Auszug aus dem Tagebuch vom Januar 1945
Von Alfred Delp S.J.
Das ist ein eigenartiges Leben jetzt. Man gewöhnt sich so schnell wieder an das Dasein und muss sich das Todesurteil ab und zu gewaltsam in das Bewusstsein zurückrufen. Das ist ja das Besondere bei diesem Tod, dass der Lebenswille ungebrochen und jeder Nerv lebendig ist, bis die feindliche Gewalt alles überwältigt. So dass die gewöhnlichen Vorzeichen und Mahnboten des Todes hier ausbleiben. Eines Tages wird eben die Tür aufgehen und der gute Wachtmeister wird sagen: «Einpacken, in einer halben Stunde kommt das Auto.» Wie wir so oft gehört haben.
Eigentlich hatten wir damit gerechnet, gleich am Donnerstagabend nach Plötzensee gefahren zu werden. Wir sind anscheinend die ersten, bei denen wieder Fristen eingehalten werden. Oder ob es die Gnadengesuche schon waren? Ich glaube nicht: Frank kam gestern zurück, obwohl für ihn noch kein Gesuch lief. Dass Frank auch verurteilt würde, hätte niemand gedacht. Aber dort ist alles Subjektivität, nicht einmal amtliche, sondern ganz persönliche Subjektivität. Der Mann [Freisler] ist gescheit, nervös, eitel und anmaßend. Er spielt Theater, und der Gegenspieler muss unterlegen sein.
Ich kam mir bei der ganzen Sache eigentlich recht unbeteiligt vor. Es war wie eine schlechte Pullacher Disputation, nur dass der Defendens dauernd wechselte und der Dauerobjicient auch zugleich entschied, wer recht hat. Die Mitrichter, das «Volk» am Volksgerichtshof waren gewöhnliche, dienstbeflissene Durchschnittsgesichter, die sich in ihrem blauen Anzug sehr feierlich vorkamen und sehr wichtig neben der roten Robe des Herrn Vorsitzenden. Gute, biedere SA-Männer, die die Funktion des Volkes, ja zu sagen, ausüben.
Es ist alles da, es fehlt nichts: feierlicher Einzug, großes Aufgebot der Polizei, jeder hat zwei Mann neben sich: hinter uns das «Publikum»; meist Gestapo usw. Die Gesichter der Schupos gutmütig-gewohnt-gewöhnlich. Das Publikum hat durchschnittlich den Typ des «einen» Deutschland. Das «andere» Deutschland ist nicht vertreten oder wird zum Tode verurteilt. Eigentlich fehlte noch eine Ouvertüre zu Beginn und ein Finale zu Ende oder mindestens Fanfaren.
Die Verhandlung selbst war geschickt und raffiniert gestellt. So raffiniert, dass keiner mit dem zu Wort kommen konnte, was den andern entlastete oder ihm selbst von Vorteil war. Es wurde genau das und nur das gefragt und zur Aussage zugelassen, was nach der gerade gültigen These langt zum Verurteilen. Unsere Verhandlung war gestellt auf Moltkes und meine Vernichtung. Alles andere waren Kulissen und Statisten. Als die Verhandlung mit mir eröffnet wurde, spürte ich bei der ersten Frage die Vernichtungsabsicht. Die Fragen waren schön geordnet, auf einem Zettel präpariert. Wehe, wenn die Antworten anders ausfielen als erwartet. Das war dann Scholastik und Jesuitismus. Überhaupt ist das so, dass ein Jesuit mit jedem Atemzug ein Verbrechen tut. Und er kann sagen und beweisen und tun, was er will: er ist eben ein Schuft, und es wird ihm nichts, gar nichts geglaubt.
Die Beschimpfungen von Kirche, Orden, kirchengeschichtlichen Überlieferungen usw. waren schlimm. Ich musste eigentlich an mich halten, um nicht loszuplatzen. Aber dann wäre die Atmosphäre für alle verdorben gewesen. Diese herrliche Gelegenheit für den großen Schauspieler, den Gegenspieler für einen gescheiten, überragenden, verschlagenen Menschen zu erklären und sich dann so unendlich überlegen zu zeigen. Es war alles fertig, als er anfing. Ich rate allen meinen Mitbrüdern dringend ab, sich dahin zu begeben. Man ist dort kein Mensch, sondern «Objekt». Und dabei alles unter einem inflationistischen Verschleiß juristischer Formen und Phrasen. Kurz zuvor las ich Plato: Das ist das höchste Unrecht, das sich in der Form des Rechts vollzieht.
Am Donnerstagabend war also Schlusssitzung. Wieder alles im gleichen Stil. Wie Preisverteilung in einer kleinen Schule, die nicht einmal den richtigen Raum dafür hat. Und anschließend dachten Moltke und ich, wir führen nach Plötzensee. Wir sind aber noch immer in Tegel.
Auch bei der Verurteilung war ich innerlich so unbeteiligt wie an den ganzen zwei Tagen. Ich habe die zwei Tage das Sanktissimum bei mir gehabt und vor der Fahrt zum Urteil zelebriert und als letzte Speise die Speise genossen. So wollte ich bereit sein, aber ich bin immer noch am Warten. Ja, und ganz ehrlich gesagt, ich glaube noch nicht an den Galgen. Ich weiß nicht, was das ist. Vielleicht eine große Gnade und Hilfe des väterlichen Gottes, der mich so die Wüste bestehen lässt, ohne in ihr verdursten zu müssen. Während der ganzen Verhandlung, auch als ich merkte, das «Wunder» bleibt aus, war ich weit oben drüber und unberührbar durch alle die Vorgänge und Aussichten. Ist das das Wunder oder was ist das? Ich bin Gott gegenüber wirklich in einiger Verlegenheit und muss mir darüber klarwerden.
Diese ganzen bitteren Monate der Reife und des Unglücks stehen unter einem ganz eigenartigen Gesetz. Von der ersten Minute an war ich innerlich sicher, es würde alles gutgehen. Gott hat mich in dieser Sicherheit immer wieder bestärkt. Und dies ist das zweite Gesetz, unter dem diese Wochen stehen: es ging alles schief, was ich unternahm, um mir zu helfen. Ja, nicht nur schief, es war eigentlich immer zum Unheil. So auch jetzt bei der Verhandlung. Der Anwaltswechsel, der zunächst so gut schien, war nicht gut. Als der Mann den Anti-Jesuiten-Komplex spürte, sagte er mir noch während der Verhandlung: gegen den Jesuitismus sei er allerdings auch. Dass man dem Freisler das Büchlein (Der Mensch und die Geschichte) geschickt hat, hat nur bewirkt, dass er mich für gescheit hielt und für umso gefährlicher.
Ich bitte auch die Freunde, nicht zu trauern, sondern für mich zu beten und mir zu helfen, solange ich der Hilfe bedarf. Und sich nachher darauf zu verlassen, dass ich geopfert wurde, nicht erschlagen. Ich hatte nicht daran gedacht, dass dies mein Weg sein könnte. Alte meine Segel wollten steif vor dem Wind stehen; mein Schiff wollte auf eine große Ausfahrt, die Fahnen und Wimpel sollten stolz und hoch in alten Stürmen gehisst bleiben. Aber vielleicht wären es die falschen Fahnen geworden oder die falsche Richtung oder für das Schiff die falsche Fracht und unechte Beute. Ich weiß es nicht. Ich will mich auch nicht trösten mit einer billigen Herabminderung des Irdischen und des Lebens. Ehrlich und gerade: ich würde gerne noch weiterleben und gern und jetzt erst recht weiterschaffen und viele neue Worte und Werte verkünden, die ich jetzt erst entdeckt habe. Es ist anders gekommen. Gott halte mich in der Kraft, ihm und seiner Fügung und Zulassung gewachsen zu sein.
Ich bin vielen vieles schuldig geblieben. Denen ich wehe getan habe, sie mögen mir verzeihen. Ich habe gebüßt. Zu denen ich unwahr und unecht war, sie mögen mir verzeihen. Ich habe gebüßt. Zu denen ich anmaßend und stolz und lieblos war, sie mögen mir verzeihen. Ich habe gebüßt. O ja, in den Kellerstunden, in den Stunden der gefesselten Hände des Körpers und des Geistes, da ist vieles zerbrochen. Da ist vieles ausgebrannt, was nicht würdig und wertig genug war.
So lebt denn wohl. Mein Verbrechen ist, dass ich an Deutschland glaubte auch über eine mögliche Not- und Nachtstunde hinaus. Dass ich an jene simple und anmaßende Drei-Einigkeit des Stolzes und der Gewalt nicht glaubte. Und dass ich dies tat als katholischer Christ und als Jesuit. Das sind die Werte, für die ich hier stehe am äußersten Rande und auf den warten muss, der mich hinunterstößt. Deutschland über das Heute hinaus als immer neu sich gestaltende Wirklichkeit, Christentum und Kirche als die geheime Sehnsucht und die stärkende und heilende Kraft dieses Landes und Volkes – der Orden als die Heimat geprägter Männer, die man hasst, weil man sie nicht versteht und kennt in ihrer freien Gebundenheit oder weil man sie fürchtet als Vorwurf und Frage in der eigenen anmaßenden, pathetischen Unfreiheit.
Ich aber will ehrlich warten auf des Herrgotts Fügung und Führung. Ich werde auf ihn vertrauen, bis ich abgeholt werde. Und ich werde mich mühen, dass mich auch diese Lösung und Losung nicht klein und verzagt findet.
Das ist ein eigenartiges Leben jetzt. Man gewöhnt sich so schnell wieder an das Dasein und muss sich das Todesurteil ab und zu gewaltsam in das Bewusstsein zurückrufen. Das ist ja das Besondere bei diesem Tod, dass der Lebenswille ungebrochen und jeder Nerv lebendig ist, bis die feindliche Gewalt alles überwältigt. So dass die gewöhnlichen Vorzeichen und Mahnboten des Todes hier ausbleiben. Eines Tages wird eben die Tür aufgehen, und der gute Wachtmeister wird sagen: einpacken, in einer halben Stunde kommt das Auto. Wie wir es so oft gehört und erlebt haben.
Quelle: Günther Weisenborn, Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945, Reinbek: Rowohlt, 1962, S. 284-287.