Johannes Rau, Anmerkungen zur politischen Diskussion in der christlichen Gemeinde (1983): „Es bleibt die Frage, ob man der politischen Diskussion abspürt, dass es nicht um Dogmen geschichtlicher Richtigkeiten, sondern um eine Welt geht, die nicht im Leid ersticken und nicht im Krieg untergehen soll, deren Schicksal nicht besiegelt ist durch Raketen und Feindschaftsdenken, die vielmehr ei­ne Zukunft hat. Christliche Botschaft muss das vermitteln und weitersagen. In allem Streit muss deutlich werden, daß es nicht um unser Rechthaben geht, sondern um die zugesagte Hoffnung für eine Welt, die im Argen liegt und die doch nicht verloren gegeben wird.“

Anmerkungen zur politischen Diskussion in der christlichen Gemeinde

Von Johannes Rau

Nach dem deutschen Zusammenbruch 1945 hat sich die politische Dis­kussion in den evangelischen Gemeinden der jetzigen Bundesrepublik so grundsätzlich geändert, daß sich keine durchgängige Linie zur Zeit der Weimarer Republik ziehen läßt, wahrscheinlich nicht einmal eine gebro­chene Linie. Die enge Bindung zwischen »Thron und Altar« in der Zeit des Kaiserreiches reicht weit bis nach Weimar hinein. Was es im Kaiserreich an politischem Engagement gab. war sozialpolitisches Engagement – ob Friedrich von Bodelschwingh oder Johann Hinrich Wichern, beiden ging es darum, daß in der Kirche »Ruhe« blieb. Ihre Flugschriften und ihre Inter­pellationen waren Warnungen vor dem sozialen Elend der Arbeiter und vor der Sozialdemokratie, die ihrerseits in vielen ihrer Äußerungen gegen die Bindung von »Thron und Altar« die Bindung von Arbeiterschaft und Frei­geist gesetzt hatte. Freilich, es gab einen dünnen Faden derer, die sozialisti­sches Gedankengut Weitergaben: Kutter, Ragaz, schließlich der junge Blumhardt. Später haben sich Karl Barth und Günter Dehn auf diesen Fa­den berufen und ihn wieder aufgenommen. Die Weimarer Zeit selber aber nahm eher die Obrigkeitstheorie des 19. Jahrhunderts auf und verharrte in der Klage über den Verlust der Monarchie. Republikanische Ansätze blie­ben weitgehend im konservativen, im deutschnationalen Umfeld.

Hier sind die Entwicklungen nicht aufzuzeichnen, die das 19. und das 20. Jahrhundert in ihrer Frömmigkeitsgeschichte bestimmt haben. Es wäre schon der Nacharbeit wert, etwa das Verhältnis des Pietismus zu Staat und Gesellschaft einmal nachzuzeichnen und Schlüsse daraus zu ziehen. Das kann hier nicht geschehen.

Über die Zeit des Nationalsozialismus und die kirchlichen Stimmen in ihm existiert inzwischen eine Fülle von Literatur. Noch leben Zeitzeugen, die bewegend berichten. Auch das wird nachgezeichnet, was nicht verar­beitet ist.

Der Zusammenbruch sollte ein Aufbruch werden. Christen, die aus den Konzentrationslagern oder aus innerer Emigration kamen, verbanden sich miteinander. Zentrum und Christlich-Sozialer Volksdienst erstanden nicht neu. Evangelische und Katholiken verbanden sich zu einer Partei, die auf einem breiten Fundament mit ihrer politischen Arbeit beginnen konnte.

So selbstverständlich dieser Neuanfang für katholische Mitchristen sein konnte, so sehr stieß er im evangelischen Bereich auf Vorbehalte. Deshalb ist es im Nachhinein verständlich, daß die politische Diskussion in den evangelischen Gemeinden bis weit in die fünfziger Jahre hinein vor allem vom Ruf nach politischem Engagement bestimmt war. »Suchet der Stadt Bestes!« Das war der Ruf, mit dem diejenigen für politisches Engagement zu werben versuchten, die ihren Platz schon gefunden hatten. Hermann Ehlers und Gustav Heinemann, Robert Tillmanns und Edo Osterloo, Adolf Cillien – das sind nur einige Namen aus dieser Zeit. Der Stadt Bestes zu su­chen, das war die kürzeste Umschreibung politischen Handelns und politi­schen Mitwirkens. Die res publica, das gemeine Wohl, konnte nicht gedei­hen, wenn nicht Christen endlich mittaten und der Abstinenz absagten.

Was damals die Diskussion bestimmte, hatte nichts Kontroverstheologisches. Zwar erschien die eine oder andere Arbeit, in der über die Bedeu­tung des Naturrechts auch für evangelische Theologie gehandelt und ge­stritten wurde; zwar wurde erörtert, ob Luthers Lehre von den zwei Regi­menten noch zeitgemäß sei und je schriftgemäß gewesen sei – das alles aber hatte eher spielerischen Charakter.

Suchet der Stadt Bestes – das kam an. Wohlwollendes über Politik ließ sich hören (freilich mit dem unverständlichen Zusatz, bis zur Parteipolitik dürfe Politisches doch nicht geraten), und immer mehr in Parteien und Ge­werkschaften, in Parlamenten und Regierungen tätige evangelische Chri­sten bekamen das Gefühl, daß ihre Gemeinde sie zumindest mit ausge­sandt habe.

Daß die Stadt, deren Bestes wir suchen sollten, nicht die eigene Stadt war, sondern die der Flüchtlinge, das Gebet im Exil und nicht zuerst hand­feste Politik im Brief des Jeremia gefragt war, das war damals nicht bewe­gend. Zu schnell änderte sich auch das politische Klima und damit das The­ma der politischen Diskussion. Als in den fünfziger Jahren die Diskussion um die Gründung der Bundeswehr, um den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und wenige Jahre später um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr stattfand, wurde das Jeremia-Wort sehr viel weniger zitiert. Die Frage nach der Obrigkeit stand im Mittelpunkt der Diskussion. Otto Dibelius brachte seinen Brief zu Römer 13 heraus (läse man ihn heute nach mit Dibelius’ Stellungnahme zu Atom­waffen, käme der alte, liebenswürdige Bischof in den Ruf, ein Vorläufer der Friedensbewegung zu sein), und der Streit ging vielmehr um den Gehorsam als um das Engagement. War es in den Jahren nach dem Kriege um die Be­reitschaft des einzelnen gegangen, mitzutun, so ging es jetzt um die Ethik der Gruppen und des Staates. »Darf ein Christ?«, diese so oft individuell ge­stellte Frage nach dem einzelnen Christen und seinem Verhalten bekam ei­ne neue Dimension: Dürfen wir, die Christen, dies oder das tun oder müs­sen wir dies oder jenes verhindern? Was darf der Staat, der zu Recht Gehor­sam fordert, und welche Grenzen sind ihm gesetzt?

Was damals als erbitterter Streit erschien, erweist sich heute als frucht­bare theologische Debatte. Helmut Thielicke und Walter Künneth, Helmut Gollwitzer und Martin Niemöller, Karl Kupisch mit seinen kirchenge­schichtlichen Aspekten und Ernst Wolf mit der Fülle seiner kleinen Schrif­ten – die Kontroverse ging hin und her. Synoden konnten den Streit nicht schlichten. Kirchenpolitische Gruppen entstanden, einzelne – Gustav Hei­nemann vor allem, aber Eugen Gerstenmaier auch – wurden zu Synony­men für eine bestimmte Sichtweise. Kaum jemand, der in den Jahrzehnten nach dem Kriege politische Mitverantwortung getragen hat, war nicht auf diese oder jene Weise der einen oder anderen Gruppe zugehörig, verpflich­tet oder doch zugetan.

Wie eines Tages die Diskussion beurteilt werden wird, die jetzt die Kir­chengemeinden und Gruppen, Publikationen und Zeitungen, Fernsehsen­dungen und Parlamentsdebatten bestimmt, läßt sich noch nicht sagen. Si­cher ist, daß nicht mehr der Ruf nach der Stadt Bestem, nicht mehr die Fra­ge nach dem Recht der Obrigkeit im Vordergrund steht, sondern der Text der Bergpredigt. Genauer gesagt: Stellen aus der Bergpredigt. Wird sie dis­kutiert und wird die Frage gestellt danach, ob mit der Bergpredigt politisch zu handeln sei, dann erleben wir eine zweifache Verkürzung.

Zum einen ist nicht die Rede von der ganzen Bergpredigt. Die Rede ist vom Frieden schaffen und vom Frieden stiften, nicht von der Ehe und nicht vom Eid, nicht von der Art des Betens und nicht vom Schätzesammeln. Es geht um die Friedfertigen und um die Sanftmütigen.

Die zweite Begrenzung ist die, mit der nicht erst Luther begonnen hat und die Otto von Bismarck genauso gesehen hat wie die beiden Bundes­kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl: Daß mit der Bergpredigt kein Staat zu machen, keine Politik zu verantworten, daß man mit ihr nicht re­gieren könne und daß sie nicht aufs Rathaus gehöre.

Fast möchte man meinen, das sei herrschende Lehre und es gebe keinen Widerspruch. Ist es Schwärmerei, wenn Menschen sich doch auf die Berg­predigt beziehen? Wir werden der »Grenzarbeit« nicht entgehen können und werden antworten müssen, ob denn wohl mit dem ersten Johannes- brief, ob denn wohl mit der Offenbarung des Johannes, der Apokalypse (und zwar nicht nur mit ihren »Drohungen«, sondern auch mit ihren Ver­heißungen), Politik zu machen sei.

In diesen kurzen Anmerkungen, mit denen ich einen Freund grüße, kann ich nur die Frage aufgreifen. Aber es hat nichts mit der Kürze zu tun, daß die Antwort selber noch lange und von vielen gesucht werden muß. Ging es nach dem Kriege um die Ansicht, daß nicht nur das individuelle Heil eine Sache Gottes sei, sondern die res publica auch, daß es keine andere Herr­schaft gebe und geben dürfe als die, von der die Barmer Erklärung 1934 spricht, so stehen wir jetzt vor einer neuen Individualisierung. Daß die Bi­bel kein Rezeptbuch mit konkreten Anweisungen für politische Sachver­halte und Probleme sei, steht auf jedem guten und leserlichen Rezept. Wie aber Übersetzung geschieht, wo das Allgemeine des Rufes Gottes zum kon­kreten Anruf wird, das ist eine ungelöste Frage, zu der das theologische Ge­spräch fehlt.

Wahrscheinlich ist es nicht nur die Nostalgie eines ehemals engagierten l-esers, dem heute die Zeit fehlt, wenn ich vermute, daß in den achtziger Jahren das theologische Gespräch weniger intensiv, weniger kontrovers und weniger präzise ist als in den fünfziger Jahren. Damals waren die Posi­tionen weit voneinander entfernt. Heute sind sie oft unerkennbar. Hat es mit den modernen Kommunikationstechniken und -wegen zu tun, wenn die Frage nach der Zulässigkeit des Talars bei Demonstrationen heftiger diskutiert wird als der theologische Aspekt der politischen Sache, über die wir miteinander im Streit liegen? Müßte das synodale Wort, daß wir »un­ter dem Evangelium zusammenbleiben«, nicht zu stringenteren Fragen da­nach führen, was denn das Evangelium sei und was es sage?

Freilich, wenn von der Sache geredet worden ist, bleiben Nebenfragen, wichtige sogar: Haben die Kirchen so viele Wörter gesagt, daß ihr Wort nicht mehr zur Geltung kommt? Sind sie bei geringerer Teilnahme an Got­tesdienst und Gemeindegeschehen kalkulierte und kalkulierbare Größen derer geworden, die mit Umfragen und sozialwissenschaftlichen Studien Wählerpotentiale berechnen und einkalkulieren? Haben I lirtenbrief und Kanzelwort, Sendschreiben und Rundschreiben noch eine Chance gegen Tagesschau und Wahlwerbung? Kommt Gottes Wort wohl doch leer zu­rück? Wird es in der Münze der Belehrung ausgeteilt?

Es gibt viele Fragen, auch die nach der großen Diskrepanz zwischen den bedeutenden Veranstaltungen von Kirchen- und Katholikentagen und der »vorhandenen Gemeinde«, von der Hans Kirchhoff gerne sprach. Ob es um der Stadt Bestes, um die rechte Obrigkeit oder um die Schwerter geht, aus denen Pflugscharen werden sollen, die in all diesen Jahren neu gestellte Frage nach der Zukunft der Welt darf nicht zu kurz kommen und nicht ver­loren gehen.

»Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt!« hat Gustav Heinemann am Schluß des ersten Nachkriegs-Kirchentages 1950 in Essen ausgerufen. Es bleibt die Frage, ob man der politischen Diskussion abspürt, daß es nicht um Dogmen geschichtlicher Richtigkeiten, sondern um eine Welt geht, die nicht im Leid ersticken und nicht im Krieg untergehen soll, deren Schicksal nicht besiegelt ist durch Raketen und Feindschaftsdenken, die vielmehr ei­ne Zukunft hat. Christliche Botschaft muß das vermitteln und weitersagen. In allem Streit muß deutlich werden, daß es nicht um unser Rechthaben geht, sondern um die zugesagte Hoffnung für eine Welt, die im Argen liegt und die doch nicht verloren gegeben wird.

Quelle: »Wenn nicht jetzt, wann dann?« Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, herausgegeben von Hans-Georg Geyer, Johann Michael Schmidt, Werner Schneider und Michael Weinrich, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1983, S. 489-492.

Hier der Text als pdf.

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