Biblische Miniaturen über Trösten und Trost
Von Erich Zenger
Das hebräische Wort (genauer: die hebräische Wurzel mit den drei Konsonanten Nun Chet Mem – also nhm), mit dem das Verbum »trösten, sich trösten, sich trösten lassen« und das Nomen »Trost, Tröstung« in ihren unterschiedlichen Formen gebildet werden, hat in der Hebräischen Bibel ein auffallend breites Bedeutungspotenzial. Neben dem Begriffsfeld »Trost« kann es auch die Begriffsfelder »Mitleid«, »Zornbesänftigung«, »Rache« und »Reue« abdecken. Die sprach- und bedeutungsgeschichtlichen Implikationen dieses Sachverhalts können und sollen hier nicht diskutiert werden. Gleichwohl soll wenigstens notiert sein, dass alle genannten Sinngehalte höchstwahrscheinlich auf die Grundbedeutung »heftig atmen, Luft schnappen, schnaufen, aufseufzen« bzw. »wieder atmen können, aufatmen, durchatmen« zurückgehen. Zugrunde liegt offensichtlich die Idee, dass eine wie immer entstandene körperliche oder seelische Atemnot bzw. heftige Atemerregung überwunden und beendet wird. Dabei ist wichtig, dass in der Vorstellungswelt der Bibel der Atem den Vollzug des Lebens realisiert und signalisiert – und zwar sowohl Gottes als auch des Menschen (vgl. Gen 2,7; Ps 104,29f.). Für das Bedeutungsspektrum »Trost« bedeutet dies: Wer Trost erfährt, erfährt Hilfe und Kraft zum »Aufatmen« und zum (Weiter-)Leben. Wer Trost spendet, spendet und mehrt Leben. Von wem Trost ausgeht, ist Quelle des Lebens und des Heils. Dieses Bedeutungs- und Wirkpotenzial des biblischen »Trostkonzepts« soll im Folgenden in biblischen Miniaturen nachgezeichnet werden, weder mit der Möglichkeit, alle wichtigen Aspekte zu erfassen, noch mit dem Anspruch, alle Tiefendimensionen herauszuarbeiten.
»ER ABER WEIGERTE SICH, SICH TRÖSTEN ZU LASSEN« (GEN 37,35)
Das Thema »Trost« begegnet in der Bibel (wie im Leben) im Kontext von Trauer, Schmerz, Wut und Verzweiflung, insbesondere angesichts von Verlust- und Leiderfahrungen. Wenn und wo der Tod anderer Menschen das eigene Leben so sehr verwundet, dass das Weiterleben schwerfällt, ja unmöglich erscheint, wo katastrophische Erfahrungen die Sinnhaftigkeit von Geschichte und Welt so sehr verdunkeln, dass nur noch Klage als »Lebensatem« bleibt, und wenn Gott nicht mehr als der nahe und gute, sondern als der zornige und vernichtende Gott »erscheint« und erfahren wird, da taucht biblisch das Thema »Trost« auf, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise.
Eine erste Weise ist die explizite Weigerung, sich trösten zu lassen. Die Bibel verteidigt an herausragenden Gestalten und in subtiler theologischer Reflexion das Recht auf Untröstlichkeit und den Widerstand gegen oberflächliche, unwürdige Vertröstungen. Sie tut dies, um den wahren Trost zu schützen und vor falschen Tröstern zu warnen.
Als man Jakob, dem Stamm-Vater Israels, die (falsche) Nachricht bringt, sein Lieblingssohn Josef sei von wilden Tieren zerrissen und aufgefressen worden, vollzieht er zwar zu Ehren seines Sohnes die traditionellen Trauerriten (Gen 37,34: Zerreißen seines Gewandes, Anlegen des grob gewebten »Sacks«), aber »er weigert sich, sich trösten zu lassen« (Gen 37,35). Er weigert sich, diesen Tod seines Sohnes, der Teil seines Lebens war und bleibt, einfach hinzunehmen und zum alltäglichen Leben zurückzukehren. Der einzige Trost wäre für Jakob, so sagt er in Gen 37,35, zu seinem toten Sohn in die Scheol hinabsteigen zu können. Für die Leser der Geschichte ist es ohnedies paradox, dass ausgerechnet die Brüder Josefs, die ihrem Vater diesen Verlust verursacht haben, ihn nun trösten wollen. Dazu sind sie unfähig, weil sie die Wunde nicht verstehen können, die dieser Verlust ihrem Vater geschlagen hat. Sie können das deshalb nicht, weil sie die besondere Liebe des Vaters zu Josef nicht respektiert und akzeptiert haben (vgl. Gen 37,4). Wer trösten will, muss wahrhaft und vorbehaltlos den Schmerz und die Trauer des zu Tröstenden teilen.
Auch von der im Grab liegenden Stamm-Mutter Rahel heißt es in Jer 31,15: »Rahel weint über ihre Kinder und weigert sich, sich trösten zu lassen über ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr.« Rahel weint und klagt hier über das Volk Israel, das in das Exil getrieben und vom vernichtenden Tod durch Fremdmächte heimgesucht wird. Wo es um das Überleben Israels geht, kann die Stamm-Mutter nicht schweigen. Die Verweigerung, diesen Tod einfach als politische Realität hinzunehmen, ist sie sich selbst als Stamm-Mutter schuldig – und vor allem dem Gott Israels, der auf diese Ungetröstetheit reagieren muss, so er denn der Gott JHWH ist. Der Buchzusammenhang Jer 30-31 zeigt, dass und wie JHWH antwortet. Die Bibelwissenschaft nennt Jer 30-31 deshalb »Trostbüchlein« bzw. »Trostrolle«. Dabei ist festzuhalten: Der Trost, den JHWH dann spendet, ist weder ein Erklärungsversuch der Katastrophe noch eine Aufforderung, die Trauer im Stil der sogenannten Trauer- und Lebenshilfeliteratur zu »bearbeiten«, sondern die Verheißung seiner erneuten und erneuernden Zuwendung durch die Gabe von Leben und Heil. Der Trost kommt nicht trotz, sondern gerade wegen der Weigerung Rahels, sich vertrösten zu lassen.
Auch der im Exil entstandene Psalm 77, der eine tiefe Reflexion über die dramatische Widersprüchlichkeit der Geschichte Israels bietet, fasst sein Leiden an Gott mit den Worten zusammen: »Am Tag meiner Bedrängnis suche ich dich…, des Nachts ist meine Hand ausgestreckt …, meine Seele weigert sich, sich trösten zu lassen. Denk ich an Gott, muss ich seufzen« (Ps 73,3f.). Die Sprache der Theodizee ist das »Seufzen« des Nichtverstehens und der Klage. Die »Seele« (hebräisch: die Kehle als Organ des Atems, s. o., und der Lebensvollzüge der Sprache und der Nahrung), d. h. der Mensch in seiner Lebensempfindsamkeit und in seiner Lebenssehnsucht, muss gegen die Verletzungen des Lebens protestieren und sich allen von wem immer verordneten »Tröstungen« widersetzen. Die »Miniatur« des biblischen Ijob stellt dies in poetisch und theologisch unübertreffbarer Form dar.
»UND BIN GETRÖSTET, MITTEN IN STAUB UND ASCHE« (IJOB 42,6)
Man kann das Buch Ijob in mehrfacher Hinsicht als Buch über den Trost lesen. Es setzt sich kritisch mit Tröstungsstrategien auseinander, die das Leid und den Leidenden nicht ernst nehmen, sondern ihm als Tröstung eine theologische Lehre vorlegen, der er sich unterwerfen soll, um so das von ihm als irrational empfundene Leid, sowohl sein eigenes als auch das Leid überhaupt, als rational verstehbar und als theologisch sinnvoll zu bejahen. Zugleich widerspricht das Buch Ijob der hellenistischen Philosophie, die »Trost« im Leid durch die psychische Unerschütterlichkeit und durch die Relativierung des »äußeren« Lebens suchte (vgl. analog das kritische Gespräch des Buches Kohelet mit der hellenistischen Philosophie über das wahre Glück).
Repräsentanten dieser Tröstungsstrategien sind Elifas, Bildad und Zofar, die drei Freunde Ijobs. Das Buch lässt sie in unterschiedlichen Rollen auftreten. Am Anfang des Buches (Ijob 2,11-13) wird erzählt, dass sie, als sie von Ijobs Unglück hören, von weither (!) zu ihm kommen, um ihn zu trösten: »Sie erhoben von Ferne ihre Augen und sie erkannten ihn nicht wieder. Sie erhoben ihre Stimme und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und warfen Aschenstaub auf ihre Häupter zum Himmel hin. Sie setzten sich zu ihm auf die Erde – sieben Tage und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.« Die Erzählung hebt plastisch hervor: Sie wollen den Schmerz und die Trauer mit Ijob teilen und tragen. Sie setzen sich zu Ijob auf die Erde (Zeichen der Solidarität), sie werfen Staub und Asche (vgl. Ijob 42,6) gegen den Himmel (Zeichen des Protestes) auf ihr Haupt (Zeichen der Todesbetroffenheit), sie schweigen zusammen mit ihm, sieben Tage und sieben Nächte lang. So teilen sie sein Entsetzen und sein Ungetröstetsein – und geben ihm so Trost, durch ihr schweigendes Da-Sein.
Aber als Ijob sein Schweigen beendet und seinem Leid »Luft« macht, um Atem (»Trost«: s. o.) zu holen, da versagen die Tröster, weil sie nun (in langen Redegängen: vgl. Ijob 4-27) reden und belehren. Sie sehen und verstehen den leidenden Ijob nicht mehr, weil sie meinen, Gott und die Gotteswahrheit gegen Ijob verteidigen zu müssen. Für diese Tröstungsproduzenten mit ihrer kalten Orthodoxie und mit ihrem pastoralen Schmalz lässt das Buch Ijob den biblischen Ijob unmissverständlich feststellen: »Solcherlei Reden habe ich oft gehört. Leidige Tröster seid ihr… Auch ich könnte reden wie ihr, wenn euer Leben (eure Seele) an der Stelle meines Lebens (meiner Seele) wär« (Ijob 16,2). Was die drei Freunde vortragen, ist Ijob nicht unbekannt. Es ist beste »Schultheologie«, nicht ungelehrt und in sich durchaus stimmig, gar nicht einfach zu widerlegen und durch die Tradition sogar geheiligt. Und trotzdem sind ihre Reden für Ijob kein Trost, sondern Worte, die »Mühsal« bringen, und »windige Worte« bzw. »Wort voll Windhauch« (vgl. Ijob 21,34; »Mühsal« und »Windhauch« sind Leitworte im Koheletbuch). Der Grund ist offensichtlich: Anders als am Buchanfang sind sie nun nicht mehr »an der Seite« Ijobs, sondern »stehen daneben« – buchstäblich. Sie beharren auf ihrem Standpunkt, von dem aus sie Ijob nicht nur beurteilen, sondern schließlich sogar verurteilen. Statt als Tröster Ijob zum »Aufatmen« zu verhelfen, machen sie ihn sprachlos und wollen ihm vorschreiben, was er reden und denken soll. Nicht sie teilen ihr Leben mit ihm, sondern er soll sein Leben mit ihnen teilen. Sie wollen ihm die Lebenskraft, die ihm geblieben ist, wegnehmen, und zwar »ad maiorem dei gloriam«.
Der Buchschluss ist da ganz anderer Meinung. Nicht nur, weil Gott sich gerade dem klagenden und anklagenden Ijob zuwendet und weil auch er die Reden der Freunde trotz ihrer gelehrten Orthodoxie als weder für Ijob hilfreich noch als seinem Gottgeheimnis angemessen erklärt, sondern vor allem, weil er verkündet, dass und wie Ijob Trost gefunden hat:
»Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört,
nun aber hat mein Auge dich geschaut.
Darum gebe ich auf und bin doch getröstet
– mitten in Staub und Asche« (Ijob 42,5f.).
Diese letzten Worte, die das Ijobbuch den Ijob reden lässt, formulieren eine Antithetik von Gotteswissen aus tradierter Lehre (»Hörensagen«), repräsentiert durch die Freunde Ijobs, und innerer Gotteserfahrung (»Gottesschau«), die dem mit Gott gegen Gott kämpfenden Ijob zuteil geworden ist – als Trost und als Geschenk Gottes. Zum einen hat die »Gottesschau« Ijob zu einer neuen Gottesbeziehung geführt, die ihn dazu bewegt, die Beschuldigung Gottes als »Verbrecher« und »Versager« aufzugeben. Dass Gott sich ihm und nicht seinen »gelehrten« Freunden zugewandt hat, zeigt ihm, dass er von seinem Gott in seinem Schmerz und in seiner Klage ernst- und wahrgenommen wurde. Zum anderen ist er zu dieser Einsicht nur gelangt, weil er vor Gott sein Herz ausgeschüttet hat. Dabei hat er »Aufatmen« und Trost gefunden – »mitten in Staub und Asche«: wenn dieser Gott mit ihm ist, kann er in das Leben »getröstet« zurückkehren, wie der (keineswegs idyllisch gemeinte) Schluss des Buches dann zeigt.
Nun lernen sogar die Freunde wieder, wie »trösten« geht (Ijob 42,10-11) und wie die Erfahrung wahren Trostes das Leben verändern kann. Es überrascht, dass nun noch einmal davon die Rede ist, dass die Verwandten und Bekannten (und wohl auch die Freunde) kommen, um den »Wiederhergestellten« (vgl. Ijob 42,10) zu »trösten« (42,11), mit ihm Mahl halten und Goldgeschenke bringen. Selbst wenn man diese überraschende Schlussnotiz als Indiz für eine komplexe Entstehungsgeschichte des Ijob-Buches auswertet (wie das exegetisch meist geschieht), sie hat im vorliegenden Endtext eine wichtige Funktion: Sie zeigt, dass echtes »Trösten« eine Dauer- und Lebensperspektive haben muss. So wie das Leid das Leben des Leidenden verändert, kann und soll auch die tröstende Teilhabe das Zusammenleben der Getrösteten und der Tröster verwandeln. Das Mahl und das Gold sind dafür faszinierende Trostbilder und werden transparent für die zahlreichen biblischen Bilder, die Gott selbst als »Tröster« bezeugen und verheißen (vgl. vor allem das mit der Trostbotschaft »›Tröstet, tröstet mein Volk‹, spricht euer Gott« beginnende Buch Deuterojesaja).
Quelle: Tiemo Rainer Peters/Claus Urban (Hrsg.), Über den Trost. Für Johann Baptist Metz, Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag, 2008, S. 182-187.