Heinrich Böll, A propos Freude (1974): „Die hoffentlich mögliche Verzärtlichung der Theologie und ihrer Sprache schließt den großen Gegenspieler aus, der Freude, Witz, Ironie, Phan­tasie, wenn nicht direkt verhindert, aber gewiß höchst verdächtig findet: die innerkirchliche Ver­rechtlichung. Es gibt gewiß ein Recht auf Intimi­tät und Zärtlichkeit, aber verrechtlichen lassen sich beide nicht, und es ist und war so sinnlos wie kriminell, Fortpflanzung nicht nur zu wünschen, sondern geradezu vorzuschreiben.“

A propos Freude

Von Heinrich Böll

Die Bezeichnung der Freude als einer kommenden («Jetzt habt ihr Trauer, aber ihr werdet euch freuen»), nicht gegenwärtigen und nicht für die Gegen­wart zu erwartenden erscheint mir immer mehr als eine Falschmünzerei, bei der das Gold der Hoffnung im Inneren der Münze durch Gips er­setzt wird; es ist eine permanente, über Jahrhun­derte, Jahrtausende hinweggeschleppte Inflation, Verdünnung, Längung der Hoffnung, die aus dem Trost Vertröstung macht. Vertröstung, ausge­sprochen – was die Sache besonders peinlich macht – von denen, die auf dieser Erde durchaus ihren Trost und ihre Freuden schon erlangt hatten. Das «Ihr werdet euch freuen» wurde in die Zukunft oder in ein ewiges Leben verlagert, und doch hätte man daran denken oder drauf kommen können, daß auch jeder Tag seine Zukunft hat, sogar jede Stunde. Wenn man in den ersten christlichen Jahr­zehnten und Jahrhunderten die leibliche Wieder­kunft Christi als kurz bevorstehend erwartet hat, hätte doch die Verkörperung, Vergegenwärtigung des Menschgewordenen im Abendmahl (einer ge­meinsamen Mahlzeit, die man im Laufe der Jahr­hunderte zu einer abstrakten Abfütterung defor­miert hat), die gegenwärtige Freude nicht ausschlie­ßen müssen. Der tödliche Ernst, die Freudlosig­keit dieser rituellen Mahlzeit hat ja bis in die fürch­terliche Stummheit und den Todernst bürgerlicher Mahlzeiten hineingewirkt, deren Komposition fast ausschließlich auf den Geschmack des Herrn, des Hausherrn abgestimmt war. Man erinnere sich der magenkranken, neurotischen Kinder, die alles essen und alles aufessen mußten, auch wenn es ihnen beim allerbesten Willen nicht schmeckte. Es­sen war eine Pflicht, keine Freude – die Folge da­von: Übelkeit bis zum Erbrechen. Da wäre zu fra­gen: Wem hat die Hostie je geschmeckt? Dieser Reduzierung eines potentiell fröhlichen Familien­essens auf eine Pflicht entsprach eine andere: die Reduzierung des Geschlechtlichen auf eine Pflicht; es wurde für die Frauen eine Pflichtübung fürch­terlicher Art, zu einem bloß erduldeten «Akt», bei dem Freude zu empfinden als geradezu schamlos galt, fast als «hurenhaft», unlogischerweise, denn die meisten Dirnen müssen sich diese Freu­de ver­sagen. Diese schreckliche Deformation des Ge­schlechtlichen zur «ehelichen Pflicht» beruht wohl auf dem Mißverständnis, das Geschlechtliche diene lediglich der Fortpflanzung, und wiederum unlogischerweise, wo doch biologisch unmißverständlich feststeht, daß Fortpflanzung ohne ge­schlechtliche Erregung und Befriedigung des Mannes gar nicht möglich ist. Über dem «Inhalt» des Geschlechtlichen – Fortpflanzung mit den zwar notwendigen, aber doch peinlich übergangenen Details, vergaß man seine Form, und es müßte nicht erst jetzt, müßte immer schon nachdenklich gestimmt haben, daß die Gesellschaft so seltsam benannter Personen und Institutionen wie «Freu­denmädchen» und «Freudenhäuser» bedurfte, bei und in denen eben nur geschlechtliche Form und keine Inhalte getauscht wurde. Es ist genug dar­über gesagt, viel ge- und beklagt worden, und doch scheint immer noch über der Freude des Geschlechtlichen wie ein Bann heuchlerische Ver­kennung zu liegen. Daß es – unabhängig vom Inhalt, der ja – wie bei der Kunst – immer ge­schenkt ist – als Spiel Freude, als Form Spiel und Freude zugleich sein kann, wird geleugnet. Inzwi­schen ist dieses Thema wohl so kirchenintern, daß es kaum noch jemand interessiert, und doch muß ich in einer Diskussion über Freude dazu etwas sagen. Das «Jetzt habt ihr Trauer, aber ihr werdet euch freuen» muß auch auf die Geschlechtlichkeit beider Geschlechter bezogen werden. Das Beispiel des Kindes, das sich nach einer diktierten, stumm eingenommenen Pflichtmahlzeit, die ihm nicht ge­schmeckt hat, erbricht, läßt sich beliebig variieren: warum denn sehen manche der «sexuellen Be­freier» und «Befreiten» so «ausgekotzt» aus?

Was der bis dato christlichen Verkündigung al­ler Provenienz gefehlt hat, ist Zärtlichkeit, verbale, erotische, und – ja – theologische Zärtlichkeit (Nebengedanke: man denke sich einmal so etwas wie «politische Zärtlichkeit» aus!).

Die hoffentlich mögliche Verzärtlichung der Theologie und ihrer Sprache schließt den großen Gegenspieler aus, der Freude, Witz, Ironie, Phan­tasie, wenn nicht direkt verhindert, aber gewiß höchst verdächtig findet: die innerkirchliche Ver­rechtlichung. Es gibt gewiß ein Recht auf Intimi­tät und Zärtlichkeit, aber verrechtlichen lassen sich beide nicht, und es ist und war so sinnlos wie kriminell, Fortpflanzung nicht nur zu wünschen, sondern geradezu vorzuschreiben, und gleichzeitig auf der Trennung von Form und Inhalt der menschlichen Geschlechtlichkeit zu bestehen, die Freude augenzwinkernd auf gesellschaftliche Außenbezirke zu verlagern, in denen gegen Be­zahlung Barmherzigkeit am Geschlecht der Men­schen geübt wird. Gewiß gibt es auch den Bezirk der geschlechtlichen Barmherzigkeit, aber auch in ihm ist Verrechtlichung unmöglich, Pflicht tödlich und Bezahlung mörderisch, wenn die «Gegen­leistung» Freude sein soll. Ich mag mir nicht vor­stellen, wieviel freudlose Ehen und wieviel Mil­liarden freudloser ehelicher Pflichtübungen es ge­geben haben könnte: ganze Kontinente voller formloser bzw. ungeformter Inhalte. Das pein­liche an Huma­nae Vitae war ja nicht der Versuch, den Menschen Ratschläge zu erteilen in einer Sache, in der sie wirklich des Rates und des Trostes be­dürfen; Ratschläge zu geben hat jeder Bischof, also auch der Bischof von Rom, ein Recht, pein­lich war in diesem Text die weitere und immer weiter betriebene Verkennung des Geschlechtli­chen als nur der Fortpflanzung dienend. In dieser Verkennung verbirgt sich außerdem ein grober Materialismus; gerade weil der Mensch keine bloß materielle oder materialistisch bestimmte Existenz ist, bedarf er ja des Spiels, der Formen, der Phan­tasie, des Witzes, auch der Ironie, und die Bezie­hung der Geschlechter auf den bloßen Austausch jener «Materialien» zu beschränken, die zur Fort­pflanzung führen, ist Materialismus und eine Auf­forderung zum bloßen Schlagabtausch, die weder Heil, Heilung noch Freude bringt.

Es bedarf keiner großen psychologischen oder psychiatrischen Erfahrung, es bedarf nur eines Ansatzes von Phantasie, um zu ahnen, für wie viele Menschen die Freudlosigkeit ihrer Geschlechtlich­keit zur Krankheit gereicht hat – und wieviel durch die Freude daran geheilt worden sind, so wie ge­wiß viele Menschen an der Freudlosigkeit ihrer Mahlzeiten erkranken oder durch ein fröhliches Essen geheilt werden. «Jetzt habt ihr Trauer, aber ihr werdet euch freu­en.» An einem Mann, an einer Frau, an eurem Mann, an eurer Frau und mit ihm oder ihr. Die Herstellung des Materials Freude ist nicht gesetzlich zu regeln, weder durch weltliche noch durch kirchliche Gesetze.

HEINRICH BÖLL

geboren am 21. Dezember 1917 in Köln, freier Schriftsteller Präsident des Internationalen PEN. Er erhielt verschiedene Literaturpreise, 1972 den Nobelpreis für Literatur. Von sei­nen Veröffentlichungen seien genannt: Der Zug war pünkt­lich (1949), Und sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954), Ansichten eines Clowns (1963), Entfernung von der Truppe (1964), Gruppenbild mit Dame (1971).

Quelle: Concilium 10 (1974), S. 378f.

Hier der Text als pdf.

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