Die Goldene Regel. Exegetische und theologische Verwirrungen[1]
Von Paul Ricoeur
Das Problem, das ich Ihnen zur Diskussion stelle, lässt sich folgendermaßen formulieren: Wenn man davon ausgeht, dass die Goldene Regel die grundlegende moralische Regel darstellt, über die sich die Weisesten einig sein können, was geschieht dann mit dieser Regel, wenn man sie in eine religiöse Perspektive stellt, genauer gesagt, in die Perspektive, die durch das symbolische Netz, das für die jüdisch-christlichen Schriften charakteristisch ist, beschrieben wird?
Dass die Goldene Regel unsere gemeinsame Moral zum Ausdruck bringt, scheint durch den Platz bestätigt zu werden, den sie in der Bergpredigt in Matthäus 7,12 einnimmt – „Was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihnen auch; denn das ist das Gesetz und die Propheten“ -, wo die Goldene Regel als Allgemeingut der jüdischen Kultur selbstverständlich zu sein scheint; ebenso wie in der Predigt auf der Ebene in Lukas 6,31 – „Und was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ – scheint die Goldene Regel als Allgemeingut der hellenistischen Kultur anerkannt zu sein, wie Hans Dieter Betz nachgewiesen hat.
Es ist jedoch nicht die bloße Erwähnung der Goldenen Regel, die ein Auslegungsproblem aufwirft, sondern der Einfluss eines Kontextes, der sie zu leugnen oder zu verleugnen scheint. Dieser Kontext wird bekanntlich durch das Gebot der Feindesliebe bestimmt. Dieses Gebot und nicht die Goldene Regel scheint auf der ethischen Ebene am ehesten das auszudrücken, was wir auf der religiösen Ebene als Ökonomie der Gabe bezeichnen können. Diese ethische Annäherung lässt sich als Logik der Überfülle bezeichnen, die der Logik der Äquivalenz, die die Alltagsethik bestimmt, genau entgegengesetzt ist. Diese Logik des Überflusses kommt im Neuen Testament auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Sie bestimmt die extravagante Wendung vieler Gleichnisse Jesu, wie sie in den sogenannten Wachstumsgleichnissen deutlich wird: ein Samenkorn, das dreißig, sechzig, hundert Körner hervorbringt; ein Senfkorn, das zu einem großen Baum wird, in dem die Vögel nisten können, usw. In einem anderen Zusammenhang deutet Paulus die ganze Heilsgeschichte nach demselben Gesetz der Überfülle: „Wenn durch die Schuld eines Menschen der Tod herrschte, so werden umso mehr diejenigen, die die Fülle der Gnade und die freie Gabe der Gerechtigkeit empfangen, durch den einen Menschen Jesus Christus im Leben herrschen“ (Römer 5,17).
Müssen wir nicht der Logik des Überflusses, die sich direkt aus der religiösen Ökonomie der Gabe zu ergeben scheint, die Logik der Gleichwertigkeit entgegensetzen, die in der Goldenen Regel ihren perfekten Ausdruck findet?
Die Behauptung, dass die Goldene Regel durch das neue Gebot der Feindesliebe überwunden wird, lässt sich auf zwei Arten begründen.
Das erste Argument gegen den ethischen Vorrang der Goldenen Regel ist ein exegetisches. Es bezieht sich auf die lukanische Bergpredigt und nicht auf die Bergpredigt bei Matthäus. Nachdem er die Goldene Regel zitiert hatte (Lukas 6,31), fügte Jesus, wie uns berichtet wird, die folgenden harschen Worte hinzu, die das eben Zitierte zu widerlegen scheinen:
Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was nützt euch das? Denn auch die Sünder lieben die, die sie lieben. Und wenn du denen Gutes tust, die dir Gutes tun, was für ein Verdienst ist das für dich? Denn auch die Sünder tun dasselbe. Und wenn ihr denen etwas leiht, von denen ihr hofft, etwas zu bekommen, was für ein Verdienst ist das für euch? Denn auch die Sünder leihen den Sündern, um ebenso viel wieder zu empfangen. (Lukas 6,32-34)
Jesus fährt dann fort: „Liebt aber eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“ (Lukas 6,35) Ist das nicht eine klare Absage an die Goldene Regel?[2]
Das zweite Argument stützt sich auf die begriffliche Verwandtschaft sowie die historische Herleitung, die die Goldene Regel mit der Regel der Vergeltung verbindet, wie sie im jus talionis dargelegt wurde, das einst den Strafbereich regelte: Auge um Auge und Zahn um Zahn“. Wie Albrecht Dihle in Die Goldene Regel dargelegt hat, ist die gemeinsame Komponente zwischen Vergeltung und Goldener Regel das Prinzip der Gleichwertigkeit. Dies ist die begriffliche Seite des Arguments. Sie wird durch die folgende Überlegung etwas relativiert: Das jus talionis stellt bereits eine moralische Verbesserung gegenüber der reinen Vergeltung dar. Die Rache ist grenzenlos; die Vergeltung hat ein Element des Maßes, das durch das Prinzip der Äquivalenz selbst gegeben ist. Diese Äquivalenz bezieht sich jedoch immer noch auf den Inhalt selbst: Auge und Zahn. Mit der Goldenen Regel ergibt sich eine neue Verbesserung: Die Gegenseitigkeit wird antizipiert, anstatt lediglich reaktiv zu sein. Der Handelnde wird aufgefordert, die Initiative zu ergreifen: Handle so, dass … Außerdem richtet sich die Regel an Absichten, Neigungen und Gefühle: was du nicht willst, dass man dir antut. Doch trotz dieser Verbesserung bleibt die Goldene Regel in derselben Logik der Äquivalenz, eben jener Logik, die das Gebot der Feindesliebe durchbricht: Es wird keine Gegenleistung erwartet, keine Äquivalenz, weil keine Gegenseitigkeit. Außerdem kann die Goldene Regel nach diesem Argument gar nicht anders, als die Identifizierung des Nächsten einzuschränken, damit das Prinzip der Gleichwertigkeit für ähnliche Menschen gilt. Selbst wenn also der Fremde oder der Unbekannte in den Kreis der Verwandtschaft, in dem die Regel gilt, aufgenommen wird, bleibt der Gegensatz Nachbar/Feind unangetastet. Genau diese Trennlinie hebt das neue Gebot auf. Der Feind wird zum Prüfstein der neuen Ethik, zum Kriterium ihrer Allgemeingültigkeit; die Liebe ist grenzenlos, so wie die Rache am anderen Ende des Weges grenzenlos war!
Ist das letzte Wort über den Platz der Goldenen Regel in der neuen Ökonomie der Gabe, die durch die Feindesliebe sanktioniert wird, gesprochen? Was die bisherigen Argumente unterschätzt haben, ist die Breite des Interpretationsspielraums, den jede Regel, jeder Satz und erst recht jeder Text zulassen kann.[3] Ich möchte auf dem Begriff „Auslegung“ beharren. Ich weiß, wie beunruhigend es für Menschen sein kann, die von einer Regel, vor allem von einer Regel, die als übergeordnet gilt, erwarten, dass sie eindeutig ist. Aber genau das ist nicht der Fall. Die ganze Geschichte der Rezeption der Tora lehrt uns, dass ein und dieselbe Regel sowohl wörtlich als auch gemäß ihrer Absicht verstanden werden kann. Eine viel interessantere Situation ergibt sich für den Status der Ethik in religiöser Hinsicht, wenn die Goldene Regel nicht geleugnet, sondern umgedeutet wird, und zwar nicht nur entsprechend ihrer möglichen Absicht, sondern entsprechend der neuen Tragweite, die ihr die Logik des Überflusses verleiht.
Wörtlich interpretiert ist die Goldene Regel ein Indiz für das, was die radikale Kritik behauptet, nämlich eine bloße Verfeinerung des Gesetzes der Vergeltung, des jus talionis letztlich. Ihre Formel würde lauten: do ut des. Ich gebe, damit du gibst. Der Handelnde ergreift die Initiative, aber nur, um eine Gegenleistung zu erhalten. Die Erwartung der Gegenseitigkeit hält die Goldene Regel innerhalb des eisernen Kreises der Vergeltung. Das ist es, was Lukas 6,32: „Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was ist das für ein Verdienst? Denn auch die Sünder lieben die, die sie lieben“. Was die in der Goldenen Regel implizierte Gegenseitigkeit pervertiert, ist ihre Ablenkung um des Eigeninteresses willen. Aber ist Eigennutz nicht die Verweigerung echter Gegenseitigkeit, wahrer Gleichwertigkeit?
An diesem Punkt macht der Einbruch der Ökonomie des Geschenks und ihrer Logik des Überflusses inmitten der Ökonomie des Tausches und seiner Logik der Äquivalenz den Unterschied zwischen den beiden Lesarten derselben Goldenen Regel aus, der wörtlichen Lesart und der Lesart, die auf das Beabsichtigte aus ist (the reading according to the intent). Ich sehe, dass die Logik des Überflusses die wahre Gegenseitigkeit vor ihrer Karikatur rettet, die in Lukas 6,32-35. Diese Logik funktioniert auf folgende Weise. Die Ökonomie des Geschenks ist um ein „weil“ herum konstruiert: Weil es dir gegeben wurde, geh und tu es auch. Dieses „weil“ untergräbt das „damit“ der Regel „do ut des“, ich gebe, damit du gibst. Dann können die Regel der Gegenseitigkeit und sogar das Prinzip der Äquivalenz von ihrer anfänglichen Schande befreit werden, indem das neue Motiv der Großzügigkeit an die Stelle des alten Motivs des Eigennutzes tritt.
Warum sollte diese positive Auslegung der negativen Bewertung der Goldenen Regel durch ihre radikalen Gegner vorgezogen werden? Zunächst aus exegetischen Gründen, aber auch aus konzeptionellen und systematischen Gründen. Ich werde nicht auf die exegetischen Gründe eingehen, da dies nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Ich stelle lediglich im Anschluss an Hans Dieter Betz fest, dass die Bergpredigt bei Matthäus eine stark strukturierte Rede nach dem Vorbild der griechischen Epitome und Diatribe ist und dass die Goldene Regel in dieser subtilen Architektur einen zentralen Platz einnimmt: „Was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihnen auch; denn das ist das Gesetz und die Propheten“. Die Goldene Regel wird hier nicht nur zitiert, sondern in eine neue Ethik integriert. Dies wäre undenkbar, wenn sie nicht nach der neuen Logik des Überflusses, die durch die Feindesliebe besiegelt wird, umgedeutet werden könnte. Was die Zitierung der Goldenen Regel in Lukas 6,31 ist es kompositorisch und rhetorisch ökonomischer, die folgenden Verse (Lukas 6,32-35) als Demontage einer falschen Interpretation zu lesen, wie Betz vorschlägt.
Ich ziehe es jedoch vor, auf dem konzeptionellen und systematischen Argument zu bestehen, das den Kern unserer gesamten Untersuchung erreicht, nämlich die Neuinterpretation des Moralprinzips im Lichte der Symbolgruppen, die die religiöse Erfahrung von Juden und Christen strukturieren. Diese Neuinterpretation wird durch die Analogie ermöglicht, die in dem Satz zum Ausdruck kommt: Weil es dir gegeben ist, geh hin und tu es auch. Wie es euch gegeben ist, so geht und tut es auch. Aus dieser Analogie ergibt sich wiederum der Topos der imitatio Dei, von dem wir im jüdischen Kontext der Bergpredigt – „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matthäus 5,48) – und im eher hellenistischen Kontext der Bergpredigt – „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36) – lesen. Die Antwort des antwortenden Ichs wird von dieser Regel der Analogie bestimmt, die die Regel der Moral in die religiöse Perspektive bringt. Diese analoge Verbindung ermöglicht die Neuinterpretation der Goldenen Regel im Sinne der Ökonomie der Gabe.
Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen. Ich behaupte nicht, dass die Feindesliebe, die als Prüfstein der Logik des Überflusses gilt, und die Goldene Regel, die als höchster Ausdruck der Logik der Gleichwertigkeit gilt, übereinstimmen. Das eine ist unilateral. Die andere ist zweiseitig. Die eine erwartet keine Gegenleistung. Die andere legitimiert eine bestimmte Art von Gegenseitigkeit. Meine Behauptung – ja, mein Hauptpunkt – ist, dass die Spannung zwischen beiden wesentlich und zentral für eine echte christliche Ethik ist. Diese Spannung ist meines Erachtens eine Implikation der paradoxen Struktur der Logik des Überflusses, die, wie ich bereits angedeutet habe, neben dem ethischen Aspekt noch viele andere Anwendungen hat. Wir müssen also die Rhetorik des Paradoxen in der Logik des Überflusses in Betracht ziehen. Wie alle anderen Paradoxa soll auch das ethische Paradoxon verwirren, um neu zu orientieren, wie viele Kommentatoren über die Gleichnisse gesagt haben. Im Moment der Desorientierung ist die Ethik eher in der Schwebe als auf dem Boden, wie Kierkegaard es so perfekt verstanden hat. Dann entsteht eine Krise in der Mitte der Ethik. Man zweifelt an ihrem Anspruch, endgültig zu sein. Im besten Fall ist die Ethik nur vorletzte Instanz. Zu diesem Kierkegaardschen Moment gehört die Verweigerung der Goldenen Regel in ihrer wörtlichen Auslegung. Aber wie alle echten Paradoxien richtet sich das neue Gebot neu aus, indem es desorientiert. Diese Neuausrichtung besteht in der Entflechtung der Absicht der Regel von ihrer wörtlichen Auslegung. Ich habe bereits gesagt, wie dies geschehen kann, indem man das „damit (in order that)“ dem „weil (because)“ unterordnet, das im Primat der Gabe über die Pflicht enthalten ist. Die vorausgehende Großzügigkeit des „weil“ bewahrt die Goldene Regel vor der Perversion, die in dem prospektiven „damit“ steckt. Diese heilsame Motivation ist die Vernunft des Herzens schlechthin.
Warum ist diese Neuorientierung nun so wichtig? Aus einem grundsätzlichen Grund, den ich Ihnen zum Nachdenken vorlege: Weil eine Desorientierung ohne Neuorientierung auf eine ethische Leerstelle hinauslaufen würde. Aus dem nackten Gebot der Feindesliebe ließe sich kein Strafrecht, keine Gerechtigkeit im Allgemeinen ableiten. Welche Verteilung von Aufgaben, von Rollen, von Nutzen und Lasten, von Pflichten und Obliegenheiten – wie in Rawls’ Gerechtigkeitskonzept – könnte sich ergeben, wenn das Fehlen von Reziprozität zum Maßstab der Ethik würde? Welche ökonomische Fairness könnte sich aus dem Gebot „Leihe und erwarte nichts zurück“ ergeben?
In diesem Sinne ist das Gebot der Feindesliebe nicht ethisch, sondern supra-ethisch. Damit das Überethische nicht ins A-Moralische, wenn nicht gar ins Unmoralische umschlägt, muss es das in der Goldenen Regel zusammengefasste Prinzip der Moral neu interpretieren. Damit hebt das neue Gebot das Prinzip der Moral über sich selbst hinaus, bis nahe an seine Sollbruchstelle, bis zu dem Punkt, an dem es wieder ins Unmoralische umschlagen würde.
Das ist meines Erachtens der Hauptgrund, warum das neue Gebot die Goldene Regel nicht beseitigen kann und nicht an ihre Stelle treten sollte. Die sogenannte christliche Ethik – oder, ich möchte lieber sagen, die gemeinsame Ethik in religiöser Perspektive – beruht meines Erachtens auf dieser Spannung zwischen einseitiger Liebe und zweiseitiger Gerechtigkeit. Die praktischen Konsequenzen dieser gemeinsamen Ethik sind zahllos und durchaus machbar. Die Aufnahme eines Motivs der Barmherzigkeit und Großzügigkeit in alle unsere Gesetzbücher, Strafgesetzbücher und Gesetzbücher der sozialen Gerechtigkeit, stellt eine vernünftige, wenn auch schwierige und endlose Aufgabe dar. Die Goldene Regel wird auf diese konkrete Weise inmitten eines grundlegenden Konflikts zwischen Eigeninteresse und Selbstaufopferung formuliert. Die Exponenten beider Motivationen können sich auf dieselbe Regel berufen.
Lassen Sie mich abschließend einen wunderbaren Vers aus der Bergpredigt zitieren, der sozusagen den Mangel an Maß, der der Liebe eigen ist, und den Sinn für das Maß, der für die Gerechtigkeit charakteristisch ist, miteinander verbindet: „Gebt, und es wird euch gegeben werden; ein gutes Maß, niedergedrückt, zusammengeschüttelt, überfließend, wird in euren Schoß gelegt werden. Denn das Maß, das du gibst, wird das Maß sein, das du zurückbekommst“ (Lukas 6,38). Das ist die poetische Umsetzung der Rhetorik des Paradoxons: Der Überfluss wird zur verborgenen Wahrheit der Gleichwertigkeit. Die Goldene Regel wird wiederholt. Aber Wiederholung bedeutet Verklärung.
Auf Englisch unter dem Titel The Golden Rule. Exegetical and Theological Perplexities erschienen in: New Testament Studies 36 (1990), S. 392-397.
[1] Hauptvortrag, gehalten am 26. Juli 1989 auf der 44. Generalversammlung des SNTS in Dublin. Dieser Vortrag ist der letzte Teil der Frederick-Neumann-Vorlesung, die ich am 7. November 1988 am Princeton Theological Seminary gehalten habe. Im ersten Teil versuche ich zu zeigen, dass die Goldene Regel zu Recht als die Grundregel der Moral angesehen werden kann. Ich tue dies im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ von Kant. Im zweiten Teil erkläre ich, was ich mit religiöser Perspektive meine, indem ich die Begriffe der Gabe und der Ökonomie der Gabe als den überethischen Referenten des „Religiösen“ als solchen einführe.
[2] Auf exegetischer Ebene hat die Kontroverse technische Wendungen genommen. Wie ist Lukas 6,31 zu lesen? Als positive Bewertung der Goldenen Regel oder als bloßes Zitat, das einer weiteren Widerlegung unterzogen wird? Einigen Auslegern fällt auf, dass der erste Teil des Satzes im Indikativ steht: „Und was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“. Aber was ist mit der imperativen Stimmung der zweiten Hälfte? Manche vermuten einen verfälschten Text und verbinden 6,31 mit 6,32-35, indem sie lesen: „Und wenn ihr wollt, dass man euch tut, und ihr tut es ihnen (31), und wenn ihr die liebt, die euch lieben, was nützt euch das? Denn auch die Sünder lieben die, die sie lieben. (32)“ Siehe Reinhold Merkelbach, Über eine Stelle im Evangelium des Lukas, Grazer Beiträge 1 (1970) 171-175. Aber dann klafft eine große Lücke zwischen Lukas und Matthäus, der die Goldene Regel mit offensichtlicher Zustimmung zitiert. Um diese Kluft zu verringern, soll der Satz in Matthäus7,12 nicht als zentrales Element der Verkündigung Jesu gelten, sondern auf eine frühere gemeinsame Tradition zurückgeführt werden (ebd.). Die Schwierigkeiten, die mit diesen miteinander verbundenen Versuchen verbunden sind, würden beseitigt, wenn wir von einer positiveren Bewertung der Goldenen Regel ausgehen, wie ich später vorschlagen werde.
[3] Diese Bemerkung verdanke ich Werner Wolbert, „Die Goldene Regel und das jus talionis“, TT 7 (1986) 169-181.