Die unteilbare Liebe. Predigt über Lukas 7,36-50
Von Ernst Fuchs
Liebe Gemeinde,
wahrscheinlich dieselbe Geschichte wird bei Matthäus und Markus scheinbar weniger anstößig erzählt: dort kommt ein Weib und salbt Jesus in der Vorausschau seines Begräbnisses; die Jünger schelten sie, weil sie in ihrer Verschwendung nicht lieber der Armen gedacht hat.
Die arme Sünderin! wollen wir sie verurteilen, nachdem sie von Jesus die Vergebung ihrer Sünden empfing? Jawohl, empfing! Denn der Herr hat ihr die Sünden in dem Augenblick vergeben, in dem er es ihr sagte. Wohl uns, wenn er uns dieses Wort auch sagen kann! Aber warum sollte er es nicht können? Auch uns vergibt der Herr die Sünden, wenn wir ihn lieben. Das ist alles, was hier zu sagen ist, und das ist wahrhaftig nicht wenig!
Ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin: Leute, die sich berufen oder unberufen für „das Ganze“ Sorgen machen, pflegen in solchem Falle an die Volksnot der Prostitution zu denken. Mancher Bauer, der früher in der Stuttgarter Altstadt seine Peitsche knallen ließ, weiß davon ein garstiges Lied zu singen, wenn er es nicht vorzieht, zu schweigen. Es heißt aber nicht in unserem Text, Jesus sei bei den Prostituierten eingekehrt, sondern er war bei einem Pharisäer zu Gaste geladen. Da drängte sich, offenbar gleich nach seinem Eintritt in das Haus, diese Frau herein und begann auf ihre Weise ein wunderliches Werk. Der Hausherr wagte nicht, sie zu hindern.
Es war, als werde das Weib von einem unwiderstehlichen Zwang getrieben. Sie weinte, wie nur ein völlig erschütterter Mensch weinen kann, der Text sagt: und fing an, seine Füße zu netzen mit Tranen und trocknete sie mit den Maaren ihres Hauptes. Sie küßte die Füße des Herrn und salbte sie mit der köstlichsten Salbe ihres Vorrats. Und doch geschah alles mit einer so unvermittelten Sicherheit, mit einer so zwingenden Selbstverständlichkeit, daß ihr Keiner Einhalt gebot. Der Herr sagte nichts.
Auch der Gastgeber ist ganz still. Die ganze Tischgesellschaft schwieg. Jeder stand unter dem Bann des Vorgangs. Aber der Teufel gab sich nicht zufrieden. Er weckte im Herzen des Gastgebers den Gedanken, der sich einstellen muß, solange wir von unserer eitlen Heuchelei nicht lassen können. So dachte der Pharisäer:
„Wenn der Jesus der Prophet wäre, für den ich ihn gehalten habe, dann wüßte er, wer die ist, die ihn jetzt an rührt; dann wüßte er, daß das eine Hure ist!“ Also der Mann erwartet, daß Jesus die Frau endlich einmal bei Namen nennt und um ihres ominösen Gewerbes willen hinausweist, wenn des Pharisäers Glaube an Jesus erhalten bleiben soll, dann muß das jetzt, sofort, geschehen — es hätte lange genug schon geschehen sollen! Der Pharisäer hatte auch seinen Glauben an Jesus. Durfte man diesen Glauben preisgeben? War es nicht viel, viel wichtiger, daß der einflußreiche Pharisäer ein Jünger blieb, als daß dieses erbärmliche Weib einem Nervenzusammenbruch nachgeben durfte? Aber, liebe Freunde, es geschah nichts. Jesus ließ sie immer noch machen.
Ihr werdet schon gemerkt haben, wo das Evangelium hinaus will. Das Evangelium fragt nicht danach, wer der ist, der glaubt. Der Herr treibt keine Kirchenpolitik. Er überlegt sich nicht, wie er sich zu verhalten hat, damit er einflußreiche Männer zu Jüngern macht und als Jünger behält. Wenn ihr von ihm verlangt, daß er euch schont und eure Gewissensheuchelei berücksichtigt, dann täuscht ihr euch. Jesus liegt nichts an solchen Pharisäern, die Pharisäer bleiben! Auch uns hat der Herr etwas anderes zu sagen.
Da antwortete Jesus und sprach zu dem Pharisäer, der ihn geladen hatte: Simon, ich will dir etwas sagen. Die lange Pause, die seltsame Gedanken-pause war vorbei. Dem Pharisäer Simon — er heißt wie der erste Jünger des Herrn — dünkte es schon zu lange gedauert zu haben, besser, für seinen erbärmlichen Glauben war schon zuviel verloren gegangen. Endlich fällt ein Wort! was hat ihm Jesus zu sagen? Bevor ihr aber das weitere hört, beachtet noch einen Augenblick das Weib! Immer noch küßt sie Jesu Füße, immer noch macht sie sich mit ihm zu schaffen. Der Herr antwortet auch ihr noch nicht. Aber sie beklagt sich nicht, sie hat Zeit. Der Teufel hat jetzt keine Macht über sie. wir wollen daran denken.
Doch jetzt gilt es dem Pharisäer Simon, was antwortet ihm Jesus auf den geheimen Gedanken? Er selbst, Simon, ist voll größter Spannung: „Meister, sprich!“ Im Geheimen schreit sein Herz: bestätige mir doch endlich meinen Glauben an dich! Weis doch das Weib ab! Merkst du denn gar nicht, wie ich dich verliere? Tust du mir das an in meinem Haus?
Und der Herr erzählt ein Gleichnis. In einem für das Pharisäerherz so fürchterlich peinlichen Augenblick hat Er Zeit für ein Gleichnis.
„Es hatte ein Gläubiger zwei Schuldner. Einer war ihm 500 M. schuldig, der Andere 50 M. Als sie’s nun nicht bezahlen konnten, siehe da, da schenkte er’s Beiden! Und nun sprich du: wer von den Beiden wird den Gläubiger am meisten lieben?“
Das ist ja nun ein seines Gleichnis für einen Pharisäer. Es ist doch etwas vom Seltsamsten, daß jene Leute, die ihre Rechnung mit dem Himmel so zuversichtlich abgeschlossen haben, merkwürdig viel vom Geld verstehen. Jeder Pharisäer könnte Finanzminister sein. Dieses Gleichnis Jesu erweist dem gespannten, ja verzweifelnden Pharisäer also insofern doch eine Wohltat, indem es ihn auf ein ihm nur allzu vertrautes Gebiet hinführt. Von dem Vorgang mit der Sünderin hat der Pharisäer ja nichts verstanden. Aber jetzt ist auch er im Banne Jesu. Jesus fordert den Mann noch heraus, indem er ihm den unglaublichen Fall vorführt, daß der Gläubiger den Schuldnern die Schuld erläßt. Einen solchen Fall kennen wir.
Der Hausherr ist kein Einfaltspinsel. Er merkt ganz gut, daß er angegriffen ist. Deshalb antwortet er, in der Form vorsichtig wie ein Grieche, gleichsam in der vollen Deckung seines praktischen Verstandes:
„Ich möchte annehmen, der, dem der Gläubiger am meisten geschenkt hat, wird ihn auch am meisten lieben.“ Die Antwort ist gut. Jesus kann sie nur bestätigen: richtig getroffen: Ach, wenn Simon den Fall doch auch von Grund auf verstünde! Aber Seligkeit und Geld verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser; eins frißt das andere. Schwerlich wird ein Finanzmann in das Himmelreich kommen. Schwerlich wird der von euch selig, der seinen Wein am besten zu verkaufen versteht! Aber Jesus bricht das Ge-sprach mit dem Pharisäer nicht ab.
Und er wandte sich dem Weibe zu und sprach weiter zu Simon: sieh dir das Weib an! Ich bin in dein »Haus gekommen — wie zu einem Jünger —, du aber hast mir meine Füße nicht einmal abwaschen lassen, wie man einem anständigen Gast zu tun pflegt — und was hat diese Frau nicht alles an mir getan! …Und dann hält ihm Jesus alles vor, was geschehen ist. Da muß der Gastgeber erst recht erschrocken stimmigen.
Aber nun achtet auf Jesu Urteil:
„Derhalben sage ich dir, Simon: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig!“
Und jetzt erst geschieht es, daß der Herr, der unsere Schuld bezahlt hat, zu der Frau sagt: Dir, du mein armes, törichtes, verirrtes Kind, dir, die mich so sehr gesucht hat, dir sind deine Sünden vergeben!
Da, in diesem Augenblick, hatte der Herr in einem verlorenen Menschen Wohnung genommen.
Weil sie Ihn suchte, hatte die Frau Zeit, als sie Ihn fand, liebe Zuhörer. Der Pharisäer dagegen konnte seinen Glauben nicht wahren und forderte dadurch das Gericht heraus.
Jetzt muß es sich auch zeigen, auf welcher Seite ihr gefunden werdet, die ihr euch zur Gemeinde des Herrn versammelt habt. Prüfet euch selbst: Sollen wir Jesu Urteil untersuchen? Oder habt ihr Furcht vor dieser Nachfrage?
So sagte Er: ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt. Schreckliche Zweideutigkeit! Sollen wir zu Hurern und Ehebrechern werden, damit uns die Sünden vergeben werden? Sicherlich nicht. Aber die andere Frage gilt: können uns unsre Sünden vergeben werden, wenn wir Hurer und Ehebrecher gewesen sind? Wehe dem, der an seine Brust schlägt und bei sich spricht: ich habe mich noch nie so vergangen! Wisset ihr nicht, daß das Herz voll arger Gedanken ist? Wir können diese zweite Frage, ob auch der Hurer und Ehebrecher Vergebung empfängt, so wenig ohne weiteres beantworten, als wir ohne weiteres unsere Würdigkeit zum Abendmahl feststellen können. Dennoch ist dazu noch etwas wesentliches zu sagen. Jesus fährt ja auch fort und spricht:
„welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Der Herr weiß, daß die Liebe unteilbar ist. Das haben wir zu bedenken, wer Gott sucht, der sucht auch Menschen, denn er muß immer suchen, wer Gott liebt, der liebt auch Menschen, denn er muß immer lieben. Ohne die Sünde wäre das Suchen, wäre die Liebe das irdische Glück, weil uns aber die Sünde verblendet hat, so daß wir Gott am falschen Ort suchen, deshalb verliert sich unser Lieben und unser Suchen. Daraus entsteht die Hurerei.
Nicht jeder Hurer, nicht jeder Ehebrecher, nicht jeder Unzüchtige, nicht jede Prostituierte, nicht jeder Mensch wird gerettet. Sondern der Mensch wird gerettet, der in alledem Gott seinen Herrn gesucht hat, obwohl er es nicht wußte. Ob wir aber Gott lieben und darum suchen, das bestimmt allein der Herr.
Sehet, diese Sünderin hätte durchaus verloren gehen können. Es sind schon viele solche verloren gegangen, aber noch mehr Pharisäer. Daß sie nicht verloren ging, kam daher, daß sie von Gott dem Herrn erwählt war, als sein unverkäufliches Kind. Sie wußte es nicht, sonst hätte sie die Kraft aufgebracht, von der Sünde zu lassen. Aber als ihr der Herr begegnete, da, in diesem schweren Augenblick erkannte sie Ihn, denn Ihn allein hatte sie gesucht. Der Pharisäer dagegen, der ein Jünger zu sein vorhatte, erkannte Ihn nicht. Vielleicht hat er Ihn nach der Sünderin erkannt, so wie Petrus den Herrn erst nach dem Verrat erkannt hat.
Das war der Zwang des Vorgangs, der die Frau so seltsam handeln ließ. Ihr Leid, ihre Not, die ganze Nichtigkeit ihres sündigen Daseins fiel auf sie, fiel zum letzten Male auf sie, als sie dem Herrn begegnete. Der Herr hatte sie erkannt, sie hatte den Herrn erkannt: da konnte es geschehen, daß das endgültig lösende Wort gesprochen wurde: Deine Sünden sind dir vergeben. Das Alte ist vergangen. Du bist geworden, wozu du berufen warst, ein neuer Mensch Gottes.
Wenig geliebt — wenig vergeben; viel geliebt — viel vergeben: müssen wir nicht gerade so sagen? Wir dürfen es vollends heraussagen: ganz geliebt — ganz vergeben! wenn wir ihn nicht ganz lieben können, dann haben wir keine wahre, nicht die bleibende Vergebung und damit — überhaupt keine Vergebung.
Wenn der Herr durch sein vergebendes Wort in uns Wohnung nimmt, dann ist in uns eine Entscheidung gefallen, wo der Herr vergibt, da hat er auch gerichtet.
Das merken sogar die, die nur zu einer halben Liebe Gottes und der Menschen imstande sind. So war es auch bei der Disch-gesellschaft im Hause Simons des Pharisäers.
Da fingen an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: wer ist dieser, der auch die Sunden vergibt? Das heißt: sie wollen Jesus etwas abziehen. Die Sache geht ihnen zu weit, wo kommt die gute, die religiöse Gesellschaft hin, wenn man nicht mehr weiß, wer verloren und wer gerettet ist? Zu nahe sind uns solche Existenzen wie diese Sünderin auf den Leib gerückt, als daß wir da noch mitmachen könnten, ohne daß alle gewohnten Maßstäbe, auch die Gruppenmaßstäbe, verloren gingen. Der halbe Sünder will lieber einen halben Christus in Raus nehmen, als die Gesellschaft eines ganzen Sünders ertragen zu sollen.
Ja, so ist es: wer Christus ganz bekennt, der bekennt sich auch ganz als Sünder und weiß sich mit den ganzen Sündern solidarisch. Da gibt es keinen Unterschied der Sünde, der Person, der Raffe, der Partei mehr. Da gibt es nur noch die Herrschaft Jesu. Die Liebe zu ihm ist unteilbar, wer Ihn erkennt, der ist erkannt und erkennt darin auch seine Brüder in Christus. Das ist die Entscheidung, daß sich die Brüder in Christus finden, wo wir uns nicht finden, da fehlt Jesus selbst.
Wer aber sind die, die nicht halb sind? wo ist die Liebe? Der Herr sagt es uns, indem er zu dem Weib spricht:
„Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin mit Frieden!“
Wenn wir denselben Glauben haben, dann haben auch wir den Herrn gefunden.
Der Glaube der Sünderin zeigt sich an dem, was sie tat. Sie schämte sich nicht, ihre Begegnung mit dem Herrn vor aller Welt zu offenbaren und ihre Liebe zu ihm sichtbar zu machen, ihre Sünde unter den Augen der Pharisäer — das will etwas heißen! — von Herzen zu bekennen. Obgleich ihr ganzes Leid ans Licht kam, verehrte sie Ihn öffentlich als ihren Herrn.
Vielleicht, liebe Freunde, wird es euch umgekehrt gehen. Es kann sein, daß ihr euch großes Leid zuzieht, wenn ihr Jesus öffentlich als euren Herrn verehrt. Dann kommt die Stunde, und sie ist wahrhaftig schon da, daß auch ihr euch eures Glaubens nicht schämen dürft, wenn ihr wirklich dem Wort des Vaters begegnet seid, dann werdet ihr euch nicht schämen, sondern mit Freuden den Sohn bekennen und die Brüder sehen.
Der Herr hat uns den Frieden der Vergebung geschenkt. Darum fürchtet euch nicht, die ihr zu den Seinen gehört, und geht auch ihr mit Frieden hin. Amen.
Gehalten in Winzerhausen am Sonntag, 27. Oktober 1935.
Quelle: Predigten aus Württemberg, Theologische Existenz heute 38, München: Chr. Kaiser, 1936, S. 15-21.