Die theologische Botschaft beim Propheten Joël
Von Alfons Deissler
In Kap. 1 erweist sich Joël als Prophet von seltener dichterischer Kraft, vorab in der Schilderung des »Panoramas der Not«. Doch stellt er sich zugleich ganz in die Überlieferungskette der prophetischen Offenbarung. Wie Amos in 7,1-3 eine Heuschreckenplage als Gerichtswerkzeug JHWHs an Israel bezeugt, so interpretiert er die furchtbare Katastrophe zu seiner Zeit als Strafurteil JHWHs, in welchem sich ein noch größeres ansagt: der kommende Tag JHWHs, der zunächst »nicht Licht, sondern Finsternis« (vgl. Am 5,18) für die JHWH-Gemeinde sein wird. Dabei formuliert er gerade diese Hauptansage seiner Verkündigung im zitierenden Rückgriff auf die eschatologischen Aussagen vorn »Tag JHWHs« in Ez 30,2f und Jes 13,6. Die Schuld der Gemeinde benennt er nicht ausdrücklich, sondern setzt sie implizite voraus (vgl. 2,12-13). Sie ist im übrigen durch seine prophetischen Vorgänger vielfältig und zur Genüge aufgedeckt. Deren Opfer- und Fastenkritik (vgl. Jes 1,11; Am 5,21-27; Hos 6,6 Sach 7,4-10; Jes 58) ist anscheinend in seiner Epoche nicht aktuell bzw. er interpretiert sie mit Recht nicht im Sinne einer Abschaffung kultischer Begehungen überhaupt. Doch gehört gerade Joël trotz seiner Kultnähe nicht zu jenen »theokratischen« Kreisen der Jerusalemer Kultgemeinde, welche den gereinigten nachexilischen Kult bereits als das fundamentale endzeitliche Heilsgut ansehen. Für ihn – darin ist er ein ausgesprochener »Prophetenjünger« – steht das Eschaton als Endgültiges noch bevor. – Joël 1 ist nur scheinbar ein rein zeitgebundener Text. Er leitet in jedem Fall alle Glaubenden dazu an, auf »die Zeichen der Zeit« zu achten. In allen großen Katastrophen sagen sich die »Wehen des Letzten Tages« an. Damit er nicht zum absoluten Gericht werde, ist Umkehr und Buße im Sinne Joëls (vgl. Lk 3,7f) der letztlich von Gott selbst angeratene Weg.
Zur theologischen Botschaft von Kapitel 2
In diesem großen Textgefüge, das sich trotz all seiner Originalität ganz einfügt in die mündlich und vorab schriftlich überkommenen Traditionen Israels, gewinnen folgende Themen ein besonderes theologisches Profil:
1. JHWH ist der Allwaltende in Natur und Geschichte. Er umgreift also auch alle kosmischen Abläufe und bezieht sie in seine »Heilsgeschichte« ein. Der Zusammenhang mit ihr – und damit die »Sinnrichtung« – kann allerdings jeweils nur durch von Gott bevollmächtigte prophetische Interpretation aus dem Geheimnis ans Licht treten. So sehr im modernen Bewußtsein die innerweltlichen Ursachenketten (rechtens) im Vordergrund stehen, so wenig darf vom Gläubigen der geheimnisvolle Hintergrund des göttlichen Umgriffs allen Geschehens übersehen werden. Alle Wissenschaft erhellt ja das Seinsganze nur sektoral.
2. Gottes Walten ist personal und darum souverän. Ein absoluter Determinismus ist vor der prophetischen Offenbarung, für die Joël einsteht, unhaltbar. Auf die absolute Zukunft hin, die ganz Gottes ist, gibt es, was die Wege angeht, relative »Offenheiten«. Nach dem Zeugnis Joëls und aller Propheten kann menschliche Umkehr die Umkehrung göttlicher Androhungen veranlassen (2,13f.18ff.25ff), weil der Gott des Bundes seinem Verfügen und Walten diese Möglichkeit gnädig eingestiftet hat.
3. Seinem innersten Sinnen nach will JHWH vorab ein Gott der Gnade und nicht des Gerichtes sein und letzteres zuvörderst als Stimulus zur Umkehr einsetzen. Um diese Umkehr zu bewirken, scheut JHWH sich aber nicht, in eigener Person die gewaltige Feindmacht gegen Jerusalem anzuführen (2,11.25), wiewohl er selbst »auf dem Zion wohnt« (vgl. 4,17.21; Ps 9,12; Jes 8,18 u. a.). Ob diese »Paradoxie Gottes« in Israel und in der Kirche genug bedacht wurde und wird? Solches Bedenken könnte eine »Umkehr« in der Interpretation kirchengeschichtlicher Katastrophen und damit eine »Einkehr« auch der Kirche in Gang bringen.
4. Der »Tag JHWHs«, der bei Joël endzeitliche Konturen erhält, hat seine »Vorzeichen« und »Vorboten«. Das hat seine Grundlage schon darin, daß der Begriff selbst außerhalb Joëls auch auf die große Katastrophe von 587 (Eroberung Jerusalems, Zerstörung des Tempels, Exil) Anwendung finden konnte (vgl. Ez 13,5; 34,12; Klgl 1,12; 2,22). Bei Joël ist die größte Heuschreckenplage seit Menschengedenken sowohl Gleichnis wie Auftakt des eschatologischen »Tages JHWHs«. Diese Sicht hat Offb 9 direkt beeinflußt (vgl. 9,3.7.9). Ein Echo vom joëlischen Thema der »Vorzeichen« finden wir in Mk 13 (Rede über die Endzeit).
5. Das Priesteramt erschöpft sich auch beim kultnahen Propheten Joël nicht im Opferdienst, der für ihn übrigens Gabe des Bundesgottes ist (2,14); die Priester haben auch das Gotteswort zu vermitteln und sind die gottbestellten Fürbitter für die Gemeinde (vgl. 2,15-17).
6. Die »Umkehr des Herzens« ist Joëls betontes Anliegen (2,12), so sehr diese sich dann in Riten und Begehungen »verleiblichen« soll. Mit dieser »Verinnerlichung« der Religion nimmt Joël ein durchgehendes Thema der prophetischen Verkündigung auf und bereitet damit auf seine Weise die Predigt Jesu vor (vgl. Mt 15,8.18f u.a.).
7. Das »Erkennen JHWHs als des Alleinigen und Einzigen« (2,27), d.h. das endgültige Erfahren der Zuwendung JHWHs als einziger wirklicher Lebensfülle (vgl. Hos 2,22) ist Zukunft und Ziel aller »Heilsgeschichte«.
Zur theologischen Botschaft von 3,1-5
1. Die »Geistausgießung«, welche nach Joël die Endzeit eröffnet und sich vorab in der Gottunmittelbarkeit aller Glieder des Gottesvolkes auswirkt, trifft sich in dieser Zielsetzung in etwa mit Jer 31,34 (alle werden ohne Vermittler JHWH erkennen) und Ez 36,26f (neues Herz und neuer Geist zur Einung von göttlichem und menschlichem Willen). Die Petruspredigt von Apg 2,17-21 nimmt Joël 3,1-5 vollständig auf und versteht von daher das Pfingstereignis (im »sensus plenior« universal gedeutet). Auch wo das NT vom Heiligen Geist als dem Prinzip der Verbundenheit mit dem Christus und mit Gott spricht (vgl. z.B. Joh 7,37-39; Röm 5,5; 8,23-26; 1 Kor 6,11; Tit 3,5-7 u.a.), hat diese Sicht in Joël 3,1f ein atl. Fundament. Das Thema von der Aufhebung aller Unterschiede der Glieder im Gottesvolk findet seine große Bestätigung in Gal 3,28 (»nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau«), Freilich ist der Horizont sowohl von Joël 3,1f wie von Gal 3,28 »eschatologisch«. Erst die Endzeit wird die Voll-Erfüllung bringen. Doch enthebt dies das neutestamentliche Gottesvolk nicht der Anstrengung, ein Vorausbild dieser »Geistkirche« zu werden.
2. Die »kosmologische« Ausweitung der prophetischen Gerichtsansagen markiert den Übergang von der Prophetie zur Apokalyptik (vgl. Jes 24,17-23; 65,17; 66,22; 4 Esra u.a.), sagt aber nicht das Ende dieses Kosmos schlechthin an. Sie findet ihr sie überbietendes »Echo« u.a. in der apokalyptischen Gerichtspredigt von Mk 13,24 (vgl. Mt 24,29; Lk 21,25); Hebr 12,26; 2 Petr 3,8-13; Offb 6,12-14; 20,11; 21,1.
3. In der »Rettung auf dem Berg Zion« (vgl. Obd 17) werden die atl. Zionszusagen untermauert. Das NT hat sie nicht mehr lokal gedeutet, wohl aber ihre innere Gerichtetheit auf ein endzeitliches »Heilszentrum« aufgedeckt (vgl. Gal 4,26; Hebr 12,22-24; Offb 3,12; 14,1).
Zur theologischen Bedeutung von Kapitel 4
In Kap. 4 erreicht die Tag-JHWH-Ankündigung Joëls ihren Höhe- und Endpunkt. Zwar stimmt 4,14 darin mit 1,15 überein, daß der »Tag JHWHs« als nahe bezeichnet wird. Doch zeigt die Formel jetzt direkt auf den Anbruch des Endgerichtes hin. Ihr Kontext ist ja die durch göttliches Aufgebot bewirkte Völkerversammlung im Tale »Joschafat« als dem endzeitlichen Gerichts- Schauplatz. Anscheinend ist dabei Jerusalem bzw. der Tempel als »Thron« für das große JHWH-Gericht vorgestellt. Der »Tag JHWHs«, der in Kap. 1 und 2 gewissermaßen wie ein Damoklesschwert auch über Juda und Jerusalem hing, durch Buße und Umkehr dann aber abgewendet wurde, meint nunmehr jenen endgültigen Eingriff Gottes in die Geschichte, der Israel Gnade und Heil, den Unterdrückervölkern jedoch Gericht und Unheil zuteilt. Dieser »Doppelaspekt« des JHWH-Tages verbindet also formal die altisraelitische (durch Am 5,18 bezeugte) Heilserwartung mit der Unheilsbotschaft der vorexilischen und exilischen Prophetie bezüglich des Tages JHWHs (vgl. Am 5,8; Jes 2,11ff; Zef 1,7.14-18; Ez 30,2f), dies allerdings in einer letztlich die älteren Vorstellungen modifizierenden Weise: Israel kann sich durch Umkehr dem allgemeinen Völkergericht entziehen und Jerusalem-Zion wird ein für allemal vom Zugriff der Feindmächte durch deren Vernichtung verschont und zugleich für immer die Wohnstätte JHWHs (4,17). Hierin meldet sich die beginnende apokalyptische Geschichtsdeutung an, die wir auch in Sach 12-14 und in der »großen Jesaja-Apokalypse« (24-27) antreffen. In den authentischen Stücken von Joël bleibt dabei JHWH der einzig Waltende und Handelnde (vgl. die Gottessprüche im Ich-Stil); in den Ergänzungen 4,4-8.19 wird dagegen wie in Obd 15-21 Israel mitbeteiligt an der Niederringung der Feindvölker (Ägypten und Edom).
Joël 4,13 hat in Offb 14,14-20 (»Stunde der Ernte«) als Basistext gedient, und andere Verse des Kapitels haben in Mt 23,35; 24,29; Offb 6,12f; 11,8 ihr vernehmliches Echo gefunden. Trotz seines spezifisch jüdischen apokalyptischen Kolorits bleibt Joël 4 auch für die Christenheit von Bedeutung: Die Kirche Jesu Christi darf mit Israel hoffen auf einen endgültigen Sieg Gottes über alle Mächte des Bösen, welche den jetzigen Äon bestimmen. Die allerletzte Entscheidung – das Tal Joschafat meint mehr als einen Ort – ist Gottes als des Herrn der Geschichte. Dem Christen wird dies zur besonderen Gewißheit, weil er im Glauben diese Entscheidung als im Kreuz und in der Erhöhung Jesu Christi prinzipiell bereits gefällt erkennen kann.
Quelle: Alfons Deissler, Zwölf Propheten 1: Hosea, Joël, Amos, NEB 4, Würzburg: Echter, 1981, 72-87.