß von Men­schen, die die Befehlsgewalt im entscheidenden Augenblick in die Hand bekommen können, ihre Anwendung geplant wird.

Was tun? Empörung hilft nicht. Verwerfung der Atombombe durch bloßes Verbot ohne eine gegenseitige Kontrolle ist wirkungs­los. Die zugestandene Kontrolle aber würde viel mehr bedeuten als bloß die Ausschaltung der Bombe. Sie wurde eine Einigung aller Beteiligten bringen zu einem Miteinanderreden und Miteinander­verhandeln. Es würde eine gegenseitige Offenheit und Aufrichtigkeit entstehen, die schon der Beginn eines dauernden Friedens sein könnte. Diese eingreifende Gegenseitigkeit wird bis heute verweigert.

Ein Verbot von Forschungen und Erfindungen, die zu immer schrecklicheren Zerstörungsmitteln führen können, wäre vergeblich. Es ist vielmehr umgekehrt zu erwarten, daß die Öffentlichkeit der freien Forschung eingeschränkt wird durch die Geheimhaltungs­interessen von Staaten. Wie weit solche Einschränkungen gehen wer­den, ist unabsehbar Es ist möglich, daß dies schließlich zu einer Hemmung, wenn nicht zu einer Lähmung von großen naturwissen­schaftlichen Entdeckungen wird.

Bis dahin aber ist es vielleicht die Möglichkeit der freien Welt, daß vermöge des in ihr lebendigen Geistes freier Forschung immer wieder ein Vorsprung in den Kriegswaffen erreicht wird, dem eine unfreie Welt, die das Erfundene sich aneignet, jedoch nicht schafft, nachhinkt. Der Gefahr, daß die ungeheuren Menschenmassen der Welt, im Besitz der Waffen, die nicht sie, sondern die Abendländer erfunden haben, diese kleine abendländische Menschenwelt am Ende vernichten, wurde bisher durch diese Chance begegnet. Aber diese freie Forschung steht zugleich unter der Frage der Schuld für das Unheil, das aus ihr entsprungen ist und entspringen wird. Die Waf­fen der europäischen Technik zeigen von Anbeginn diese Zweideu­tigkeit: Sie verwirklichen das neue Schreckliche, um dadurch das alte Schreckliche in den fremden Händen, die es gleich bedenkenlos an­gewendet haben, für den Augenblick zu lähmen, um Frieden durch eigene Übermacht zu haben. Dieser Vorgang aber ist nur durch stän­dige Steigerung der Zerstörungswaffen zu erhalten. Denn jede Erfin­dung wird trotz Geheimhaltung nach einiger Zeit Allgemeinbesitz. Hier ist kein Weg außer der Steigerung bis zur Zerpulverung des Erdballs in Weltstaub.

Eine Chance aber ist auch die Gefahr selbst. Es ist eine denkwür­dige Tatsache, daß im letzten Weltkrieg die Giftgase nicht zur An­wendung gekommen sind. Man hörte, daß sie in Deutschland in gro­ßen Mengen fabriziert wurden. Die Nichtanwendung hat ihren Grund gewiß nicht in einer Humanität Hitlers, sondern in der Ge­fahr, die aus der Anwendung der Giftgase für die eigene Macht drohte. Wenn Waffen den Charakter gewinnen, beide Gegner gleicherweise ganz und gar zu ruinieren, entsteht offenbar eine Hem­mung auch für die Skrupellosesten. Das bedeutet eine Chance. Aber es ist leider keine Gewißheit, daß es wie dieses eine Mal mit den Giftgasen so auch in der Zukunft mit den Atombomben gehen werde, wenn sie in den Händen beider Parteien sind. Vielmehr ist auf die Dauer vielleicht das Andere wahrscheinlich: die bösesten Möglich­keiten finden irgendwann einmal den Menschen, der die Macht und den Willen hat, sie zu verwirklichen, und sei es in einem wilden Selbstmorddrang, in den er die Welt mit hineinziehen will.

Solche Erwägungen bewegen sich innerhalb der greifbaren Reali­täten dieser Menschenwelt, in der wir leben. Man kann die Frage der Atombombe nicht isolieren. Im äußersten Augenblick, wo es um Sein oder Nichtsein im Kampf uneingeschränkter Gewalt geht, wo es sich um Freiheit oder Knechtschaft handelt, alle Gewalt zuzulas­sen, aber auf die Atombombe oder etwa noch zu erfindende noch schlimmere Waffen zu verzichten, dazu wird keine Humanität dann mehr raten, wenn die Humanität schon längst verlassen ist.

Die Atombombe wird erst dann unmöglich, wenn Gewalt unter dem Recht steht. Dies setzt die übergeordnete Menschheitsinstanz voraus, deren Entscheidung getragen wird von den Rechtsformen, die die Souveränität jeder Staatlichkeit gebeugt haben unter eine Weltordnung der freien Menschheit in der Gegenseitigkeit des Mit­einanderredens und gesetzlich geordneten Ringens um die ständige Besserung der immer auch noch ungerechten Zustände. Was bisher geschichtlich nur in kleinen Volksgruppen wirklich war und damit als möglich erwiesen ist, die politische Freiheit mit ständiger Ver­wandlung des Zustands durch rechtliche Verfahren zu besserem Recht, das müßte für die Menschheit im ganzen gelingen in noch nicht vorauszusehenden Formen, um mit anderen Schrecken auch die Atombombe unwirksam zu machen.

Das heißt: nur mit der Veränderung der menschlichen Welt, die eins ist mit der Verwandlung des Menschen, ist eine Ausschaltung der Atombombe möglich. Wer den rechten Maßstab erblickt hat, wird sich nicht mehr täuschen durch Abblendung seines Bewußtseins vor den gegenwärtigen Schändlichkeiten und durch Isolierung des Blicks auf ein einzelnes ungeheures Entsetzen wie die Atombombe. Eine Welt, in der es Zwangsarbeit in Konzentrationslagern, Depor­tationen ganzer Bevölkerungen, Lüge in jeder Gestalt, planmäßiges Ausrotten ganzer Menschengruppen gibt, kann nicht dies alles dul­den und zugleich die Atombombe ausschließen. Wir lassen uns allzu leicht verführen durch das Quantitative. Eine Niedertracht, durch die ein einzelner zu Tode gequält wird, ist qualitativ das gleiche, als wenn es Millionen geschieht. Solange wir die quantitativ scheinbar geringere Niedertracht vergessen oder als geringfügig behandeln, werden wir dem quantitativ Ungeheuren im Grunde widerstandslos verfallen.

Mit diesen Gesichtspunkten ist ein grundsätzlich anderer Hori­zont eröffnet als mit der bloßen Betrachtung der Realitäten. Der Verstand muß im Blick auf diese Realitäten das Schlimmste für das Wahrscheinlichere halten, aber er selbst schon erkennt es keineswegs als unausweichlich gewiß. Weil es nicht gewiß ist, ist jener andere Horizont offen, in dem der Mensch um das Menschsein selber ringt. Dort ist jeder Mensch aufgerufen, zu tun, was er kann, um das Furchtbare zu verhindern. Wo aber ist der Ansatz möglich?

Der Ansatz unseres Tuns liegt entweder in einem Machen, Planen unter Leitung unseres bis dahin erworbenen Wissens, oder er liegt in jenem inneren Handeln, in dem wir wir selbst werden, frei sind und diese Freiheit beweisen durch unser Tun, nicht durch ein Wissen davon. Was wir mit diesem inneren Handeln als Vernunftwesen wer­den, das dringt erst die Führung für jenes Machen und Planen.

Aber sprechen wir damit nicht von imaginären Dingen? Das Ge­schehen ist in der Natur für unser Erkennen an Notwendigkeiten gebunden, die, ohne von sich zu wissen, sich durchsetzen. Soweit wir menschliches Tun und Geschehen erkennen, gegenständlich erken­nen, unterliegt es ebenfalls solchen Notwendigkeiten. Wir erinner­ten an sie.

Doch das ist nicht alles. Zwar alles, was wir in der Welt außer uns erkennen, sehen wir nur unter solchen Notwendigkeiten. Wir selbst aber sind nicht nur Gegenstand der Erkenntnis für uns. Dieses „für uns“ sind wir selbst. Wir sind unserer Freiheit gewiß, ohne Freiheit zu begreifen. Irgendetwas Entscheidendes liegt an dem, wozu wir uns entschließen.

Daher beruht unsere Hoffnung, wenn alles getan und geplant wurde, was zu planen möglich ist, zuletzt allein in einem Vertrauen zum Menschen als von Gott geschaffenem Wesen, daß er nämlich in aller Verlorenheit immer noch die Möglichkeit der Umkehr hat, einer Wiedergeburt zum guten Willen. Diese aber erfolgt in der Freiheit jedes Einzelnen. Alle vorhergehenden Gesichtspunkte zeigen dem­gegenüber nur Realitäten, Vordergründe, ja Äußerlichkeiten.

Von der nicht objektivierbaren Freiheit sprechen wir, wenn auch unvermeidlich schief, in gleichnisweisen Objektivierungen. Verglei­chen wir etwa den Vorgang der Erfindung der Atombombe, ihrer Bemächtigung durch das Militär, ihre Einstellung in politische Er­wägun­gen mit dem Symptom einer Krankheit, so wäre die Krank­heit die Verwahrlosung des menschlichen Ethos durch den Macht­willen, der uneingeschränkte Gewalt zuläßt und begehrt. Eine Welt, in der die Treulosigkeiten wachsen, die Ehescheidungen sich ständig vermehren, ein in Augenblickssensationen sich zerstreuendes Leben den Vorrang hat vor dem sich konzentrierenden Leben in geschicht­licher Kontinuität, vieles Niederträchtige heimlich für selbstver­ständlich erachtet wird, die sogenannte realistische Betrachtung für den Gipfel illusionsloser Vernunft gilt, da sind solche Schrecken wie die Atombombe nur eine Konsequenz und damit ein bloßes Sym­ptom. Man kann aber nicht ein Symptom heilen, ohne die Krankheit selbst zu heilen. Diese Heilung aber ist der sittliche Prozeß durch die Freiheit des Menschen selbst. Jeder Einzelne steht vor der Wahl, welchen Weg er gehen und für welchen er wirken will. Man darf sagen, obgleich es wunderlich klingt: Wer sein persönliches Dasein nick’- in ständig wiederholtem Entschluß rein, treu, verläßlich wer­den läßt, verschlimmert die Krankheit und fördert die Zerstörung durch Atombomben, die nur ein Symptom jener Krankheit ist.

Wir müssen den Horizont weit genug nehmen, um die Bedeutung der Atombombe zu erfassen. Die Weltgeschichte, die nach einer Vor­stufe von drei bis sechs Jahrtausenden jetzt gerade beginnt, stellt uns vor Chancen und Bedrohungen unerhörten Ausmaßes. Wie sol­len wir noch leben vor solchen Möglichkeiten?

Jedenfalls so, daß wir uns nicht einbilden, zu wissen, was wir nicht wissen können. Wir haben kein Totalwissen von der Geschichte, vom Menschen, von der Welt. Wir stehen darin, orientieren uns und leben, wenn es uns geschenkt wird, aus der Unbedingtheit des sitt­lichen, transzendent gegründeten Entschlusses.

Wenn wir aber die Geschichte, ihren Gang und ihr Ziel nicht kennen, so haben wir doch vor uns den unendlichen Raum der Möglichkeiten.

Wenn das Schlimmste geschah, kamen wohl Propheten, die die Menschen beschworen, Menschen zu werden in Führung durch die Gottheit. Damit alle mitgehen, damit sie auch nur auf die Wege der einfachen Sittlichkeit der zehn Gebote gelangen, bedarf es vielleicht eines ungeheuren Druckes. Kierkegaard meinte, Weltkriege, Seuchen und Hungersnöte würden uns verlorene Menschen dieser Zeit noch nicht zu uns zurückbringen, erst wenn die ewigen Höllenstrafen wieder vor Augen ständen, könne die innere Revolution des Men­schen geschehen.

Wer aber die Erfahrung von Realitäten ausspielt gegen die Mög­lichkeit menschlicher Wiedergeburt im Ethos, der denkt und lebt gegen den nicht oft genug zu zitierenden Satz Kants: es sei pöbel­haft, sich auf Erfahrung zu berufen dort, wo der Gegenstand der Erfahrung erst durch unsere Freiheit wirklich werden soll.

Sind wir uns dessen bewußt, dann werden wir uns nicht mehr täuschen durch Berufung auf Kultur. Der Mensch, der der Kultur dient, muß wissen, daß Kultur als geistige Welt nicht autonom aus sich allein besteht, sondern wahrhaft, erfüllt und beglückend nur dann ist, wenn sie getragen wird durch Bezug auf die Gottheit, von dem Ernst des persönlichen Ethos in der Liebe zum Menschen. Wir können der Kultur nicht dienen, ohne in diesem Boden unsere Wur­zeln zu haben.

Noch einmal: was tun? Durch staatliche Maßnahmen oder durch kulturelle Beschwörungen ist gegen die Atombombe nichts auszu­richten. Wir scheinen als Einzelne ohnmächtig vor der Bedrohung zu stehen und müssen uns auf sie einrichten, wenn wir es vermögen, durch ein Leben, das noch Sinn behält angesichts solcher Vernichtung. Aber wir sind nicht nur ohnmächtig, weil jeder Einzelne durch eige­nes Tun und Leben und Denken auf den Weg gehen kann zu jener Welt, in der die Atombombe unmöglich wird.

Wenn der Einzelne es redlich versucht, hat er zwar keine Garan­tie, daß es hilft in dem greifbaren Sinn der sichtbaren Verhinderung des Unheils. Aber indem er sich gebunden sieht in das Geheimnis der Menschheitsgeschichte, weiß er, was er darin will und kann. Und er darf hoffen, daß unbekannte helfende Kräfte wach werden. Wenn aber nicht, wenn die Menschheit sich doch selber zerstört und nichts bleibt von dem, was uns lieb ist und das Leben lebenswert macht, dann beugen wir uns wie Hiob im Nichtwissen. Aber so lange er lebt, bleibt dem Menschen, der sich vernünftig bewußt wird, offen, trotz­dem und unerschüttert dorthin zu leben, wohin die verborgene Gott­heit ihm den Weg zu zeigen scheint.

Quelle: Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München: Piper, S. 314-320.

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