Dass der Vater des Philosophen Robert Spaemann, Heinrich Spaemann (1903-2001), katholischer Priester gewesen ist, mag verwundern, erschließt sich jedoch aus dessen Lebensgeschichte.
Von Heinrich Spaemann
1. Das Wort „heilig“ geht hebräisch auf die Sprachwurzel „scheiden“ zurück. Sein Gegenbegriff ist das Profane, dem gewöhnlichen Verhalten Zugängliche und Entsprechende. Mit „heilig“ ist etymologisch verwandt „rein“, ähnlich wie im Griechischen „hagios“ mit „agnos“. In der Tora ist „heilig“ ein kultischer, „rein“ ein ritueller Grundbegriff. – Das „Heilige“ ist eine ausstrahlende Wirklichkeit, „rein“ eine Voraussetzung für Teilhabe an ihr.
Alles, was zum Kult in Beziehung steht, wird in der Geschichte Israels nach und nach in den Begriff „heilig“ einbezogen: bestimmte Stände, Menschen, Dinge, Zeiten, Räume, Jerusalem, der Tempelbezirk und natürlich der Tempel selbst mit seinem Zubehör; von daher geht der Begriff Heiligkeit auch in den des „Heiligtums“ über.
Die Verpflichtung auf Unterscheidung von Heiligem und Profanem im Judentum kann ein Beispiel illustrieren: Wer die Torarolle berührt, muß sich danach die Hände waschen und diese so in den Zustand der Profanität zurückversetzen, um danach wieder gewöhnliche Dinge anfassen zu dürfen. – Umgekehrt gilt auch die Heiligungsvorschrift durch die Reinigung vor einer Berührung dieses Heiligtums. Entsprechende Bestimmungen gab und gibt es noch im Bereich der römischen Meßliturgie: Handwaschung des Priesters nach der Gabenbereitung, Ablution (Fingerwaschung) nach der Austeilung der konsekrierten Gaben.
Nichtbeachtung der Unterscheidung von heilig und profan gilt als Sakrileg und zieht das Gericht auf sich, das im biblischen Judentum unter Umständen auf der Stelle vollzogen wurde. Daß Stephanus das Jesajawort „Gott wohnt nicht im Tempel“ im Zusammenhang mit seinem Zeugnis für Christus zitierte, zog seine Steinigung nach sich (Apg 7,47 ff). Usa, ein Bauer, der die Bundeslade bei ihrer geplanten Überführung in die Davidsstadt berührt, um ihren durch ein Straucheln des Ochsengespanns drohenden Sturz vom Wagen zu verhindern, stirbt auf der Stelle wie an einem Starkstrom (2 Sam 6,6f). Es gibt ein Analogon zu diesem Bericht im Johannesevangelium: Die Häscher, die in der Getsemaninacht Jesus gefangennehmen wollen und noch unsicher sind, ob er es ist, stürzen bei seinem „Ich bin (es)“ rücklings zu Boden (Joh 18,6).
Heilig ist in der Bibel schließlich das Gottesprädikat schlechthin, es bildet den Gottesnamen. Gott ist „der Heilige Israels“ (Jes 12,6). Diese Bezeichnung schließt für das biblische Verständnis seine Anbetung heischende Herrlichkeit wie seine allen Geschöpfen Gehorsam gebietende Machtfülle ein; aber auch seine Unsagbarkeit: Das Wort heilig ist nicht weiter definierbar. Eine Oration der römischen Liturgie lautet entsprechend: „Herr, und Gott, du wahres Licht, gib, daß wir in der Tiefe unseres Herzens gläubig erfassen, was heilig ist …“
2. Alles Erste, sofern es nicht lediglich aus menschlicher Planung oder Willkür kommt, ist bedeutungsvoll in der Lebensgeschichte des einzelnen wie der Gemeinschaften und der Völker, vor allem aber in der Heilsgeschichte. Der Begriff „heilig“ begegnet in der Bibel zum erstenmal in Verbindung mit dem siebten Schöpfungstag: ihn segnet und „heiligt“ Gott, denn „an ihm ruhte er von allem Werk, das er schuf“ (Gen 2,3). Die Heiligkeit des siebten Tages leitet sich von der „Ruhe Gottes“ her. Diese gehört in der Genesis zum Ganzen der Schöpfung, sie macht den Paradiesesfrieden in ihr aus, wie ihn der Mensch im Urstand erfährt – als das noch heile Ebenbild Gottes und Spiegel seines Wesens. Geht doch Gott selber im „Garten“ des Menschen „beim Windhauch des Tages einher“.
Gottes Anfänge reichen bis zur Vollendung. Die Heiligung des siebten Tages durch die sich mitteilende Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung, wie sie der Mensch gleichsam auf einer Ebene mit ihm erfährt, deutet prophetisch bereits auf die Einbeziehung des Alis in den ewigen Gottesfrieden als das Ziel der Zeiten hin. Der siebte Tag kennt anders als die voraufgehenden sechs keinen Abend. Für den Menschen beendet ihn freilich der Sündenfall, seine Abkehr vom vertrauenden Einvernehmen mit Gott. Der nun unheilig Gewordene erlebt sein Absinken in die Profanität als „Nacktheit“, als Beziehungslosigkeit seiner leibhaftigen Existenz zum heiligen Gott und darin zugleich die Vorankündigung seines Sterbenmüssens.
Jetzt beginnt sein Danach, Verlust des Paradieses, Existenz unter anderen Vorzeichen, auf den Tod mit seinen Vorboten Mühsal und Leid zu, jedoch am Ende nicht endgültiger Tod, sondern durch Gottes Erbarmen gewährte Zeit der Bekehrungschance für den einzelnen wie für die Familie Mensch. Gott gibt den Sünder nicht auf, er gibt ihm die Verheißung eines Retters, durch den er dennoch wieder eingehen wird in „Gottes Ruhe“.
Damit aber die Erinnerung an sie (und so auch die Sehnsucht nach ihr) in ihm bleibe, ergeht im dritten Gebot an ihn die Weisung: „Gedenke des Sabbats, daß du ihn heiligst; denn am siebten Tag ruhte der Herr, der Himmel und Erde erschuf, von dem Werk, das er machte, darum segnete er den Sabbat und heiligte ihn.“ Dieses Gebot ist das einzige im Dekalog, in dem das Wort „heilig“ vorkommt. Und dieses Wort wiederum kommt im ganzen Buch Genesis ein einziges Mal vor, als sein offenbar kostbarstes, wie dann viele Zeiten später als einziges und als erste Bitte im Gebet des Vaterunsers. Erinnernder Nachvollzug der Heiligung des siebten Schöpfungstages wird geboten, gedenkendes Eingehen auf Gottes der Schöpfung sich mitteilende Ruhe, unter Verzicht auf alle nur profan motivierte, nur profanen Zielen dienende Arbeit. Wer dieses Gebot mit Herz und Geist befolgt, wer auf Gottes Ruhe „am Anfang“ eingeht, der geht in sie ein.
Im gottgewollten Gedenken eines gott- verdankten Geschehens wird das Erinnerte sich schenkende Gegenwart. „Eingehen in das Land meiner Ruhe“ – mit dieser Wendung kennzeichnet der 95. Psalm Gottes Verheißung für die Seinen. Nicht darin eingehen wird, so wird zuvor gesagt, wessen Herz in Verhärtung die Wege Gottes nicht kennt.
3. Unfaßbarer göttlicher Ratschluß: erstlich aufgrund seines Sabbatverhaltens (s. Mk 3,6) mußte der Messias Jesus sterben und so „in seine Herrlichkeit“, in die „Ruhe Gottes“ eingehen, um als Erstgeborener von den Toten uns Menschenkinder in sie hinein mitzunehmen.
Die Sorge um die Sabbatheiligung führte die maßgebenden Gesetzeslehrer und -Wächter in Israel mehr und mehr zu einer Fixierung auf buchstäbliche Befolgung von zahlreichen kasuistischen Vorschriften, die die Einhaltung des dritten Gebotes sichern sollten. Diese wurden dann für sie allmählich die verpflichtenden Kriterien für die Unterscheidung des Heiligen. Verdinglichung von Gottesverehrung dehnte sich auf den gesamten Kult- und Verhaltensbereich aus und verfestigte sich so zu einem Instrumentarium der Lehrgerichtsbarkeit und obrigkeitlichen Macht des religiösen Amtes, auch im exekutiven Bereich. Jesus nun kommt in die Welt, um für sein Volk Israel und eine fernere Menschheit als der „Heilige Gottes“ (Joh 6,69) mit seinem Leben und Sterben den wirklichen Gott offenbar zu machen, das innerste Wesen seiner Heiligkeit, zu sagen und zu zeigen, wer und wie Gott, der allein Heilige, ist (Jes 6) und wie Gott sich sein Ebenbild, den Menschen, denkt.
Schon im prophetischen Schrifttum, vor allem bei Hosea und in den Gottesknechtliedern des Deuterojesaja, wird Gottes heiliges Wesen und Anwesen in einer schöpferischen, sich erbarmenden und bekehrenden Liebe erkannt, einer Liebe, die zugleich seiner Gerechtigkeit tiefster Grund ist und diese doch für menschliches Verstehen unendlich überbietet.
Jesaja, der in seiner Berufungsvision (Jes 6) den dreimal Heiligen schaut und sich in seiner Unreinheit als Sünder und Glied eines sündigen Volkes verloren gibt, erlebt es, wie Gott durch seraphische Glut vom himmlischen Altar seine Unreinheit tilgt, seine Schuld von ihm nimmt und ihn mit sich versöhnt, so daß er so zum „Heiligen“ wird (wie alle „Geretteten auf dem Zionsberg“; Jes 4,3) und mit Gott Zwiesprache halten darf. Der „Heilige Israels“ schenkt ungeschuldet, voraussetzungslos das Heil. Himmlischer Altar und Gott haben in dieser Vision prophetische Bedeutung. Der Altar und das Opfer wird Jesus sein, der unsere Schuld auf sich nimmt, und die Glut der sich von ihm her schenkende, Sünden vergebende Geist.
Jesus macht durch seine immer wieder am Sabbat geschehenden Heilungen von Menschen, die ihm „der Vater gibt“ – so sieht es das Johannesevangelium –, das Wesen der göttlichen Sabbatruhe, in die einzugehen der Mensch berufen ist, offenbar: als Liebe, die das Urleben ist und die Leben und Heil an Seele und Leib schenkt – denen, die sie ersehnen. Jesu Heilungen sind kein profanes, sondern den heiligen Gott offenbarendes und verherrlichendes Tun; darum sabbatgemäß.
Entsprechend sind alle „Entgrenzungen“ vom Bisher des Gesetzeszaunes um und in Israel durch Jesus zu verstehen, sie sind Erfüllungen des Advents, in dem Gottes Volk bis auf den Messias hin lebt, sie machen den Sinn dieser Gesetzeszeit und ihrer verpflichtenden Bräuche offenbar, ihren Sehnsuchtsschrei: Gäbe es doch den Gesetzlosen nicht mehr, den Zöllner, die öffentliche Sünderin! Jesus meidet sie nicht, wie es sich für den Frommen von selbst verstand, sondern setzt sich mit diesen Verrufenen zu Tisch, ja lädt sich bei ihnen ein, um sie wie einen Zachäus, eine Maria Magdalena aus ihrer Verstrickung zu lösen und Heimkehrer in Gottes Vaterhaus, neue Geschöpfe aus ihnen zu machen. Gäbe es doch kein Heidentum mehr, glaubten doch alle an den „Heiligen Israels“! Jesus hütet sich nicht, wie es Vorschrift war, das Haus des heidnischen Hauptmanns zu betreten, sondern bietet sich an, zu ihm in sein Haus zu kommen. Und schon diese Bereitschaft ruft im Heiden grenzenlosen Glauben hervor, und Jesus schenkt ihm so mitsamt seinem Knecht das Heil.
Gäbe es doch keinen Aussatz mehr! Jesus hütet sich nicht nach der Gesetzesvorschrift vor der Nähe des Aussätzigen (Mt 8), sondern berührt ihn, der alles wagend Jesu Nähe sucht, mit der Hand und heilt so gewiß nicht nur seine Haut, sondern auch sein Herz. Jesu Liebe ist grenzenlos, sprengt darum seinem messianischen Auftrag gemäß die bis zu seinem Kommen hin als „Pädagogen auf Christus hin“ notwendigen Grenzen, die das Gesetz zog, und damit auch das Bisher von Gotteserfahrung und -erkenntnis in Israel.
Angstlos, in göttlicher Freiheit, gegen allen Widerstand und alle Gefährdung durch die Grenzwächter, die ihm die messianische Vollmacht nicht glauben wollen trotz der Evidenz seiner Werke, „die niemand tun kann, es sei denn Gott mit ihm“ (Joh 3,2), geht seine Liebe – auch zu den Gegnern – „bis ans Ende“ (Joh 13,1); sie nimmt es auf sich, durch das Gesetz und seine Grenzziehungen zu sterben, um es abzulösen durch das Gesetz der Liebe, die sein Hl. Geist in die Herzen all derer ausgießt, die an ihn glauben; als der verheißene Gottesknecht, der die Schuld der vielen auf sich nimmt (Jes 53), verbleibt er nicht im Totenbereich.
Der neue Adam, der er ist, geht als „Erstling aller Entschlafenen“ in „Gottes Ruhe“ ein und offenbart diese als ewige Lebensfülle und -freude. Von den Toten erweckt, beendet der „Heilige Gottes“ die Todeswelt für alle nach wahrem, bleibendem Leben sich Sehnenden: Und schon in das Hier und Jetzt hinein schenkt er den göttlichen Lebensodem, den er als der Menschensohn vom Vater empfängt, denen, die an ihn glauben, sich für sein Wesen erkennend öffnen: Sie erfahren die Heiligung durch den Heiligen. In ihrem Miteinander und Füreinander, durch seinen Liebesgeist gedrängt, bilden sie im Wir der Gotteskinder seine Gemeinde, die „heilige“ Kirche. Wer in der lebendigen Zugehörigkeit zu ihr sein Leben von Jesu Wort und Beispiel bestimmen läßt und damit von seinem Geist und dessen immer neu sich schenkender Vergebung, der ist ein „Heiliger“ im eminenten Sinne, ein „Zeuge“ des Herrn.
Das Gebot, den Sabbat zu heiligen als den des Gedenkens an die Gottesruhe des siebten Schöpfungstages, ist für Christen damit aber keineswegs aufgehoben, sondern nur seiner Buchstabengesetzlichkeit enthoben. Durch Christi Auferstehung nach dem Sabbat, am „Sonntag“, ist dieser nun zur Anbruchsfeier des ewigen Tages geworden, wie ihn der abendlose siebte Tag der Schöpfung vorverkündete, zum ersten Tag einer neuen Schöpfung.
Diese wurde grundgelegt durch Jesu Tod zur Tilgung der Weltschuld; sie wird offenbar – als Verheißung für den ganzen Kosmos – in seiner Auferstehung am dritten Tag. Darum halten wir den Sabbat an diesem dritten Tag, und zwar erstlich durch das Gedächtnis Christi, sein uns mitnehmendes Eingehen in Gottes Ruhe durch Tod und Erweckung hindurch.
Die dinghaften räumlichen und zeitlichen Bezüge zu diesem Gedächtnis, zur Eucharistie, mögen uns ähnlich wie ehedem die Sphäre von Kult und Tempel in Israel auch weiter in besonderer Weise als heilig gelten – die Unterscheidung von heilig und profan bleibt die Weltzeit hindurch fundamental wichtig und aktuell für den vom Rückfall in die Profanität und damit vom Verderben bedrohten Menschen.
Wo keine Einübung mehr in die Unterscheidung des Heiligen geschieht, dessen absolute Dignität uns dann – wenn auch vielleicht nur noch für einschneidende Augenblicke – zum Absehen von uns selber nötigt, kommt es zur Einebnung des Heiligen in eine unheilige Welt, in der umgekehrt Unterdrückung von Wünschen als Sakrileg gilt und deren Konsumanspruch sich alsbald auch auf die zur Folklore heruntergekommene Religion als Randverzierung oder Verfeierlichung des Daseins erstreckt – der für die Eucharistie bestimmte Kelch kann jetzt durchaus auch zum Umtrunk bei einer Party dienen.
Verlust des Heiligen bedeutet: Es gibt seine Widerspiegelung im Gewissen nicht mehr! Damit erstirbt zugleich das Sündenbewußtsein. Die Theologie tritt dann ihre Zuständigkeit in den Fragen menschlichen Fehlverhaltens ab an die Psychologie und die Soziologie. Grundsätzlich werden Gut und Böse nicht mehr unterschieden, sind darum auch keine Alternative und kein Entscheidungsinhalt mehr, sondern haben lediglich noch in polizeigesetzlichen Regelungen ein Richtmaß. Bei allem jedoch bleibt unbedingt wahr, daß Heiligung und Heiligkeit nicht länger auf Zeit- und Raumwahrnehmung beschränkt sind. Seit Jesu Wort „Die Stunde ist da, wo man Gott weder auf dem Berg Garizim noch in Jerusalem, sondern im Geist und in der Wahrheit anbetet“ und seit der Zusicherung des Auferstandenen „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Weltzeit“ reicht Heiligkeit so weit, wie sich Jesu Lebensodem in Herz und Leben des einzelnen wie des ganzen Gottesvolkes hinein ausdehnt. Überall, wo Gottes Geist einwohnt aufgrund des Glaubens an ihn, oder einfach weil man Gottes Angesicht von ganzem Herzen sucht, ist ‚Heiligtum‘.
Am Jüngsten Tag aber wird die Prophetie der Abendlosigkeit des siebten Tages der Gottesruhe vollends offenbar werden: Beim Erscheinen des Messias wird die ganze Schöpfung als eine durch ihn erlöste, geheiligte von aller Entwürdigung durch den gefallenen Menschen gereinigte, zu Gott heimgeholt, und Gott wird alles in allem sein.
„Heiligkeit ist eine Haltung, die zu allen Handlungen gehört, mit allen Taten verbunden ist, alles Leben begleitet und formt – kein Ausflug in Spiritualität. Ein Heiliger ist ein Mensch, der nicht weiß, wie es möglich sein kann, nicht zu lieben, nicht mitzuleiden und mitzuhelfen, kein Gefühl zu haben für die Freuden und Ängste anderer – ein Weg, der Quelle des Seins treu zu sein.“ Das sind die Worte eines letzten Nachfahren der Chassidim, Abraham Heschel, eines Juden, der den Sabbat hielt nach dem Gesetz Israels. Hier wird deutlich:
Der Geist des Messias ist, wo und wann immer er sich schenkt, das Heute Gottes über die Zeiten und Räume und Religionen hin. Er ist das heilige Geheimnis der Entgrenzung aller Grenzen, wie Menschen sie aus Angst voreinander oder wie Gott selbst sie zu unserer Bewahrung in seiner Liebe zog und zieht. Dieser Geist läßt sich auch nicht eingrenzen durch die Grenzen der von ihm gestifteten Kirche in ihrer Sichtbarkeit, so wenig wie durch die Grenzen des Gesetzes in Israel, er verbindet in unsichtbarer Tiefe zuinnerst alle, die mit ihrem Leben und Sterben das Angesicht Gottes suchen, zu Heiligen.
Mahatma Gandhi, ein Hindu in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, hat die Bergpredigt offenbar konsequenter und überzeugender gelebt als die allermeisten unter uns Christen. Sokrates, ein griechischer Heide, bezeugte zwei Jahrtausende zuvor die innere Freiheit eines den Tod nicht fürchtenden Menschen, dessen Herz der Wahrheit gehört, die Weg und Leben ist. Abraham Heschel, nach allem, was Menschen von ihm wissen, ein „wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist“ (Joh 1,47), gesetzestreu, Mitmarschierer aber auch des Baptisten Martin Luther King in seinem waffenlosen Kampf gegen die Rassengesetze, machte wie ein letzter Prophet für viele deutlich, wie Israel auch heute noch Gottes heiliges Volk ist.
„Geheiligt werde dein Name“ – das ist, wenn auch nicht dem Wortlaut nach, das Verlangen und Beten der Menschen aller Zeiten und Zonen, die Gott zu Heiligen erwählt und begnadigt hat; im Vaterunser enthält diese Bitte als einzige das Wort heilig, und sie ist die erste des Herrengebetes, die folgenden sechs sind ihr Kommentar.
Literatur: Th. Merton, Heilig in Christus (Freiburg 21965); H. Spaemann, Und Gott schied das Licht von der Finsternis. Christliche Konsequenzen (Freiburg 1982); In der Fülle des Glaubens, Hans Urs von Balthasar Lesebuch, hrsg. von W. Löser u. M. Kehl (Freiburg 21981); A. Heschel, Der Mensch fragt nach Gott (Neukirchen 1982); ders., Wer ist der Mensch. Über das Wesen und die Sinngebung des Menschseins (Neukirchen 1986).
Quelle: Christian Schütz (Hg.), Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg 1992, Sp. 585-594.