Die Zukunft Israels (Römer 11, 11-32)
Von Christoph Ernst Luthardt
„Ich sage nun: doch nicht gestrauchelt sind sie, damit sie fallen sollten? Das sei ferne. Sondern durch ihren Fall ist das Heil zu Tbeil geworden den Heiden, um sie zu reizen. Wenn aber ihr Fall einer Welt Reichthum und ihre Minderung Heiden ein Reichthum, wie viel mehr ihr Vollbestand? Zu euch aber rede ich, den Heiden. Insoweit ich nun Heidenapostel bin, mache ich meinen Dienst herrlich, ob ich etwa mein Fleisch reize und ihrer Etliche rette. Denn wenn ihre Wegwerfung einer Welt Versöhnung (zur Folge hat), was dann ihre Annahme, wenn nicht Leben von Todten? Wenn aber die Erstlingsgabe heilig ist, dann auch der Teig; und wenn die Wurzel heilig, dann auch die Zweige. Sind aber welche von den Zweigen ausgebrochen worden, du aber, der du doch vom wilden Oelbaum bist, eingepfropft worden unter ihnen — rühme dich nicht wider die Zweige. Wenn du dich aber wider sie rühmst (so wisse): nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich. Du wirst nun wohl sprechen: ausgebrochen sind die Zweige worden, damit ich eingepfropft würde. Wohl. Wegen ihres Unglaubens wurden sie gebrochen, du aber stehst durch den Glauben: überhebe dich nicht, sondern fürchte dich. Denn wenn Gott der natürlichen Zweige nicht geschont hat, wird er wohl auch deiner nicht schonen. Siehe nun an Gütigkeit und Schärfe Gottes! Gegen die Gefallenen (waltet) Schärfe, gegen dich aber Gütigkeit Gottes, wenn du verblieben sein wirst bei der Gütigkeit. Denn auch du wirst (sonst) abgehauen werden, und jene dagegen, wenn sie nicht verblieben sein werden beim Unglauben, werden eingepfropft werden. Denn Gott ist wohl vermögend, sie wieder einzupfropfen. Denn wenn du aus deinem wilden Oelbaum dem du von Natur (zugehörst), bist abgehauen worden und wider die Natur eingepfropft in einen edlen Oelbaum, wie viel mehr werden diese, die naturgemäßen (Zweige), eingepfropft werden in ihren eigenen Oelbaum.
Denn ich will euch, liebe Brüder, nicht verhehlen dieß Geheimniß, damit ihr nicht euch selbst klug dünkt, daß Verstockung theilweise Israel widerfahren ist, bis die Vollzahl der Heiden eingegangen sein wird, und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben ist: „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, er wird abthun Gottlosigkeiten von Jakob; und dieß (wird sein) mein Bund mit ihnen, wenn ich wegnehmen werde ihre Sünden.“ Dem Evangelium nach sind sie Feinde (Gottes) um euretwillen, aber der Erwählung nach Geliebte um der Väter willen ; denn unbereut (sind) die Gnaden und die Berufung Gottes. Denn gleichwie ihr einst Gotte ungehorsam wäret, nun aber euch Erbarmen widerfahren ist durch dieser Ungehorsam, so sind auch diese nun ungehorsam gewesen, damit durch das euch widerfahrene Erbarmen auch ihnen Erbarmen würde. Denn Gott hat Alle beschlossen in Ungehorsam, damit er sich Aller erbarme.“
Was der Apostel in diesem Abschnitt — den ich in Übersetzung vorangestellt habe — lehrt, ist ihm ein sonderliches Anliegen. Mit großem Ernst legt er das Geheimniß den Römern an’s Herz. Es bildet den Schluß der Lehrunterweisungen und seiner Ueberschau der Heilswege Gottes, deren Betrachtung ihn zu dem Preis der vielfältigen, wunderbaren, unerforschlichen Weisheit Gottes des Weltregenten hinreißt, in welchen sich seine ganze Seele ergießt. Man sieht leicht, welche große Wichtigkeit diese Unterweisung in den Augen des Apostels hat, so denn billig auch in den unsern. Kein Brief ist für uns von solcher Bedeutung wie der Römerbrief. Er ist der einzige, der an eine Gemeinde des Abendlandes geschrieben ist; er ist gerichtet an die Gemeinde der Welthauptstadt, welche die Mutter der meisten Kirchen des Abendlandes wurde. Er ist für uns geschrieben wie kein anderer. Auch ist es nicht zufällig, daß die Reformation gerade an ihn anknüpfte. Luther’s ganze Lehre und Werk ist ein Kommentar zu diesem Brief. Wie ein Vermächtniß, das der Apostel uns Christen aus den Heiden hinterlassen wollte, haben wir diese Belehrung anzusehen. Es ist als habe es der heil. Geist vorausgesehen und warnen wollen vor der falschen Identificirung der heidenchristlichen Kirche mit Israel, welche so frühzeitig Platz griff, die Anschauung der römischen Kirche und ihre Anticipation der Zukunft beherrscht, und auch in unsrer Kirche einheimisch wurde. Eine Ermahnung zur Demuth, eine Warnung vor Gedanken eigener Klugheit und vor Verkennung der Zukunft Israels ist diese Stelle. Aber ist hier wirklich von der Zukunft Israels die Rede? In verschiedenen lutherischen Kreisen Deutschlands wie Amerikas hat man dieses Verständniß unserer Stelle für bedenklich, ja wohl auch für ketzerisch erklärt. Aber wenn es nun das richtige ist?
Die Frage ist: Ist hier vom Volk Israel, von Israel nach dem Fleische die Rede, oder von der Christenheit, welche im übertragenen Sinn Israel genannt wird? Ferner: Ist demnach eine Bekehrung Israels, eine Bekehrung des ganzen Volks in Aussicht gestellt, welche stattfinden soll nach der Bekehrung der Heidenwelt? nach der Bekehrung der ganzen Heidenwelt oder nur eines Theils? Und hat diese Bekehrung des Volkes Israel Folgen für die Geschichte des Reiches Gottes? und welche? Wir vergegenwärtigen uns zuerst, welche Antworten man hierauf aus unsrer Stelle gegeben.
I. Geschichte der Erklärung
Die alte Kirche hat unsere Stelle meistens so verstanden wie sie lautet — nämlich von einer allgemeinen Judenbekehrung am Ende. Vielfach (z. B. Augustin) verband man damit den Glauben an die Wiederkunft des Elias nach Mal. 3, 23, und auch Henochs. Allerdings gab es auch abweichende Erklärungen. Hieronymus bekämpfte die Judaizantes: die apostolische Weissagung habe sich am Anfang erfüllt. Ambrosiaster und Theophylakt finden nur eine allmälige Bekehrung Israels hier gelehrt. — Die mittelalterliche und die römische Kirche halten fest an der Meinung von der allgemeinen Judenbekehrung und der Erscheinung des Elias. Das Gegentheil gilt fast für häretisch. Manche, wie Cornelius a Lapide, bringen hiemit auch die 144000 der Apokalypse (7, 4) in Verbindung. Der neuere römische Ausleger unsres Briefes, Reithmayr in München, sieht jener traditionellen Auslegung folgend, stolz auf Luther und seine von der Tradition abweichende Auffassung dieser Stelle herab. — In der reformirten Kirche verstand zwar Calvin die Meinung des Apostels dahin: während die Heidenmenge in die Kirche eingeht, kommen auch Israeliten zum Glauben, so daß am Ende ganz Israel, bestehend aus Juden und Heiden, gerettet ist. Aber nach dem Vorgang von Beza u. s. w. legte man in dieser Kirche die Worte des Apostels im eigentlichen Sinne aus, und zwar nicht bloß ein Coccejus, sondern auch Voetius; und so auch der Arminanier Episcopius. Dagegen meinte Grotius, die Weissagung sei in der ersten Kirche erfüllt in den Myriaden von Juden, die damals christlich geworden (Apostelgeschichte 21, 20); und darin stimmten ihm Limborch und Wetstein bei.
Was die lutherische Kirche anlangt, so haben wir es hier zunächst mit Luther zu thun. In der Kirchenpostille sagt er in der Predigt zum Stephanstag aus dem Jahre 1521: „So ist’s nun gewiß, daß die Juden werden noch sagen zu Christo: gelobet sei der da kommt in dem Namen des HErrn. Das hat auch Moses verkündiget 5. Mos. 9, 30. 31. — Item Hos. 3, 4. 5 — und Azarias 2 Chron. 15,2-5. — Diese Sprüche mögen nicht verstanden werden denn von den jetzigen Juden; sie sind ja zuvor noch nie keinmal ohne Fürsten, ohne Propheten, ohne Priester, ohne Lehrer und Gesetz gewesen. St. Paulus Röm. 11,25.26 stimmet auch hieher und spricht: Blindheit u. s. w. Gott gebe daß die Zeit nahe bei sei, als wir hoffen. Amen“ (Erl. Ausg. 10,231 f.). Diese Stelle findet sich noch in den Ausgaben von 1543 u. 44. Seit 1547 ward sie in ihr Gegentheil umgeändert. In dieser Umänderung entspricht sie allerdings auch besser der allmählich veränderten Sinnesweise Luther’s. Noch 1523 in seiner Schrift, daß Jesus Christus ein geborner Jude sei, will er die Juden freundlich belehrt wissen und erkennt ihre heilsgeschichtliche Prärogative an. Im Briefe an den bekehrten Juden Bernhard hofft er eine größere Bekehrung der Juden von dem neuen Lichte des Evangeliums; 1537 in dem Briefe an den Juden Jeßla zu Rosheim führt er aus, wie doch die Juden sowohl dieß, daß die Heiden an einen gehenkten Juden glauben, als auch ihr eigenes Elend bewegen sollte. Aber schon 1538, als er von einem Rückfall von Christen in das Judenthum vernommen, meint er in seinem Brief an die Sabbater, daß gegen die Juden mit der Schrift nichts ausgerichtet werde. Die Schrift aber 1543 von den Juden und ihren Lügen ist voll Zorns: man sollte ihre Synagogen verbrennen u. s. w. Und in der Schrift vom Schemhamphoras aus demselben Jahr erklärt er, das Judenherz sei so stockstein-, eisen- und teufelshart, daß es auf keinerlei Art könne bewegt werden. Aus Röm. 11 folge die endliche Bekehrung der Juden keineswegs. Paulus meine etwas ganz anderes. — Welches dieß sei, sagt er nicht. Dieselbe Stimmung spricht sich in der Vermahnung aus, welche den Anhang zu seiner letzten Eislebener Predigt 1546 bildet: Die Juden sollen sich entweder bekehren, oder man soll sie nicht dulden.
Man sieht: am Anfang ließ sich Luther vom Schriftwort bestimmen, später von den Erfahrungen die er machte. Da suchte er denn mit dem Schriftwort zurechtzukommen, so gut es gehen wollte.
Mit Luther stimmte Bugenhagen und später auch Prenz, während Melanchthon meint, es würden allmählich Etliche sich bekehren bis zum Ende der Welt; übrigens sei das Mysterium Gott zu überlassen. Die Schwierigkeit, welche das Wort „ganz Israel“ bot, löste man entweder durch die Deutung Israels von den Gläubigen (aus Heiden und Juden), wie die Weimarer Paraphrasten und Pappus, oder so daß man aus ganz Israel: Etliche aus ihnen machte, wie Hülsemann, Weller, Dannhauer, Calov u. A. Man sieht: man war ungeneigt, sich dem Worte zu beugen. Da war es noch besser, daß Gerhardt auf jede bestimmte Erklärung verzichtete und auf die Erfüllung vertröstete.
Daneben aber finden wir eine nicht geringe Zahl — Spener hat sie in seiner Evangelischen Glaubenslehre, in der Anmerkung zur Predigt am zweiten Adventsonntag angeführt —, welche von einer notabilis, insignis, insignor, illustris conversio, von einer Bekehrung des größten Theils Israels sprechen,- wie Aegid. Hunnius, Leonh. Hutter, Balduin, Gesner, Meisner, Jac. Martini u. s. w. Das Richtigste hat Calixt in seiner Schrift de extremo judicio, wenn er die zwei Sätze aufstellt: Bekehrung aller Heidenvölker, und Bekehrung des ganzen Judenvolks. Darüber greift ihn freilich Calov hart an, aber mit dem im Grunde rationalistischen Argument: es sei ganz unmöglich, daß „die Türken und Mahomedaner u.s.w.“ alle noch Christen würden; auch hätten sie ja die Predigt des Evangeliums bereits gehabt, und die Perser hätten sogar das N. T. in ihrer Sprache! Und am Ende solle nach Calixt gar noch das ganze Judenvolk sich bekehren wie jetzt z. B. das ganze deutsche Volk christlich sei! So etwas sei bis jetzt nur einem Calixt in den Kopf gekommen. Er scheine einen subtilen Chiliasmus einführen zu wollen.
Die Geschichte der Erklärung unsrer Stelle in unsrer Kirche ist ein warnendes Beispiel von Beherrschung der Exegese durch Dogmatik.
Die neuere Exegese hat so ziemlich allgemein dem Wortlaut wenigstens im Ganzen sein Recht gelassen, ohne daß aber durchgängig der Stelle der volle Lehrgehalt enthoben würde, der in ihr niedergelegt ist.
II. Der Lehrgehalt
Fünf Fragen beantwortet uns die Stelle: ob das nationale Israel sich bekehren werde, ob das ganze Volk Israel, wodurch diese Bekehrung veranlaßt sein, wann sie geschehen und was sie im Gefolge haben werde.
1. Es ist hier durchweg vom nationalen Israel die Rede, und nicht ist Israel auch V. 26 in den Worten „und so ganz Israel gerettet werde“ in übertragenem Sinn gebraucht von der Christenheit. Denn obwohl auch die neutestamentliche Gottesgemeinde zuweilen Israel genannt wird, sofern sie die Fortsetzung der alttestamentlichen Gottesgemeinde ist (Gal. 6, 16 „das Israel Gottes“), so kann doch unter Israel jene nur da verstanden werden, wo es der Zusammenhang erfordert. Hier aber verbietet er diese Fassung.
Vergegenwärtigen wir uns vor Allem den Gang des ganzen Briefs! Er ist dieser. Des Heils bedürftig ist die ganze Welt, die Juden so gut wie die Heiden 1, 19-3, 20; das Heil ist vorhanden in Jesu Christo für die ganze Welt, für die Heiden so gut wie für die Juden 3, 21-4, 25. So der 1. Theil. Der 2. Theil stellt nun dieses Heil dar ohne Rücksicht auf jene Zweitheilung der Menschheit. Das Heil der Glaubensrechtfertigung ist Friede mit Gott und Hoffnung zu Gott — dieß für den Einzelnen — 5, 1-11; und der Anfang einer neuen Geschichte der Menschheit in Christo, die Aufrichtung eines Reiches des Lebens in Gerechtigkeit — dieß für die Menschheit — 5, 12-21 sein Gnadenstand unverträglich mit dem Verbleiben unter der Sünde 6, 1-14, wie mit der Rückkehr zu sündigem Thun 15-23; denn er ist nur da vorhanden wo ein Tod stattgefunden, nämlich das Absterben dem Fleische der Sünde 7, 1-6; so daß was dem Gesetz nicht möglich ist dem Fleische gegenüber, nämlich die Herrschaft des Wollens des Guten über die sündige Natur 7, 7-25. gewonnen ist im Wiedergebornen durch die Herrschaft des ihm einwohnenden Geistes Jesu Christi 8,1-11, der die Verpflichtung des Lebens im Geiste 8, 12-17, aber auch den Hoffnungstrost über das Leiden der Zeit 8, 18-25, die getroste Zuversicht zu Gott 8, 27-30 und den Triumph der gewissen Gottesgemeinschaft über alle außergöttlichen Mächte mit sich bringt. Aber eben nun, da er in der Darstellung des neutestamentlichen Heils den höchsten Schwung genommen, tritt dem Apostel auf das Schmerzlichste, Erschütterndste vor die Seele, daß Israel dieses Heils verlustig gegangen. Der dritte Theil des Römerbriefs, K. 9-11, beschäftigt sich mit diesem Problem der Verwerfung Israels, des erwählten Volks. Man kann ihn eine Theodicee nach dieser Seite hin nennen. Der Schluß ist der Lobpreis der in der Geschichte wunderbar waltenden Weisheit Gottes 11, 33-36. Nachdem er seinen unendlich tiefen Schmerz über die Verwerfung seines Volks ausgesprochen und begründet mit den göttlich geschenkten Gnaden desselben, von welchen die größte die Herkunft Christi aus demselben ist, „der da ist (ein Herr) über Alles, Gott gepriesen in Ewigkeit,“ 9, 1-5, rechtfertigt er nun Gott mit dem Nachweis, wie diese Verwerfung Israels weder wider Gottes Wahrhaftigkeit 9, 6-13, noch wider Gottes Gerechtigkeit sei 9,14-29; sondern die Thatsache, daß die Heiden die Glaubensgerechtigkeit erlangten, Israel dagegen nicht 9, 30-33, ihren Grund darin habe, daß Israel die Gerechtigkeit nicht auf dem Wege der göttlichen Gnadenverleihung und der menschlichen Glaubensannahme sich habe schenken lassen wollen 10, 1-21. Aber damit ist Israel nicht für immer verstoßen: so fährt er nun im 11. Kap. fort. Ein Gegenbeweis ist er selbst V. 1, der ja ein Israelite und der Apostel der Heiden (vergl. den Anfang des Briefs), durch welchen also Israels heilsgeschichtlicher Misfionsberuf sich fortsetzt, so daß derselbe nicht verloren ist. Auch wäre das gar nicht möglich, denn Israel ist doch das von Gott zuvor erkannte Volk Gottes V. 2, weßhalb dieser sich denn auch einen Rest darin bewahrt hat, wie zu des Elias Zeiten V. 3-10. So ist es denn jetzt nicht gestrauchelt, damit es falle; sondern sein Fall dient nur dazu, den Heiden das Heil zu vermitteln, damit deren Bekehrung wiederum Israel reize V. 11. So soll es also dereinst noch in seiner Fülle des Heils theilhaftig werden V. 12, und dieß wird segensreiche Folgen haben V. 15. Denn da Gott sich das Volk in seinen Anfängen zu eigen erwählt hat, so gilt diese Erwählung auch für seine ganze Zukunft V. 16. Israel bleibt die Grundlage der Gottesgemeinde V. 17, und kann wohl auch in der Zukunft aus der gegenwärtigen Abscheidung von Gott durch dessen Wirkung wieder zu seiner Gemeinschaft zurückgebracht werden V. 23.24. So sollen also die Heidenchristen dieß Geheimniß wissen, daß Verstockung Israel widerfahren ist nur theilweise und zeitweise; denn sie soll währen nur bis dahin, daß die Fülle der Heiden eingegangen sein wird V. 25, so daß dann nicht mehr bloß einzelne Israeliten sich retten lassen wie jetzt (V. 14), sondern ganz Israel gerettet wird und damit die alttestamentliche Verheißung in Betreff Israels sich erfüllt V. 26.27. Demnach haben wir über Israels Gegenwart und Zukunft so zu urtheilen: sofern Gott ihre Stellung zum Evangelium ansieht, ist er ihnen feind; sofern er seiner Erwählung gedenkt, hat er sie noch immer lieb V. 28, denn er nimmt die Gnade ihrer Erwählung nicht zurück V. 29. So wird denn auch noch der Gnadenwille Gottes an ihnen zur Verwirklichung kommen. Denn wie jetzt ihr Ungehorsam dazu dienen muß, daß das Heil, durch den Uebergang des Evangeliums von Israel auf den Boden der Völkerwelt, den Heiden zu Theil werde V. 30, so wird die Gnadenerfahrung, deren die Heidenchristen jetzt theilhaftig werden, indem sie Israel reizt, dazu dienen, daß dieses die gleiche Erfahrung noch machen wird V. 31. So steht wohl auf Seiten der Menschen, in den beiden Menschheitshälften, Ungehorsam, — aber auf Seiten Gottes Erbarmen, und zwar gegen beide Menschheitshälften, und dieses triumphirt V. 32. Dieser wunderbare Weg der Weisheit Gottes, auf welchem seine Gnade einhergeht, ist der Grund des Preises, mit dem der Apostel schließt.
Diese Uebersicht des Gedankengangs zeigt unwidersprechlich, daß hier von Israel durchweg nur im nationalen, eigentlichen, nicht im übertragenen Sinn die Rede ist; denn das Ganze ist ja beherrscht vom Gegensatz Israels und der Heidenwelt. Also kann man nicht irgendwo, etwa V. 26, Israel auf einmal von der Christenheit deuten. — Was ist nun von Israel gesagt?
2. Das Volk Israel wird sich dereinst noch bekehren zu Christo, und nicht bloß einzelne Israeliten. Die Bekehrung der Heiden — heißt es V. 11 — soll dazu dienen die Israeliten zu reizen. Wenn aber — fährt V. 12 fort — ihr Fall einer Welt Reichthum und ihre Minderung Heiden ein Reichthum, wie viel mehr ihr Vollbestand? Von einem Gemindertsein und einem Vollbestand ist hier die Rede. Jenes gilt jetzt, dieses zukünftig. Ihr zukünftiger Vollbestand ist nicht bloß ein gedachter Fall der aber nicht wirklich wird, so daß man mit Luther übersetzen dürfte: wie vielmehr, wenn ihre Zahl voll würde? Sondern es muß heißen — um bei seinen Worten zu bleiben — wenn ihre Zahl voll wird? Denn ihr Gemindertsein ist jetzt einer Welt Reichthum: so wird also ihre Vollzahl noch vielmehr einer Welt Reichthum sein. So gewiß jenes ist, so gewiß wird dieses werden. Gemindert ist Israel, sofern es nur in geringer Zahl, nur theilweise, zur neutestamentlichen Gottesgemeinde wurde; zur Vollzahl also wird es kommen, indem es nicht theilweise sondern in der Vollzahl, also seiner Gesammtheit nach, in die neutestamentliche Gottesgemeinde eingeht. Also die Gesammtheit Israels wird sich bekehren. Mit ausdrücklichen Worten ist dieß gesagt V. 26: ganz Israel wird gerettet werden. Dieß „ganz Israel“ ist, wie wir bereits sahen, nicht die Kirche aus Heiden und Juden, meint auch nicht die gläubigen Israeliten, die Erwählten aus Israel, sondern das ganze Volk. Dieß ist gegenübergestellt dem „theilweise“ was vorhergeht, so daß also das ganze Volk des Heils theilhaftig werden wird. Auch heißt es nicht: alle Israeliten, so daß von den Einzelnen die Rede wäre, sondern vom Volke, vom Volksganzen ist die Rede. So wird es also allerdings geschehen, wie Calixt sagt, daß einst ganz Israel christlich werden wird wie jetzt das ganze deutsche Volk christlich ist. Aber ist das nicht ein bedenklicher Satz? denn da er doch nicht bloß so gemeint ist: es wird geschehen, sondern: es soll nach Gottes Wille geschehen, so scheint er die Freiheit aufzuheben und die calvinische Lehre von der Prädestination und der Unwiderstehlichkeit der Gnadenwirkung zur Voraussetzung zu haben. Denn mit Recht sagt Calov: „wird gerettet werden“ bezeichne nicht bloß äußeres Bekenntniß. Aber es heißt eben nicht: alle Israeliten, sondern das Volk tritt ein in die Gemeinschaft des neutestamentlichen Gnadenheils. Da mag bei gar Manchem das Christlichwerden äußerlich sein: vom Volk als Ganzem, gilt, daß es des Heils theilhaftig geworden. Es wird aber ein solcher Ernst der Zeiten und wird eine so mächtige Erweckung und Erregung der Gemüther sein, daß es den Meisten ein gründlicher Ernst sein wird.
Obgleich Israel zerrissen und zersplittert ist in alle Welt, bilden doch die disjecta membra dieses Volks ein zusammengehöriges Ganze; ein Band der Einheit hält sie Alle zusammen und hindert sie, sich zu verlieren an die Völker unter denen sie wohnen. Sie find nicht bloß eine Summe Vieler, sie sind ein einheitliches Ganze. Dieß einheitliche Volksganze also wird sich bekehren; gerade ihr Zusammenhang, in dem sie mit einander stehen, wird es möglich machen, daß die Bekehrung eine allgemeine sei. So ist die allgemeine Bekehrung also Aeußerung und Wirkung ihrer Einheit und nothwendig begleitet von einer Steigerung ihres Einheitsgesühls. Nur das Natürliche und psychologisch Nothwendige ist es demnach, daß dieß Volk mit seiner Bekehrung oder nach derselben sich nicht auflösen wird in die übrigen Völker und an dieselben verlieren, sondern ein christliches Israel sein wird, wie es jetzt ein nichtchristliches ist. Eine Volksbekehrung Israels findet statt, und ein bekehrtes Volk Israel ist das Resultat.
3. Die Bekehrung Israels ist veranlaßt durch die Bekehrung der Heidenwelt. So sagt es V. 11 ausdrücklich. Daß die Heiden, die fern waren von den Testamenten der Verheißung, des Heils theilhaftig werden, das wird Israel reizen und nach der Erfahrung desselben Erbarmens begehren machen, das jenen widerfahren ist V. 31. Es wird sich verwirklichen was Luther sagt: daß es doch Eindruck auf Israel machen sollte, daß die Heiden, die doch sonst den Juden so feind find, an Jesum von Nazareth als an ihren Heiland glauben. Am Anfang der Kirche hat die Berufung und Bekehrung der Heiden auf Israel verstockend gewirkt, am Ende wird sie gewinnend wirken. Diese Wirkung wird unüberwindlich sein. — Hierdurch nun entscheidet sich die Frage, ob eine allmähliche Bekehrung Israels im Laufe der Geschichte der Heidenkirche vom Apostel geweissagt sei, oder eine solche die am Ende geschehen wird. Offenbar die letztere. Es muß den Heiden das Heil zu Theil geworden sein. So lange geschieht nur, was Paulus V. 14 sagt, daß „Etliche“ sich retten lassen, während im Gauzen die Zeit der Verstockung V. 25 noch fortdauert. Aus dem Gesagten erhellt auch, daß die viel verbreitete Ansicht falsch ist, als werde Israel durch die Wiederkunft des HErrn und bei derselben bekehrt werden. Vorher wird es geschehen. Ja Israels Bekehrung ist die Voraussetzung und Bedingung der Wiederkunft des HErrn, wie dieß Petrus Ap.-Gesch. 3, 19-21 ausdrücklich ausspricht. Israel muß bereitet sein, den Wiederkommenden zu begrüßen als seinen verheißenen König. Wenn hier die Bekehrung der Heiden als das Mittel genannt wird, welches Israel zur Erkenntniß bringen soll, so ist damit natürlich das andere, was ja schriftgemäß ist, nicht ausgeschlossen, daß die Leiden seiner römischen Gefängniß, wie es Luther nennt, dazu dienen sollen das felsenharte Herz dieses Volkes weich zu machen. — Im Bisherigen ist bereits die Antwort auf die nächste Frage nach dem Wann? enthalten.
4. Das Volk Israel wird sich bekehren, wenn die Gesammtheit der Heidenvölker christlich geworden sein wird. Israels Fall ist nach V. 12 einer Welt Reichthum, also muß er einer Welt, d. h. nicht bloß vielen, sondern der ganzen Welt zu Gute kommen, zu Gute gekommen sein, ehe Israels Wiederannahme ihr — in anderer Weise — zu Gute kommt. Dieß ist noch bestimmter ausgesprochen V. 25: die theilweise Verstockung Israels soll währen, bis (nicht: während) die Fülle der Heiden eingegangen sein wird. Die Fülle ist, wie wir oben sahen, die Bollzahl, also die Gesammtheit. Nicht darf man es so verstehen, als sei nur von einer bestimmten, beschränkten Zahl Einzelner die Rede, die voll werden müsse, ehe Israel sich bekehrt (so Olshausen); denn es ist nicht von Einzelnen die Rede, sondern von der Heidenwelt. Die Gesammtheit der Heidenvölker — so viele ihrer nämlich bestimmt find das Ende zu erleben und nicht vorher wegsterben, wie z. B. die Indianer Nordamerika’s — soll christlich werden. So lange es also noch Raum gibt für Heidenmission, so lange noch nicht die Enden der Erde auch die Grenzen der Kirche geworden sein werden, so lange ist die Dolksbekehrung Israels noch nicht zu erwarten; so lauge wird es vielmehr so fortgehen wie es Paulus begonnen und wie die Ap.-Kesch. schließt, daß die Predigt des Heidenapostels von der freien Gnade Gottes in Christo, verkündigt von einer Kirche, welcher zwar die Hände gebunden sind und welche unter staatliche Aufsicht gestellt ist, welche aber doch das Wort ihres Mundes frei hat, durch die Welt der Heiden hindurch geht, in der Periode des römischen Weltreichs. Diese Aussicht, vor deren Kühnheit die Gedanken des Apostels nicht zurückschreckten, sollten wir nicht für so abentheuerlich oder unabsehbar halten, wie es Viele thun mögen. Zwar wird jenes Ziel schwerlich durch die Thätigkeit der Mission allein erreicht werden. Wenigstens wüßte diese ein ganz anderes Leben und Gestalt gewinnen, müßte es vor Allem mit der Kirche der Heimat ganz anders werden. Aber Jesus sitzt zur Rechten des Vaters auf dem Weltthron; so ist also die göttliche Weltregierung in seinen Dienst gestellt. Die geschichtlichen Verhältnisse, die politischen Constellationen werden jenes Ziel herbeiführen helfen. Es darf z. B. nur dahin kommen, daß sich Rußland und England in den Besitz Asiens theilen, so wird auch die Herrschaft des Christenthums in diesem Erdtheil die unausbleibliche Folge sein. Mehr und mehr wird die ganze Erde in den Kreis des Völkerverkehrs hineingezogen. Da halten auch die heidnischen Religionen nicht auf die Dauer Stand. Wie jene Hoffnung sich erfüllen werde, wußte der Apostel nicht; daß sie es werde, war ihm gewiß. Uns ist es vergönnt, die geschichtliche Möglichkeit und die Wege der Erfüllung mit Augen zu sehen. Warum sollten wir weniger Glauben an jenes Ziel haben als er? Diese Hoffnung aber ist nicht ein Ruhekissen der Trägheit und eine Beruhigung des trägen Knechts, der den Herrn so bald nicht glaubt erwarten zu müssen. Vielmehr ist die Größe des Ziels der schärfste Sporn angestrengtester Arbeit. Nicht bloß einzelne wenige Seelen zu erretten gilt es, sondern die Völker christlich zu machen.
Es kann nicht Ruhe werden
Bis seine Liebe siegt.
Bis dieser Kreis der Erden
Zu seinen Füßen liegt.
Da versteht sich denn von selbst, daß viel äußres Christenthum herrschen wird. Wie könnte es sonst auch zu dem großen Abfall kommen, von welchem Paulus 2 Thess. 2, 3 weissagt, und welcher die Voraussetzung des Antichrist und seiner Weltherrschaft ist? Aber der Apostel sagt auch nicht, daß Alle wahre Christen werden würden. „Bis die Fülle der Heiden eingegangen sein wird“ — dahin nämlich, wohin einzugehn sie begonnen haben und auf dem Wege find, und wohin einzugehn Israel sich jetzt weigert, nämlich in die Kirche, in diese Gegenwart des Reiches Gottes, und nicht, wie die Irvingianer dieß Wort mißdeuten im Dienst ihrer falschen Lehre: in die Vollendung. Die Irvingianer finden nämlich hier ihre „Entrückung“, welche alle Tage geschehen könne, weil der Abfall schon gegenwärtig, der Antichrist vielleicht schon — nur noch ungekannt— vorhanden sei, vor dessen völliger Offenbarung die Würdigender Heidenchristen werden zu Christo entrückt werden und mit ihm im Himmel, im Verklärungsstand, herrschen, während aus Erden Israel fich bekehren und nach der Vertilgung des Antichrist im höheren irdischen Segensstande stehen werde. Das ist Alles irrig. Nicht von einem Eingehn in den Himmel, sondern in die Kirche redet der Apostel.
„Und so“ — d. h. wenn dieß die Lage der Dinge sein wird, wenn die Heidenwelt in die Kirche eingegangen sein wird — wird das Bolksganze Israels des Heils in Christo theilhaftig werden.
Welches wird die Folge dieser Thatsache sein für den Fortgang der Geschichte des Reiches Gottes?
5. Die Folge der Volksbekehrung Israels wird die — durch die Parufie Christi bedingte — Todtenerweckung und Verklärung der Gemeinde sein.
Daß eine solche Thatsache wie die Bekehrung Israels nicht ohne Folgen für den Fortgang der Heilsgeschichte sein werde, ist von vornherein zu erwarten. Wird ja doch auch diese Hoffnung vom Apostel V. 2 nicht bloß mit dem allgemeinen Erbarmen Gottes begründet, sondern vielmehr damit, daß Israel das Volk der Wahl ist. Dieß bleibt es V. 16, denn Gott nimmt die Erwählung nicht zurück V. 29. Wenn sich also Israel bekehrt, so ist das nicht eine Bekehrung wie irgend eines andern Volks, sondern die Bekehrung des erwählten Volks. Alle andern Völker haben nur kirchengeschichtlichen Beruf, Israel ist das Volk des heilsgeschichtlichen Berufs. Darum theilt die Schrift die Menschheit ein in Israel und die Völker — eine Eintheilung, die außerdem wegen der Ungleichheit der beiden Hälften die wunderlichste von der Welt wäre. Ist es aber das Volk des heilsgeschichtlichen Berufs das sich bekehrt, so wird diese Thatsache Folgen haben nicht bloß für die Kirchengeschichte; sondern die Heilsgeschichte, welche seit dem Schluß der apostolischen Zeit stille steht, wird einen Schritt vorwärts thun. Die Erfüllung der neutestamentlichen Weissagungen wird beginnen und sich anschließen an die Heilsgeschichte, deren Bericht im N. T. niedergelegt ist.
Welcher Art nun dieser Fortschritt sein werde, deutet der Apostel nur an, weil dieß auszuführen nicht zu seiner Aufgabe gehört, die er sich hier gestellt hatte. Aber es wird seine Meinung aus der kurzen Andeutung erkannt werden können. „Wenn aber ihr Fall einer Welt Reichthum — heißt es V. 12 und 15 — und ihre Minderung Heiden ein Reichthum, wie viel mehr ihr Vollbestand? denn wenn ihre Wegwerfung einer Welt Versöhnung, was ihre Annahme wenn nicht Leben von Todten?“ Der Gedanke ist im Allgemeinen offenbar: wenn schon ihr Fall der Welt zum Segen gereicht hat, wie viel mehr wird ihre Bekehrung und Wiederannahme von Seiten Gottes zum Segen gereichen. Es ist eine Steigerung. Der zweite Segen muß ein größerer, reicherer sein als der erste. Der erste Segen wird bezeichnet als Versöhnung. Das ist die Gnadengemeinschaft, deren wir uns jetzt erfreuen. Was wird, was kann das Höhere, Neue sein? Gewiß nicht bloß summum gaudium (Grot.), Heilszustand überhaupt. So deutet man’s gewöhnlich. Selbst Es- chatalogen, wie Bengel, Hebart und Auberlen, nennen die zwei Stücke: die Bekehrung der ganzen Menschheit und charismatische Belebung der Kirche. Geistesgaben wie in der apostolischen Zeit — so führt es Auberlen aus — werden ausgegossen werden; eine Zeit der Liturgie wird es dann sein, während jetzt der Predigt; die Heiden werden kommen, mit Lust; Friede wird herrschen auf Erden, auch in der Thierwelt (vgl. Jes. 11, 11 f. und ähnl.); der Tod wird machtloser sein, das Leben wieder langdauernd wie in der Urzeit; Hundertjährige werden Knaben heißen u. s. w. Das ist das Leben aus den Todten, die Palingenesie, von der auch Christus redet. Und Tholuck gibt Auberlen Beifall, und erinnert an die heilsame Einwirkung bekehrter Juden auf die Kirche zu allen Zeiten, auch in der neueren. Philippi aber deutet es ebenfalls von der extensiven Ausbreitung unter der Heidenwelt die sich vollenden werde, und von der Neubelebung der erstorbenen Christenheit, welche eine herrliche Blüthezeit der Kirche Christi zur Folge haben werde.
Aber beide Stücke, aus denen das „Leben von Todten“ bestehen soll, muß ich für irrig halten. Denn“was das erste anlangt, die allgemeine Bekehrung, so ist diese ja schon vorher geschehen. Wenn doch nach Philippi der Ausfall, den das Reich Gottes an den Juden erlitten, schon durch die Heiden gedeckt und dann noch ein Supplement gewonnen ist durch die Bekehrung der Juden, was will da jetzt wieder eine Heidenbekehrung? Haben wir im Vorhergehenden den Apostel richtig verstanden, daß die Bekehrung Israels die Chri- stianifirung der Welt zur Voraussetzung hat, so kann selbstverständlich Israels Bekehrung nicht eine Zeit der Mission eröffnen. Das Andere aber ist kein Fortschritt über die Gnadengemeinschaft in der wir jetzt stehen hinaus. Denn ob er 70 oder 700 Jahre alt wird, ist für den Christen ziemlich gleichgültig. So lange der Tod noch Macht hat, mag er nun früher kommen oder später, ist im Wesentlichen noch der gegenwärtige Stand der Dinge, so lange ist kein wesentlich Neues gewonnen. Und wie soll das vom Apostel „Leben von Todten“ genannt werden können? Darunter hat er nicht bloß eine Blüthezeit der Kirche, eine geistliche Neubelebung, eine Zeit der Liturgie oder eine kirchengeschichtliche Auferstehung, wie Martensen sagt, d. i. eine Auferstehung früherer Gaben und Kräfte und dergl. verstanden, sondern er meint sein Wort wie es lautet.
Und warum sollten wir es nicht nehmen wie es lautet? Von Alters her hat man dieß Wort von Todtenauferstehung verstanden. Zu dieser Erklärung sind aus philologischen Gründen Fritzsche und Meyer, aus Gründen der Tradition Reithmayr zurückgekehrt. In der Sache stimme ich bei, aber ich glaube sie etwas anders gewinnen und fassen zu müssen. „Leben aus Todten“ ist nicht ohne Weiteres: Belebung Todter, d. i. Todtenauferweckung. Wenigstens wäre es sehr undeutlich ausgedrückt. Sondern es ist Leben das von Todten ausgeht. Paulus liebt solche scheinbare Widersprüche. Die Todten, von denen das Leben ausgeht, sind Israel das erstorbene. Das Leben das sie bringen ist der Fortschritt über die Gnadengemeinschaft hinaus, ist also nicht das neue inwendige geistliche Leben, sondern das neue leibliche Leben der Verklärung. Zweifach ist die Gestalt des Reiches Gottes auf Erden: innerlich jetzt, äußerlich zukünftig; jetzt ein Gnadenreich, einst ein Verklärungsreich; jetzt Versöhnung, einst Leben. Versöhnungsgnade brachten der Welt zu Wege die, welche der Gnade Gottes entfielen; das Leben werden ihr zuwege bringen die, welche dem Tode verfallen sind. Diese Zukunft des Reiches Gottes ist der rechte Fortschritt über die Gegenwart des Reiches Gottes hinaus. Dieses Neue ist bedingt durch die Wiederkunft Jesu Christi. So ist es auch geweissagt Ap.-Gesch. 3, 19 ff. Das ist die selige Folge der Bekehrung Israels. Denn wenn der HErr kommt, will er zu Israel kommen. Aber nicht eher werden sie ihn wiedersehn als bis sie rufen: Gelobt sei der da kommt im Namen des HErrn!
Wunderbar sind die Wege Gottes. Israel hat aufgehört der Boden des Reiches Gottes zu sein, damit es die Völkerwelt werde. Aber eben das wird Israel reizen. Was es am Anfang verschmäht, wird es am Ende mit großem Eifer begehren. Aus dem ersten Volke ist es zum letzten geworden. Aber auch als letztes bleibt es das Volk des heilsgeschichtlichen Berufs. Während in der Völkerwelt der große Abfall stattfindet, wird die Kirche des Endes in Israel bewahrt und hindurch gerettet in den 144000 Versiegelten (Offenb. Joh. 7). Wenn die Bedrängniß der Gemeinde zum Aeußersten gestiegen, wird der HErr kommen und in Zion sich offenbaren. Da werden die Gläubigen alle zu ihm gesammelt, und so viele ihrer gestorben erweckt, um bei ihm zu sein in seinem Reiche.
O daß es bald anbräche!
Laßt uns mit dem Apostel unsern heidenapostolischen Beruf herrlich machen (V. 13), um ihrer Etliche zu reizen jetzt schon und die Zeit ihrer allgemeinen Bekehrung in der Zukunft zu beschleunigen, damit nahe was wir hoffen und ersehnen, der herrliche Advent des HErrn!
Quelle: Christoph Ernst Luthardt, Die Lehre von den letzten Dingen in Abhandlungen und Schriftauslegungen dargestellt, Leipzig: Dörffling und Franke, 21870, S. 106-123.