Von Heinrich Böll
Die Bezeichnung der Freude als einer kommenden («Jetzt habt ihr Trauer, aber ihr werdet euch freuen»), nicht gegenwärtigen und nicht für die Gegenwart zu erwartenden erscheint mir immer mehr als eine Falschmünzerei, bei der das Gold der Hoffnung im Inneren der Münze durch Gips ersetzt wird; es ist eine permanente, über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweggeschleppte Inflation, Verdünnung, Längung der Hoffnung, die aus dem Trost Vertröstung macht. Vertröstung, ausgesprochen – was die Sache besonders peinlich macht – von denen, die auf dieser Erde durchaus ihren Trost und ihre Freuden schon erlangt hatten. Das «Ihr werdet euch freuen» wurde in die Zukunft oder in ein ewiges Leben verlagert, und doch hätte man daran denken oder drauf kommen können, daß auch jeder Tag seine Zukunft hat, sogar jede Stunde. Wenn man in den ersten christlichen Jahrzehnten und Jahrhunderten die leibliche Wiederkunft Christi als kurz bevorstehend erwartet hat, hätte doch die Verkörperung, Vergegenwärtigung des Menschgewordenen im Abendmahl (einer gemeinsamen Mahlzeit, die man im Laufe der Jahrhunderte zu einer abstrakten Abfütterung deformiert hat), die gegenwärtige Freude nicht ausschließen müssen. Der tödliche Ernst, die Freudlosigkeit dieser rituellen Mahlzeit hat ja bis in die fürchterliche Stummheit und den Todernst bürgerlicher Mahlzeiten hineingewirkt, deren Komposition fast ausschließlich auf den Geschmack des Herrn, des Hausherrn abgestimmt war. Man erinnere sich der magenkranken, neurotischen Kinder, die alles essen und alles aufessen mußten, auch wenn es ihnen beim allerbesten Willen nicht schmeckte. Essen war eine Pflicht, keine Freude – die Folge davon: Übelkeit bis zum Erbrechen. Da wäre zu fragen: Wem hat die Hostie je geschmeckt? Dieser Reduzierung eines potentiell fröhlichen Familienessens auf eine Pflicht entsprach eine andere: die Reduzierung des Geschlechtlichen auf eine Pflicht; es wurde für die Frauen eine Pflichtübung fürchterlicher Art, zu einem bloß erduldeten «Akt», bei dem Freude zu empfinden als geradezu schamlos galt, fast als «hurenhaft», unlogischerweise, denn die meisten Dirnen müssen sich diese Freude versagen. Diese schreckliche Deformation des Geschlechtlichen zur «ehelichen Pflicht» beruht wohl auf dem Mißverständnis, das Geschlechtliche diene lediglich der Fortpflanzung, und wiederum unlogischerweise, wo doch biologisch unmißverständlich feststeht, daß Fortpflanzung ohne geschlechtliche Erregung und Befriedigung des Mannes gar nicht möglich ist. Über dem «Inhalt» des Geschlechtlichen – Fortpflanzung mit den zwar notwendigen, aber doch peinlich übergangenen Details, vergaß man seine Form, und es müßte nicht erst jetzt, müßte immer schon nachdenklich gestimmt haben, daß die Gesellschaft so seltsam benannter Personen und Institutionen wie «Freudenmädchen» und «Freudenhäuser» bedurfte, bei und in denen eben nur geschlechtliche Form und keine Inhalte getauscht wurde. Es ist genug darüber gesagt, viel ge- und beklagt worden, und doch scheint immer noch über der Freude des Geschlechtlichen wie ein Bann heuchlerische Verkennung zu liegen. Daß es – unabhängig vom Inhalt, der ja – wie bei der Kunst – immer geschenkt ist – als Spiel Freude, als Form Spiel und Freude zugleich sein kann, wird geleugnet. Inzwischen ist dieses Thema wohl so kirchenintern, daß es kaum noch jemand interessiert, und doch muß ich in einer Diskussion über Freude dazu etwas sagen. Das «Jetzt habt ihr Trauer, aber ihr werdet euch freuen» muß auch auf die Geschlechtlichkeit beider Geschlechter bezogen werden. Das Beispiel des Kindes, das sich nach einer diktierten, stumm eingenommenen Pflichtmahlzeit, die ihm nicht geschmeckt hat, erbricht, läßt sich beliebig variieren: warum denn sehen manche der «sexuellen Befreier» und «Befreiten» so «ausgekotzt» aus?
Was der bis dato christlichen Verkündigung aller Provenienz gefehlt hat, ist Zärtlichkeit, verbale, erotische, und – ja – theologische Zärtlichkeit (Nebengedanke: man denke sich einmal so etwas wie «politische Zärtlichkeit» aus!).
Die hoffentlich mögliche Verzärtlichung der Theologie und ihrer Sprache schließt den großen Gegenspieler aus, der Freude, Witz, Ironie, Phantasie, wenn nicht direkt verhindert, aber gewiß höchst verdächtig findet: die innerkirchliche Verrechtlichung. Es gibt gewiß ein Recht auf Intimität und Zärtlichkeit, aber verrechtlichen lassen sich beide nicht, und es ist und war so sinnlos wie kriminell, Fortpflanzung nicht nur zu wünschen, sondern geradezu vorzuschreiben, und gleichzeitig auf der Trennung von Form und Inhalt der menschlichen Geschlechtlichkeit zu bestehen, die Freude augenzwinkernd auf gesellschaftliche Außenbezirke zu verlagern, in denen gegen Bezahlung Barmherzigkeit am Geschlecht der Menschen geübt wird. Gewiß gibt es auch den Bezirk der geschlechtlichen Barmherzigkeit, aber auch in ihm ist Verrechtlichung unmöglich, Pflicht tödlich und Bezahlung mörderisch, wenn die «Gegenleistung» Freude sein soll. Ich mag mir nicht vorstellen, wieviel freudlose Ehen und wieviel Milliarden freudloser ehelicher Pflichtübungen es gegeben haben könnte: ganze Kontinente voller formloser bzw. ungeformter Inhalte. Das peinliche an Humanae Vitae war ja nicht der Versuch, den Menschen Ratschläge zu erteilen in einer Sache, in der sie wirklich des Rates und des Trostes bedürfen; Ratschläge zu geben hat jeder Bischof, also auch der Bischof von Rom, ein Recht, peinlich war in diesem Text die weitere und immer weiter betriebene Verkennung des Geschlechtlichen als nur der Fortpflanzung dienend. In dieser Verkennung verbirgt sich außerdem ein grober Materialismus; gerade weil der Mensch keine bloß materielle oder materialistisch bestimmte Existenz ist, bedarf er ja des Spiels, der Formen, der Phantasie, des Witzes, auch der Ironie, und die Beziehung der Geschlechter auf den bloßen Austausch jener «Materialien» zu beschränken, die zur Fortpflanzung führen, ist Materialismus und eine Aufforderung zum bloßen Schlagabtausch, die weder Heil, Heilung noch Freude bringt.
Es bedarf keiner großen psychologischen oder psychiatrischen Erfahrung, es bedarf nur eines Ansatzes von Phantasie, um zu ahnen, für wie viele Menschen die Freudlosigkeit ihrer Geschlechtlichkeit zur Krankheit gereicht hat – und wieviel durch die Freude daran geheilt worden sind, so wie gewiß viele Menschen an der Freudlosigkeit ihrer Mahlzeiten erkranken oder durch ein fröhliches Essen geheilt werden. «Jetzt habt ihr Trauer, aber ihr werdet euch freuen.» An einem Mann, an einer Frau, an eurem Mann, an eurer Frau und mit ihm oder ihr. Die Herstellung des Materials Freude ist nicht gesetzlich zu regeln, weder durch weltliche noch durch kirchliche Gesetze.
HEINRICH BÖLL
geboren am 21. Dezember 1917 in Köln, freier Schriftsteller Präsident des Internationalen PEN. Er erhielt verschiedene Literaturpreise, 1972 den Nobelpreis für Literatur. Von seinen Veröffentlichungen seien genannt: Der Zug war pünktlich (1949), Und sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954), Ansichten eines Clowns (1963), Entfernung von der Truppe (1964), Gruppenbild mit Dame (1971).
Quelle: Concilium 10 (1974), S. 378f.