Alfons Deissler, Die theologische Botschaft beim Propheten Joël (1981): „Die »Umkehr des Herzens« ist Joëls betontes Anliegen, so sehr diese sich dann in Riten und Bege­hungen »verleiblichen« soll. Mit die­ser »Verinnerlichung« der Religion nimmt Joël ein durchgehendes Thema der prophetischen Verkündi­gung auf und bereitet damit auf seine Weise die Predigt Jesu vor.“

Die theologische Botschaft beim Propheten Joël

Von Alfons Deissler

In Kap. 1 erweist sich Joël als Pro­phet von seltener dichterischer Kraft, vorab in der Schilderung des »Pan­oramas der Not«. Doch stellt er sich zugleich ganz in die Überlieferungs­kette der prophetischen Offenba­rung. Wie Amos in 7,1-3 eine Heu­schreckenplage als Gerichtswerk­zeug JHWHs an Israel bezeugt, so in­terpretiert er die furchtbare Kata­strophe zu seiner Zeit als Strafurteil JHWHs, in welchem sich ein noch größeres ansagt: der kommende Tag JHWHs, der zunächst »nicht Licht, sondern Finsternis« (vgl. Am 5,18) für die JHWH-Gemeinde sein wird. Dabei formuliert er gerade diese Hauptansage seiner Verkündigung im zitie­renden Rückgriff auf die eschatologischen Aussagen vorn »Tag JHWHs« in Ez 30,2f und Jes 13,6. Die Schuld der Gemeinde benennt er nicht aus­drücklich, sondern setzt sie implizite voraus (vgl. 2,12-13). Sie ist im übrigen durch seine prophetischen Vorgän­ger vielfältig und zur Genüge aufge­deckt. Deren Opfer- und Fastenkri­tik (vgl. Jes 1,11; Am 5,21-27; Hos 6,6 Sach 7,4-10; Jes 58) ist anscheinend in seiner Epoche nicht aktuell bzw. er inter­pretiert sie mit Recht nicht im Sinne einer Abschaffung kultischer Bege­hungen überhaupt. Doch gehört ge­rade Joël trotz seiner Kultnähe nicht zu jenen »theokratischen« Kreisen der Jerusalemer Kultgemeinde, wel­che den gereinigten nachexilischen Kult bereits als das fundamentale endzeitliche Heilsgut ansehen. Für ihn – darin ist er ein ausgesproche­ner »Prophetenjünger« – steht das Eschaton als Endgültiges noch be­vor. – Joël 1 ist nur scheinbar ein rein zeitgebundener Text. Er leitet in jedem Fall alle Glaubenden dazu an, auf »die Zeichen der Zeit« zu ach­ten. In allen großen Katastrophen sagen sich die »Wehen des Letzten Tages« an. Damit er nicht zum abso­luten Gericht werde, ist Umkehr und Buße im Sinne Joëls (vgl. Lk 3,7f) der letztlich von Gott selbst angeratene Weg.

Zur theologischen Botschaft von Kapitel 2

In diesem großen Textge­füge, das sich trotz all seiner Origi­nalität ganz einfügt in die mündlich und vorab schriftlich überkommenen Traditionen Israels, gewinnen fol­gende Themen ein besonderes theo­logisches Profil:

1. JHWH ist der Allwaltende in Na­tur und Geschichte. Er umgreift also auch alle kosmischen Abläufe und bezieht sie in seine »Heilsgeschichte« ein. Der Zusammenhang mit ihr – und damit die »Sinnrichtung« – kann allerdings jeweils nur durch von Gott bevollmächtigte prophetische Inter­pretation aus dem Geheimnis ans Licht treten. So sehr im modernen Bewußtsein die innerweltlichen Ur­sachenketten (rechtens) im Vorder­grund stehen, so wenig darf vom Gläubigen der geheimnisvolle Hin­tergrund des göttlichen Umgriffs al­len Geschehens übersehen werden. Alle Wissenschaft erhellt ja das Seinsganze nur sektoral.

2. Gottes Walten ist personal und darum souverän. Ein absoluter De­terminismus ist vor der propheti­schen Offenbarung, für die Joël ein­steht, unhaltbar. Auf die absolute Zukunft hin, die ganz Gottes ist, gibt es, was die Wege angeht, relative »Offenheiten«. Nach dem Zeugnis Jo­ëls und aller Propheten kann menschliche Umkehr die Umkeh­rung göttlicher Androhungen veran­lassen (2,13f.18ff.25ff), weil der Gott des Bundes seinem Verfügen und Wal­ten diese Möglichkeit gnädig eingestiftet hat.

3. Seinem innersten Sinnen nach will JHWH vorab ein Gott der Gnade und nicht des Gerichtes sein und letzteres zuvörderst als Stimulus zur Umkehr einsetzen. Um diese Umkehr zu bewirken, scheut JHWH sich aber nicht, in eige­ner Person die gewaltige Feindmacht gegen Jerusalem anzuführen (2,11.25), wiewohl er selbst »auf dem Zion wohnt« (vgl. 4,17.21; Ps 9,12; Jes 8,18 u. a.). Ob diese »Paradoxie Gottes« in Is­rael und in der Kirche genug be­dacht wurde und wird? Solches Be­denken könnte eine »Umkehr« in der Interpreta­tion kirchengeschicht­licher Katastrophen und damit eine »Einkehr« auch der Kirche in Gang bringen.

4. Der »Tag JHWHs«, der bei Joël endzeitliche Konturen erhält, hat seine »Vorzeichen« und »Vorboten«. Das hat seine Grundlage schon darin, daß der Begriff selbst außer­halb Joëls auch auf die große Kata­strophe von 587 (Eroberung Jerusa­lems, Zerstörung des Tempels, Exil) Anwendung finden konnte (vgl. Ez 13,5; 34,12; Klgl 1,12; 2,22). Bei Joël ist die größte Heuschreckenplage seit Menschengedenken sowohl Gleich­nis wie Auftakt des eschatologischen »Tages JHWHs«. Diese Sicht hat Offb 9 direkt beeinflußt (vgl. 9,3.7.9). Ein Echo vom joëli­schen Thema der »Vorzeichen« finden wir in Mk 13 (Rede über die Endzeit).

5. Das Priesteramt erschöpft sich auch beim kultnahen Propheten Joël nicht im Opferdienst, der für ihn üb­rigens Gabe des Bundesgottes ist (2,14); die Priester haben auch das Gotteswort zu vermitteln und sind die gottbestellten Fürbitter für die Gemeinde (vgl. 2,15-17).

6. Die »Umkehr des Herzens« ist Joëls betontes Anliegen (2,12), so sehr diese sich dann in Riten und Bege­hungen »verleiblichen« soll. Mit die­ser »Verinnerlichung« der Religion nimmt Joël ein durchgehendes Thema der prophetischen Verkündi­gung auf und bereitet damit auf seine Weise die Predigt Jesu vor (vgl. Mt 15,8.18f u.a.).

7. Das »Erkennen JHWHs als des Al­leinigen und Einzigen« (2,27), d.h. das endgültige Erfahren der Zuwen­dung JHWHs als einziger wirklicher Lebensfülle (vgl. Hos 2,22) ist Zu­kunft und Ziel aller »Heilsge­schichte«.

Zur theologischen Botschaft von 3,1-5

1. Die »Geistausgießung«, welche nach Joël die Endzeit eröffnet und sich vorab in der Gottunmittelbarkeit aller Glieder des Gottesvolkes aus­wirkt, trifft sich in dieser Zielsetzung in etwa mit Jer 31,34 (alle werden ohne Vermittler JHWH erkennen) und Ez 36,26f (neues Herz und neuer Geist zur Einung von göttlichem und menschlichem Willen). Die Petruspredigt von Apg 2,17-21 nimmt Joël 3,1-5 vollständig auf und versteht von daher das Pfingstereignis (im »sensus plenior« universal gedeutet). Auch wo das NT vom Heiligen Geist als dem Prinzip der Verbundenheit mit dem Christus und mit Gott spricht (vgl. z.B. Joh 7,37-39; Röm 5,5; 8,23-26; 1 Kor 6,11; Tit 3,5-7 u.a.), hat diese Sicht in Joël 3,1f ein atl. Fundament. Das Thema von der Aufhebung aller Unterschiede der Glieder im Gottes­volk findet seine große Bestätigung in Gal 3,28 (»nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau«), Freilich ist der Horizont sowohl von Joël 3,1f wie von Gal 3,28 »eschatologisch«. Erst die Endzeit wird die Voll-Erfüllung bringen. Doch enthebt dies das neutestamentliche Gottesvolk nicht der Anstrengung, ein Vorausbild dieser »Geistkirche« zu werden.

2. Die »kosmologische« Ausweitung der prophetischen Gerichtsansagen markiert den Übergang von der Pro­phetie zur Apokalyptik (vgl. Jes 24,17-23; 65,17; 66,22; 4 Esra u.a.), sagt aber nicht das Ende dieses Kosmos schlechthin an. Sie findet ihr sie überbietendes »Echo« u.a. in der apokalyptischen Gerichtspredigt von Mk 13,24 (vgl. Mt 24,29; Lk 21,25); Hebr 12,26; 2 Petr 3,8-13; Offb 6,12-14; 20,11; 21,1.

3. In der »Rettung auf dem Berg Zion« (vgl. Obd 17) werden die atl. Zionszusagen untermauert. Das NT hat sie nicht mehr lokal gedeutet, wohl aber ihre innere Gerichtetheit auf ein endzeitliches »Heilszentrum« aufgedeckt (vgl. Gal 4,26; Hebr 12,22-24; Offb 3,12; 14,1).

Zur theologischen Bedeutung von Kapitel 4

In Kap. 4 erreicht die Tag-JHWH-Ankündigung Joëls ihren Höhe- und Endpunkt. Zwar stimmt 4,14 darin mit 1,15 überein, daß der »Tag JHWHs« als nahe bezeichnet wird. Doch zeigt die Formel jetzt di­rekt auf den Anbruch des Endgerich­tes hin. Ihr Kontext ist ja die durch göttliches Aufgebot bewirkte Völ­kerversammlung im Tale »Joschafat« als dem endzeitlichen Gerichts- Schauplatz. Anscheinend ist dabei Jerusalem bzw. der Tempel als »Thron« für das große JHWH-Gericht vorgestellt. Der »Tag JHWHs«, der in Kap. 1 und 2 gewissermaßen wie ein Damoklesschwert auch über Juda und Jerusalem hing, durch Buße und Umkehr dann aber abge­wendet wurde, meint nunmehr jenen endgültigen Eingriff Gottes in die Geschichte, der Israel Gnade und Heil, den Unterdrückervölkern je­doch Gericht und Unheil zuteilt. Dieser »Doppelaspekt« des JHWH-Tages verbindet also formal die altisra­elitische (durch Am 5,18 bezeugte) Heilserwartung mit der Unheilsbotschaft der vorexilischen und exilischen Prophetie bezüglich des Tages JHWHs (vgl. Am 5,8; Jes 2,11ff; Zef 1,7.14-18; Ez 30,2f), dies allerdings in ei­ner letztlich die älteren Vorstellun­gen modifizierenden Weise: Israel kann sich durch Umkehr dem allge­meinen Völkergericht entziehen und Jerusalem-Zion wird ein für allemal vom Zugriff der Feindmächte durch deren Vernichtung verschont und zugleich für immer die Wohnstätte JHWHs (4,17). Hierin meldet sich die be­ginnende apokalyptische Geschichts­deutung an, die wir auch in Sach 12-14 und in der »großen Jesaja-Apokalypse« (24-27) antreffen. In den authentischen Stücken von Joël bleibt dabei JHWH der einzig Waltende und Handelnde (vgl. die Got­tessprüche im Ich-Stil); in den Er­gänzungen 4,4-8.19 wird dagegen wie in Obd 15-21 Israel mitbeteiligt an der Niederringung der Feindvölker (Ägypten und Edom).

Joël 4,13 hat in Offb 14,14-20 (»Stunde der Ernte«) als Basistext gedient, und andere Verse des Kapitels haben in Mt 23,35; 24,29; Offb 6,12f; 11,8 ihr ver­nehmliches Echo gefunden. Trotz seines spezifisch jüdischen apoka­lyptischen Kolorits bleibt Joël 4 auch für die Christenheit von Bedeutung: Die Kirche Jesu Christi darf mit Is­rael hoffen auf einen endgültigen Sieg Gottes über alle Mächte des Bö­sen, welche den jetzigen Äon bestim­men. Die allerletzte Entscheidung – das Tal Joschafat meint mehr als ei­nen Ort – ist Gottes als des Herrn der Geschichte. Dem Christen wird dies zur besonderen Gewißheit, weil er im Glauben diese Entscheidung als im Kreuz und in der Erhöhung Jesu Christi prinzipiell bereits gefällt erkennen kann.

Quelle: Alfons Deissler, Zwölf Propheten 1: Hosea, Joël, Amos, NEB 4, Würzburg: Echter, 1981, 72-87.

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