Predigt über Apostelgeschichte 2,41-47
Von Manfred Seitz
I
Liebe Gemeinde! Der vorhin verlesene Abschnitt aus der Apostelgeschichte enthält das Bild der Jerusalemer Gemeinde, wie es Lukas uns überliefert. Statt „Bild“ könnten wir auch sagen: Was wir durch das Fenster der biblischen Worte gesehen haben, war die Ikone der Urkirche. Also keine historische Nachzeichnung, sondern eine Ikone.
Was ist eine Ikone? Ikonen sind in den letzten Jahren viele aus Rußland und anderen Ländern mit orthodoxen Kirchen zu uns gekommen – nachgemachte und echte. Sie stellen Christus, Maria, Engel, Apostel, Propheten, Heilige und Kirchenfeste in eigentümlich stilisierter Weise dar. Man kann sie in Kunsthandlungen kaufen. Aber das widerspricht eigentlich ihrem Wesen. Für orthodoxe Christen sind Ikonen Andachtsbilder, ja mehr noch, heilige Gegenstände. Für den Glauben, der an ihnen hängt, besteht zwischen dem Abgebildeten und dem Bild eine wirkliche Beziehung. Was abgebildet wird, wohnt der Ikone sozusagen inne; es ist durch sie gegenwärtig. Deshalb wird sie in einem gottesdienstlichen Akt nach überlieferten strengen Regeln als Heilsverkündigung in Linien und Farben gemalt. Sie gleicht einem Tor zum Himmel und einer Brücke zwischen ihm und der Traurigkeit der Erde. Auf eine Ikone zu blicken lehrt das Wesentliche sehen, stiftet eine Beziehung zum Dargestellten und stärkt den Glauben.
In diesem Sinn ist das Bild der Jerusalemer Gemeinde eine Ikone. Es kommt uns vor wie auf Goldgrund gemalt, und die nichts davon verstehen, meinen, es sei idealisiert. Deshalb halten sie es auch für bedrückend, als ob es sagen wollte: „Was in Jerusalem möglich war, das sollte euch doch auch gelingen.“ Und dann entmutigt es und trägt uns auf, etwas zu leisten, was wir gar nicht leisten können. – Aber es ist eben eine Ikone, das heißt: Das für das Gemeindeleben Typische, die wichtigsten Einzelzüge werden zu einem Wesensbild zusammengefügt. Und das – nicht um einen Abstand, sondern um eine Beziehung herzustellen. Im Anschauen ist also das Dargestellte gegenwärtig, und wir sehen, was Gottes Wort und Geist auf Erden möglich macht. Und gewiß auch in unserer Gemeinde!
II
Unsere Ikone hat einen schmalen Rand. Er heißt: „Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen und wurden (als Gerettete) hinzugetan an dem Tage bei dreitausend Seelen.“ Das halten natürlich alle guten Theologen für eine Übertreibung. Aber wenn es nur 300 wären oder 30 – es wäre ein Wunder, und wir wären glücklich, wenn es heute geschähe. Predigt, Betroffenheit, Bekehrung und Taufe – das muß so schnell und geschwind vonstatten gegangen sein, daß es einem den Atem verschlägt und das Unbehagen auch. Insofern war es nicht viel anders als bei uns: Der Unterricht im christlichen Glauben, das Wachsen darin, das Begreifen der Taufe, das Leben aus dem Glauben und das Bleiben unter dem Wort mußten erst noch erfolgen.
Das Bleiben! Darauf fällt nun der Blick, wenn wir vom Rand zur Mitte gehen. „Sie blieben beständig …“ Da steht in der Sprache des Apostels ein genau gewähltes, bedeutsames Wort. Es heißt so viel wie: „bei der Sache bleiben“ und ist ein Fachausdruck für das Festhalten an einer geistlichen Ordnung. Manches ist ja in der Kirche zum Davonlaufen. Aber da ist noch etwas Größeres, das uns festhält. Das sind die vier Grund- oder Wesenselemente, die einer christlichen Gemeinde Festigkeit verleihen. Damit sind wir in der Mitte des Bildes angelangt. Die Ikone sieht uns an. Und das sind ihre Augen: „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“
III
Es kommt manchmal vor, daß wir gefragt werden: „Gehören Sie zur Kirche? Sind Sie Christ?“ Dann fällt es uns vielleicht schwer, etwas zu sagen und auf so eine direkte Frage zu antworten. Man möchte ja nicht so sicher erscheinen und äußert sich eher ausweichend; etwa so: „Dazu gehöre ich schon; aber ich versuche, ein Christ zu sein.“ Das wirkt dann sehr defensiv. Als Menschen, die getauft sind und an denen etwas geschehen ist, dürfen wir direkter antworten (der andere hat doch auch direkt gefragt!): „In der Tat – ich bin Christ! Ich weiß etwas vom Wort Gottes; ich nehme am Gemeindeleben teil; ich empfange das Abendmahl, und ich bete auch.“ Es ist die uns heute vom Heiligen Geist in den Mund gelegte Antwort.
Wir müssen nun freilich damit rechnen, daß uns unser Gegenüber in ein Gespräch verwickelt. Er möchte über das, was wir gesagt haben, etwas Genaueres wissen und fragt nach. Und schon fängt er an, und es entspinnt sich ein Gespräch.
IV
„Was meinen Sie mit ‚Wort Gottes‘, wenn Sie sagen: ‚Ich weiß etwas vom Wort Gottes‘? Gott redet Sie doch nicht direkt vom Himmel herunter an?“
„Da haben Sie recht! Es gibt zwar viele, die so tun, als bestünde das Christsein nur aus einem Bündel von Praktiken und Emotionen und als hätten sie einen ‚heißen Draht‘ zu Gott. Aber sie verkennen, daß es für die Glaubenden zuerst einmal etwas zu vernehmen gilt und zu begreifen: das informierende Wort der Bibel, die Worte des Herrn Jesus und was die Apostel über ihn noch sagen. Das meine ich mit ‚Wort Gottes‘.“
„Gut – das verstehe ich zwar noch nicht ganz; aber mich interessiert jetzt die Sache mit dem Gemeindeleben. Sie erwähnten doch: ‚Ich nehme am Gemeindeleben teil.‘ Ich kann mir wenig darunter vorstellen. Und ist es nicht etwas sehr Gefühliges?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Wissen Sie, ich habe da eine persönliche Hemmung. In der Kirche wird immer so viel von Gemeinschaft gesprochen. Man hört es wenigstens. Kürzlich soll einer vor seine Konfirmanden getreten sein: ‚Ich heiße Yorick, und ihr dürft alle zu mir du sagen.‘ Ich bin aber für so enge Tuchfühlung nicht sonderlich begabt.“
„Jetzt verstehe ich Sie besser. Was Sie befürchten, steht zum Glück nicht im Vordergrund. Das Christliche am Gemeindeleben hat zunächst überhaupt nichts mit Gefühl zu tun. Es ist vielmehr – so hat es mir einmal ein junger Vikar erklärt – ein Teilhaben an Heilsgütern und Heilsmenschen. Und das stiftet dann den Zusammenhalt, den man Gemeinde nennt.“
„Hm! Große Worte! Glauben Sie das wirklich?“
„Was soll ich dazu sagen? Vielleicht überzeugt Sie eine Erfahrung, die ich machte? Seit ich wieder Zugang zum christlichen Glauben und zur Gemeinde habe, fiel mir dort etwas auf. Wir leben ja in einer Gesellschaft, die mehr produziert, als sie braucht; und natürlich verbrauchen auch die Christen fleißig mit. Aber da ist noch etwas anderes im Spiel. Ich kann es kaum benennen; und es gibt viele Beispiele, die es widerlegen. Und doch ist es da, mindestens bei einigen, oder sind es sogar mehr? Da ist ein anderes, gelösteres Verhältnis zum Besitz, eine gewisse Sensibilität für Bekümmerte und eine spontane Bereitschaft, etwas herzugeben, wenn Not am Mann ist.“
„Sehr interessant! Ich habe einmal etwas vom ‚urchristlichen Kommunismus‘ gehört. Das ist sicher falsch. Es wird wohl kein Prinzip gewesen sein, das dem Privateigentum den Krieg erklärte, sondern eher eine impulsive Verkaufsbereitschaft, um anderen zu helfen. Halten Sie es für möglich, daß sich so etwas durchhält?“
„Ich denke schon! Darf ich es so formulieren: Die Gemeinde wird in dieser Haltung und in der Fürsorge füreinander von ihrem Herrn festgehalten.“
„Und ich halte Sie auf! Darf ich trotzdem noch etwas sagen? Sie erwähnten: ‚Ich empfange das Heilige Abendmahl.‘ Darüber möchte ich jetzt nichts fragen. Man hört in der letzten Zeit sehr viel davon. Doch weil Sie mir eine persönliche Erfahrung erzählten – es ist wohl das, was mir vorhin so schwierig erschien: ‚Teilhaben an Heilsmenschen“ -, will ich es Ihnen gegenüber gleichfalls tun. – Ich habe fast keinen Kontakt mehr zur Kirche, geriet aber kürzlich hier in einen Gottesdienst. Ich wußte nicht, daß Abendmahl gefeiert wurde, und empfand zunächst Unsicherheit und Verlegenheit. Als ich aber sah, daß so viele junge Leute sich erhoben und nach vorne gingen, dachte ich: ‚Das kannst du auch.“ Als ich vor dem Altar stand, war eigentlich alles ganz normal, und es ging nichts Besonderes in mir vor. Vielleicht deshalb rührten mich die Worte: ‚Für dich gegeben! Für dich vergossen!‘ ganz tief an. So habe ich mich schon lange nicht mehr verlassen können. Ist es das, was mir vorhin so schwierig erschien: ‚Teilhaben an Heilsgütern‘? Vielleicht komme ich wieder. – Und nun die letzte Frage! Dann höre ich wirklich auf. Sie sagten: ‚Ich bete auch.‘ Wie machen Sie das?“
„Sie fragen wieder sehr direkt. Ich zögere, um Zeit zu gewinnen; denn ich kann eigentlich nicht beten. Ich fange nur immer wieder an. Es ist merkwürdig: Es fängt immer wieder an. Wahrscheinlich ist es die Gemeinde. Ich beginne den Tag wie die Gemeinde den Gottesdienst im Namen der Dreifaltigkeit: ‚Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist.‘ Dann stehe ich auf, arbeite, lebe und vergesse Gott und schicke doch manchmal ein Stoßgebet zu ihm empor, lebe und arbeite und lege mich wieder nieder. Ich schließe den Tag wie die Gemeinde den Gottesdienst mit einem Segen: ‚Eine ruhige Nacht und ein seliges Ende verleihe uns der allmächtige, barmherzige Gott.‘ Ich kann nicht beten, wirklich nicht. Wahrscheinlich ist es die Gemeinde, der Herr, der Heilige Geist.“ (Das Gespräch endet hier.)
V
Die Ikone der Urkirche: „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“ Sie behielten die Worte des Herrn Jesus. Ihre Einstellung zum Besitz veränderte sich. Der Gottesdienst war ihre Mitte und das Loben Gottes durchgehendes Kennzeichen ihrer Zusammenkünfte. Was sie abbildet, ist gegenwärtig. Vor Ikonen schweigen Menschen. Vor Ikonen kommen sie ins Gespräch und zum Glauben. Vor Ikonen fangen sie wieder zu beten an. Die Ikone der Urkirche: Was sie abbildet, ist gegenwärtig. Eine Brücke zwischen dem Himmel und der Traurigkeit der Erde.
Amen.
Quelle: Wolfgang Bub/Christian Eyselein/Günter R. Schmidt, Lebenswort. Erlanger Universitätspredigten. Manfred Seitz zum 60. Geburtstag, Erlangen: Junge & Sohn, 1988, S. 147-151.