Norbert Elias über den Gebrauch der Gabel beim Essen (Über den Prozess der Zivilisation): „Zum guten Teil aber wird das Verhalten und Triebleben des Kin­des nun dadurch, daß ein bestimmter Gebrauch von Messer und Gabel in der Erwachsenengesellschaft völlig durchgesetzt ist, also durch das Beispiel der umgebenden Welt, auch ohne Worte in die gleiche Form und die gleiche Richtung gezwungen. Es wird nun, da sich dem Druck oder Zwang einzelner Erwachsener der Druck und das Beispiel der ganzen umgebenden Welt zugesellt, von den meisten Aufwachsenden relativ frühzeitig vergessen oder verdrängt, daß ihre Scham und Pein­lichkeitsgefühle, ihre Lust- und Unlustempfindungen durch Druck und Zwang von außen modelliert und auf einen bestimmten Standard ge­bracht wurden.“

Über den Gebrauch der Gabel beim Essen

Von Norbert Elias

Wozu dient eigentlich die Gabel? Sie dient dazu, die zerkleinerten Speisen zum Munde zu führen. Warum brauchen wir eine Gabel dazu?

Warum nehmen wir nicht die Finger? Weil es „kannibalistisch“ ist, wie 1859 der „Mann im Clubfenster“, der ungenannte Verfasser der „Ha­bits of Good Society“ sagt. Warum ist es kannibalisch, mit den Fingern zu essen? Das ist keine Frage, es ist selbstverständlich kannibalisch, barbarisch, unzivilisiert, wie immer man es nennt.

Aber das ist ja gerade die Frage: Warum ist es denn zivilisierter mit der Gabel zu essen?

Weil es unhygienisch ist, die Finger zum Essen zu gebrauchen. – Das klingt einleuchtend. Es ist für unser Empfinden unhygienisch, wenn verschiedene Menschen mit ihren Fingern auf die gleiche Platte langen, weil eine gewisse Gefahr besteht, man könne sich durch Be­rührung mit anderen eine Krankheit holen. Jeder von uns scheint zu fürchten, daß die anderen krank sind.

Aber irgend etwas stimmt an dieser Erklärung nicht. Wir essen ja heute gar nicht mehr aus gemeinsamen Schüsseln. Jeder führt seine Speisen vom eigenen Teller zum Mund. Sie von dort, von dem eigenen Teller mit den Fingern aufzunehmen, kann nicht „unhygienischer“ sein, als Kuchen, Brot, Schokolade oder was immer sonst mit den ei­genen Fingern zum Munde zu führen.

Wozu braucht man also eigentlich eine Gabel? Warum ist es „bar­barisch“ und „unzivilisiert“ Speisen vom eigenen Teller mit der Hand zum Munde zu führen?

Weil es ein peinliches Gefühl ist, sich die Finger schmutzig zu machen oder wenigstens mit schmutzigen und fettigen Fingern in Ge­sellschaft gesehen zu werden. Mit Krankheitsgefahren, mit den sog. „rationalen Gründen“ hat die Ausschaltung des Essens mit den Händen vom eigenen Teller recht wenig zu tun. Hier, in der Beobachtung unse­rer Empfindung gegenüber dem Gabelritual, zeigt sich mit ganz be­sonderer Deutlichkeit: Die primäre Instanz für unsere Entscheidung zwischen „zivilisiertem“ und „unzivilisiertem“ Verhalten bei Tisch ist unser Peinlichkeitsgefühl. Die Gabel ist nichts anderes als die Inkarna­tion eines bestimmten Affekt- und Peinlichkeitsstandards. Als Hinter­grund der Wandlung, die sich in der Eßtechnik vom Mittelalter zur Neuzeit hin vollzieht, taucht wieder die gleiche Erscheinung auf, die auch in der Analyse anderer Inkamate dieser Art zutage trat: eine Wandlung des Trieb- und Affekthaushalts.

Verhaltensweisen, die im Mittelalter nicht im mindesten als pein­lich empfunden wurden, werden mehr und mehr mit Unlustempfin­dungen belegt. Der Peinlichkeitsstandard kommt in entsprechenden, gesellschaftlichen Verboten zum Ausdruck. Diese Tabus sind, soweit sich sehen läßt, nichts anderes als Ritual oder Institution gewordenes Unlust-, Peinlichkeits-, Ekel-, Angst- oder Schamgefühl, das gesell­schaftlich unter ganz bestimmten Umständen herangezüchtet worden ist, und das sich dann immer wieder reproduziert, nicht allein, aber doch vor allem auch deswegen, weil es sich in einem bestimmten Ri­tual, in bestimmten Umgangsformen institutionell verfestigt hat.

Die Beispiele zeigen – ganz gewiß nur in einem schmalen Aus­schnitt und in relativ zufällig herausgegriffenen Äußerungen Einzelner – wie in einer Phase der Entwicklung, in der die Benutzung der Gabel noch nicht selbstverständlich war, das Peinlichkeitsempfinden, das sich zunächst in einem engen Kreis herausgebildet hat, langsam ausge­breitet wird. „Es ist sehr indezent,“ heißt es bei Courtin 1672, „etwas Fettiges, eine Soße oder einen Sirup mit den Fingern anzufassen; das zwingt uns, abgesehen von allem anderen, zu zwei oder drei weiteren undezenten Handlungen; es zwingt z.B. dazu, sich häufig die Hände an der Serviette zu säubern und die Serviette zu beschmutzen, wie einen Wischlappen in der Küche, so daß denen, die sehen, wie man sie an den Mund führt, übel ums Herz wird. Oder man muß die Hände am Brot reinigen, was ebenfalls sehr wenig proper ist. (N. B. Die französi­schen Begriffe ,propre‘ und ,malpropre‘, wie sie Courtin gebraucht und in einem eigenen Kapitel erklärt, decken sich weniger mit unserem Begriff ,sauber‘ und ,unsauber‘, als mit dem früher häufiger gebrauch­ten ,proper‘.) Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, sich die Finger abzulecken, und das ist der Gipfel der ‚impropreté‘“.

Die „Civilité“ von La Salle aus dem Jahre 1729, die das Verhalten von oben in weitere Kreise trägt, sagt zwar auf der einen Seite: „Wenn deine Finger sehr fettig sind, wisch sie zuerst an einem Stück Brot ab.“ Und das zeigt, wie wenig allgemein selbst zu dieser Zeit noch der Peinlichkeitsstandard war, den Courtin bereits Jahrzehnte früher reprä­sentiert.

Auf der anderen Seite übernimmt La Salle ziemlich wörtlich die Vorschrift Courtins: „Die ,Bien-séance‘ gestattet nicht etwas Fettiges, eine Soße oder einen Sirup mit den Fingern anzufassen.“ Und er nennt unter den „incivilités“, zu denen das zwingt, neben dem Schmutzigma­chen der Serviette, genau wie Courtin, auch das Abwischen der Hände am Brot und das Ablecken der Finger.

Man sieht, alles ist hier noch im Werden. Der neue Standard ist nicht mit einem Mal da. Bestimmte Verhaltensweisen werden mit Ver­boten belegt, nicht weil sie ungesund sind, sondern weil sie zu einem peinlichen Anblick, zu peinlichen Assoziationen führen; und von den Vorbild gebenden Kreisen her wird durch viele Instanzen und Institu­tionen allmählich die Scham darüber, einen solchen Anblick zu bieten, die zunächst fehlt, und die Angst, solche Assoziationen auszulösen, in weiteren Kreisen erweckt. Sind sie aber einmal erweckt und durch bestimmte Ritualien, wie das Gabelritual, allgemein in der Gesellschaft verfestigt, dann reproduzieren sie sich immer wieder von neuem, so­lange die Struktur der menschlichen Beziehungen sich nicht grundle­gend ändert. Die jeweils ältere Generation, für die ein solcher Standard des Verhaltens selbstverständlich geworden ist, drängt die Kinder, die solche Gefühle, die diesen Standard nicht mit auf die Welt bringen, bald heftiger, bald milder, sich ihm entsprechend zu beherrschen und ihre Triebe, ihre Neigungen zurückzuhalten. Wenn ein Kind nach et­was Klebrigem, Feuchtem, Fettigem mit den Fingern greift, sagt man ihm: „Du darfst das nicht, so etwas tut man nicht“. Und die Unlust, die derart von den Erwachsenen diesem Verhalten gegenüber erzeugt wird, stellt sich schließlich gewohnheitsmäßig ein, ohne daß sie ein anderer Mensch auslöst.

Zum guten Teil aber wird das Verhalten und Triebleben des Kin­des nun dadurch, daß ein bestimmter Gebrauch von Messer und Gabel in der Erwachsenengesellschaft völlig durchgesetzt ist, also durch das Beispiel der umgebenden Welt, auch ohne Worte in die gleiche Form und die gleiche Richtung gezwungen. Es wird nun, da sich dem Druck oder Zwang einzelner Erwachsener der Druck und das Beispiel der ganzen umgebenden Welt zugesellt, von den meisten Aufwachsenden relativ frühzeitig vergessen oder verdrängt, daß ihre Scham und Pein­lichkeitsgefühle, ihre Lust- und Unlustempfindungen durch Druck und Zwang von außen modelliert und auf einen bestimmten Standard ge­bracht wurden. Alles das erscheint ihnen als ihr Persönlichstes, als etwas „Inneres“, ihnen gleichsam von Natur mit auf den Weg gegebe­nes.

Während es in den Äußerungen Courtins und La Salles noch ganz unmittelbar sichtbar wird, daß zunächst auch die Erwachsenen aus Rücksicht aufeinander, aus „Höflichkeit“ nicht mehr mit den Fingern essen sollen, nämlich um anderen einen peinlichen Anblick zu erspa­ren, und sich selbst die Scham, mit „gesoßten“ Händen von anderen gesehen zu werden, ist es später mehr und mehr ein innerer Automa­tismus, der Abdruck der Gesellschaft im Innern, das Über-Ich, das dem Einzelnen verbietet, anders als mit der Gabel zu essen. Der gesell­schaftliche Standard, in den der Einzelne zunächst von außen, durch Fremdzwang, eingepaßt worden ist, reproduziert sich schließlich in ihm mehr oder weniger reibungslos durch Selbstzwang, der bis zu ei­nem gewissen Grade arbeitet, auch wenn er es in seinem Bewußtsein nicht wünscht.

Auf diese Weise vollzieht sich also der geschichtlich-gesell­schaftliche Prozeß von Jahrhunderten, in dessen Verlauf der Standard der Scham- und Peinlichkeitsgefühle langsam vorrückt, in dem einzel­nen Menschen in abgekürzter Form von neuem. Wenn man darauf aus wäre, wiederkehrende Prozesse als Gesetz auszudrücken, könnte man in Parallele zu dem biogenetischen von einem soziogenetischen und psychogenetischen Grundgesetz sprechen.

Quelle: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 170-174.

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