Über die anstehende Trauerfeier infolge der eigenen tödlichen Tumorerkrankung
Von Peter Noll
Ich überlege, was ich eigentlich gedacht habe, als der Urologe mir den Befund erklärte. Er sass mir gegenüber am Schreibtisch, die Handflächen aufeinander gelegt, aber nicht wie zum Gebet, sondern mit den Handkanten auf dem Tisch. Mein Hauptgedanke war wohl: es lohnt sich nicht. Es war jedenfalls kein Schock. Auch später nicht. Eher das Gefühl: Pech gehabt. Kein Aufbäumen, keine Verzweiflung. Jedoch der Tumor scheint nicht nur den Körper, sondern auch die Gedanken zu absorbieren. Immer ist er mit dabei, wenn auch unbewusst. Die Konzentrationsfähigkeit hat nicht nachgelassen.
Schon bald nach dem Befund kam mir wie eine Erlösung der Gedanke, mein Tod solle zelebriert werden, vielleicht schon auf der letzten Strecke des Weges vom Tumor zum Tod, sicher aber nach dem Tod. Ich bin Mitglied der Grossmünstergemeinde. In dieser Kirche, die nur so heisst, weil sie eben die grösste ist in dieser Stadt, soll die Trauerfeier stattfinden. Der Gemeinde soll mitgeteilt werden, was ich denke über Sterben und Tod und wie ich das Sterben erlebt habe. Es soll eine Aufforderung an das Publikum sein, sich mit dem – abgesehen von der Geburt – wichtigsten Ereignis auseinanderzusetzen. Nichts soll vertuscht, nichts verharmlost werden, auch den Ausweg der Verdrängung möchte ich versperren. Auch das fromme Tun als ob. Der hastig wie zwischen alten Kleidern hervorgeholte Gelegenheitsglaube, für die meisten allerhöchstens eine vage Hoffnung, die sie sich eventuell für den letzten Moment aufsparen. Eine Verhöhnung für den christlichen Glauben, der ja gelebt, nicht gestorben wird. Wir alle kommen ja nur noch zu Beerdigungen in eine Kirche. Der Pfarrer weiss genau, was das Publikum von ihm erwartet. Er spricht vom lieben Verstorbenen, vom Dahingegangenen oder gar Verblichenen, er tröstet und bagatellisiert, er nennt die Stellen aus der Bibel, an denen von Erlösung und ewigem Leben gesprochen wird. Er spricht nicht von der Grausamkeit des Sterbens, nicht von der dunklen Unfassbarkeit des Todes. Kein Begräbnisritual kann daran etwas ändern. Leben kann nicht nur, Leben will auch nicht den Tod kennen, kann es nicht wollen, Leben kann nur leben wollen. Ohne diesen geheimnisvollen Zwang der Natur zum Lebenwollenmüssen gäbe es längst kein Leben mehr. Der Lebensdrang wird um so stärker, je grösser Not und Gefahr. Darum so wenige Selbstmorde in Konzentrationslagern. Offenbar bringt man sich leichter um, wenn die äusseren Bedingungen in Ordnung sind; es fehlt der Zwang, das Leben aus Not und Gefahr zu retten.
Max Frisch findet es nicht geschmacklos, dass ich meinen Tod öffentlich zelebrieren lassen will. Wir waren am Sonntag (27. Dezember) zum Nachtessen in den «Zimmerleuten», nach einem Gang durch die fast leere Stadt. Die «Zimmerleuten» sind in den letzten Jahren mein Lieblingslokal geworden, sie zeigen die freundliche Seite des kleinstädtisch-bürgerlichen, konservativen Zürich. Frisch spricht von Freitod im Gegensatz zu Selbstmord. Für ihn ist das, wie ich mich jetzt wieder erinnere, seit langem ein zentrales Thema. Der Selbstmörder handelt im Affekt, erschiesst sich zum Beispiel, nachdem ihn die Freundin verlassen hat, oder er stürzt sich aus dem Fenster. Derjenige, der den Freitod wählt, begeht seine Handlung (oder in meinem Fall: Unterlassung) überlegt, nach Abwägung aller Umstände. Unwillkürlich muss ich an die strafrechtliche Unterscheidung zwischen Mord (mit Überlegung) und Totschlag (im Affekt) denken. Wer im Affekt handelt, ist weniger schuldig. Lässt sich diese Vorstellung auf die Selbsttötung übertragen? Nach alten religiösen Überzeugungen würde sicher so geurteilt. Hinter meinem Entschluss steht vielleicht zuviel Stolz und Hochmut. Wahrscheinlich sogar Lebensverachtung. Kann sein, dass ich meinen Entscheid wieder kassiere. Der dunkle Wald hinter dem zugeschneiten Seelein und der weisse Hang gegen Falera sind so schön, dass ich das alles noch lange sehen möchte. Auch wenn mein Unterleib verstümmelt ist, die Blase weg, die sexuelle Potenz ebenfalls. In jedem Fall hätte ich nach einer Radikaloperation noch zwei bis drei Jahre, im günstigsten Fall mehr als die kritischen fünf Jahre. Christoph versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich alle Informationen sammle, die für den Entscheid nötig sind, vor allem das Computertomogramm machen lasse. Das werde ich nun auch tun. Nur glauben wir beide nicht an einen Befund, der die kleine Lösung, Teilresektion der Blase, zulassen würde. Trotzdem können wir einander nicht überzeugen. Er bleibt dabei, dass das Leben mit dem Plastiksack auf dem Bauch von ausreichender Qualität sei.
Aus dem Diktat vom 29. Dezember 1981.
Quelle: Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod, Zürich: pendo, 1984, S. 12-15.