Wo bin ich? Eine chassidische Geschichte
Ein Mann suchte in seiner Verzweiflung den berühmten Rabbi Héno’h von Alexander auf. Hilf mir, Rabbi, sagte er. Ich bin vergesslich. Ich mache etwas, ich sage etwas. Im nächsten Augenblick weiß ich schon nicht mehr, was ich gesagt oder getan habe. Stell dir vor, Rabbi, morgens weiß ich nicht mehr, wo ich am Abend meine Kleider abgelegt habe. — Ist das alles? antwortete der chassidische Meister. Nichts leichter als das: Du musst dir nur alles aufschreiben. Der Jünger befolgte den Rat des Rabbis. Am Abend schrieb er sich vor dem Zubettgehen auf: Die Jacke hängt im Schrank, Hemd und Hose liegen auf einem Stuhl, Schuhe samt Strümpfen stehen unterm Bett, — und ich bin im Bett. Am nächsten Morgen nahm er seine Liste zur Hand und hakte einen Punkt nach dem anderen ab. Die Jacke? Im Schrank. Das Hemd? Auf dem Stuhl. Die Schuhe? Unter dem Bett. Sehr gut. Aber dann las er den letzten Punkt auf der Liste: Und ich bin im Bett. In seiner Verwirrung starrte er auf das leere Bett und rief entsetzt: Aber wo bin ich? Weinend lief er zu seinem Meister: Rabbi, wo bin ich? Sagte der Meister: Diese Frage hättest du gleich zu Anfang stellen müssen, nicht erst am Schluss.
Quelle: Elie Wiesel, Ethics and Memory – Ethik und Erinnerung, Berlin-New York 1997, S. 29.