Hans-Georg Gadamers Erinnerungen an Paul Tillichs Zeit in Marburg (1924-1925): „Menschlich hat Tillich es eigentlich besser gemacht als wir. Meine Reserve gegenüber Tillich bezog sich auf seine intellektuelle »Leichtfüßigkeit«, auf seine Schnelligkeit, mit der er Positionen vari­ierte; er war ja ungeheuer schlagfertig, hatte eine hohe dialektische Gewandtheit, aber der ganze Stil seines Denkens war in meinen Augen formal.“

Erinnerungen an Paul Tillichs Zeit in Marburg (1924-1925)

Von Hans-Georg Gadamer

Tillich kam als Extraordinarius nach Marburg, das war wohl Ru­dolf Ottos Interesse zu verdanken. Zur gleichen Zeit lebte in Mar­burg Jakob Klein, der Tillich in Berlin kennengelernt hatte. Dann kam Tillich persönlich nach Marburg, und da muß ich etwas voraus­schicken: Wir, d. h. Karl Löwith, Gerhard Krüger und ich, waren die heranwachsende Privatdozenten-Generation und waren eigentlich ein hochmütiges kleines Volk; wir hatten unseren Heidegger, der uns alle faszinierte. Er war einfach etwas Gewaltiges und beeindruckte uns nicht zuletzt durch sein ungeheures Arbeitsethos. Und da war Tillich für uns das Gegenbeispiel, eines zwar genialischen Menschen, aber nicht auf soliden Fundamenten der Gelehrsamkeit gegründet.

Ich erinnere mich, daß wir eines Abends zusammenkamen, Klein, Krüger, ich und der junge Tillich. Klein war der Einladende. Die Ab­sicht war eigentlich, Tillich etwas »hochzunehmen«. Nun muß man von Tillich sagen, er inszenierte sich nicht, er war ungemein natür­lich, eine anima naturaliter americana. Da erzählte er folgendes; und das habe ich heute noch im Gedächtnis: »Ja wissen Sie, das war bei mir so: ich habe kolossal viel diskutiert und hatte für alles meine Schub­fächer, da habe ich dann den Schelling einfach herausgeholt.« Das war natürlich in den Augen der Heidegger-Schüler keine gute Empfeh­lung; denn das sah ja so aus, als ob man die Begriffe vorher hat, mit denen man an den Gegenstand herangeht, statt, vom Gegenstand aus­gehend, die Begriffe zu bilden.

Damals war »Kairos« das dritte Wort bei Tillich. Aufs Ganze ge­sehen stand er in Marburg unter dem Druck von Heidegger, den er vor allem durch die Studenten zu spüren bekam. Die meisten Studen­ten standen ganz unter Heideggers Einfluß.

Es gibt eine berühmte Geschichte, die Heidegger von Tillich er­zählte — sie ist etwas boshaft. Tillich habe ihn besucht und in seinem Studierzimmer die Augustin-Ausgabe gesehen und beim Anblick die­ser großen Bücherreihe ausgerufen; »So viel hat der geschrieben!«

Ich möchte denken, daß Tillich in Marburg nicht sehr glücklich war. Die theologische Fakultät war damals durch Bultmann, v. Soden und indirekt von Heidegger sehr stark bestimmt und sehr kritisch gegen­über der dialektischen Gewandtheit von Tillich.

Das eigentliche Problem, um das es damals ging, war, wie man die große Überlieferung einordnen solle. Wir Heidegger-Schüler fanden Tillichs Art viel zu wenig fundiert in wirklicher Forschung, und ich muß sagen, daß uns Tillich in gewisser Weise später recht gegeben hat. Trotzdem waren wir ihm freundschaftlich gesonnen, er war ja sehr charmant, und man konnte ihm nicht böse sein. Die Wärme und die ungeheure Gutmütigkeit von Tillich verhinderten, daß unsere klei­nen Frechheiten die Atmosphäre trübten. Ich denke an den erwähnten Abend bei Klein zurück mit dem Gefühl: Menschlich hat Tillich es eigentlich besser gemacht als wir.

Meine Reserve gegenüber Tillich bezog sich auf seine intellektuelle »Leichtfüßigkeit«, auf seine Schnelligkeit, mit der er Positionen vari­ierte; er war ja ungeheuer schlagfertig, hatte eine hohe dialektische Gewandtheit, aber der ganze Stil seines Denkens war in meinen Augen formal.

Mein Eindruck von ihm änderte sich erst 1948, als er bei den hessi­schen Ferienkursen, die in Marburg abgehalten und von mir arran­giert wurden, mitwirkte. Ich sah, welche innere Reifung in ihm vor sich gegangen war. Sie bestand darin, daß er viel aufmerksamer für andere geworden war. Er konnte auf einmal zuhören. Das konnte er früher nicht. Da ließ er sich mehr oder weniger Stichworte geben, und dann verlockte ihn die brillante Antwort.

Wir haben damals zum ersten Mal einen wirklich guten inneren Kontakt gehabt. Als ich in Marburg bei den Kursen war, traten die Studenten an mich heran und fragten, ob Tillich und ich nicht einmal über Heideggers eben erschienenen »Humanismusbrief« diskutieren wollten. Ich nahm die Anregung gern auf und ließ Tillich den Vor­tritt; er hielt das erste Referat und ich das zweite. Zu unserer Über­raschung erschien nicht ein kleiner Kreis Interessierter, sondern 1000 Studenten, die das »Audimax« bis auf den letzten Platz füllten. Es war ein großes Ereignis für Marburg, das damals seit Kant und außer Kant keine Philosophie kannte. Ich erinnere mich genau, wie Tillich sagte, im Hintergrund von Heidegger stünde die Franziskanische Lichttheorie; im übrigen äußerte er sich mit großem Respekt. Mein Eindruck von Tillichs eigenen Vorträgen war, als ob er zu große Ge­wichte mit einem kleinen magischen Finger bewegte. Aber was einen gewann, war sein naturhafter Optimismus! Er war ungeheuer positiv, nicht, daß er das Negative übersah, aber er suchte überall das Positive: The courage to be! Das war kein peripherer, sondern ein ganz tiefer Optimismus. Der strahlte so aus ihm, daß ich seine Erfolge in Amerika begriff. — Das ist meine Geschichte mit Tillich!

Quelle: Paul Tillich. Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, hrsg. v. Renate Albrecht u. Margot Hahl, Stuttgart-Frankfurt a.M.: Evangelisches Verlagswerk, 1980, S. 165-167.

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