Von der Staatsvergottung zur Staatsverspottung
Von Erhard Eppler
Staat: berechenbar – unberechenbar
Was Menschen zum Thema „Staat“ zu sagen haben, hängt davon ab, mit welcher Art von Staat sie zu tun haben. Dies gilt sogar für den Apostel Paulus. Der römische Staat in der frühen Kaiserzeit bedeutete für die Unterworfenen rund um das Mittelmeer – und zu ihnen gehörten die Juden – ein hartes Regiment. Die Todesstrafe, die es in einer Demokratie nicht geben kann, wurde schnell und in ihrer grausamsten Form öffentlich vollstreckt, und dies auch für Vergehen gegen den Kaiser.
Trotzdem hatte Paulus Grund zu der Überzeugung, dass dieser römische Staat besser war als kein Staat, besser als alles, was die „Barbaren“ rund um das Römische Reich zu bieten hatten. Es gab Gesetze, es gab ein Recht, das den Bürgern – und den unterworfenen Nicht-Bürgern – bekannt war, an das man sich zu halten hatte. Der Staat hatte sein Gewaltmonopol durchgesetzt, duldete keine andere Gewalt. Aber er war in der Ausübung dieses Gewaltmonopols einigermaßen berechenbar. Das gesetzte Recht entsprach nicht immer dem, was wir heute für rechtens halten, aber man wusste wenigstens, wann und wofür man mit Strafe zu rechnen hatte. Wer Römischer Bürger, cives romanus, war, hatte Privilegien, und auch die waren allgemein bekannt, man konnte sich darauf verlassen. Paulus war, anders als Jesus und seine Jünger, römischer Bürger und hat sich im Notfall auch darauf berufen.
Es ist die Vermutung eines Historikers, nicht eines Theologen, dass die berühmte Anweisung an die Gläubigen in Römer 13 mit den Erfahrungen des Apostels im Römischen Reich zu tun hat. Verglichen mit der Rechtsunsicherheit, der eher chaotischen Gewalt außerhalb des römischen Reiches, war eine stabile, berechenbare, wenn auch harte Obrigkeit ein Geschenk Gottes. „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“ Das geht weit über das hinaus, was von Jesus überliefert ist.
Das „Wo aber Obrigkeit ist …“ erinnert daran, dass es eben auch Landstriche ohne eine erkennbare, anerkannte, berechenbare Obrigkeit gibt, und die liegen außerhalb des Römischen Reiches. Sicher, Paulus wollte die römische Obrigkeit beruhigen, besänftigen. Der Missionar hatte genug Feinde. Aber er war wohl auch davon überzeugt, dass jeder geordnete Staat mit verlässlichem, geschriebenem Recht dem Nicht-Staat vorzuziehen sei, ja dass Gott den geordneten Staat mit verlässlichem Recht als Gabe für die Menschenkinder erschaffen habe.
Paulus beruft sich nicht auf Jesus, auch nicht auf das Alte Testament. Er nimmt eigene Autorität in Anspruch. Er hätte dies wohl nicht tun können, wenn seine Anweisung jeder vernünftigen Überlegung widersprochen hätte. Diese Überlegung gilt bis heute. Was war für die Menschen im Irak schlimmer, die Diktatur des grausamen Saddam Hussein oder das Gewaltchaos, das die Amerikaner angerichtet haben – und das übrigens mit wochenlangen Plünderungen, also entfesselter Kriminalität, unter den Augen der US-Soldaten begann?
Staat: stark – schwach
Die Kirchen haben Römer 13 sehr ernst genommen. Paulus hat damit das konstantinische Bündnis von Kirche und Staat vorbereitet, dem Gottesgnadentum der frühen Neuzeit die theologische Grundlage geliefert, und er hat, vor allem in den lutherischen Kirchen, zu einer Staatsfrömmigkeit geführt, die noch den Widerstand gegen Hitler in Gewissenskonflikte führte. Heute feiern wir Dietrich Bonhoeffer, weil er nicht mehr glauben konnte, Hitlers Herrschaft sei von Gott. Aber das ist ganz neu. Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg galt Bonhoeffer, etwa im Gegensatz zu Paul Schneider, als politischer Verschwörer. Das Todesurteil gegen ihn wegen Hochverrats folgte danach dem bis dahin gültigen Recht.
Dass Bonhoeffer heute sogar in der katholischen Kirche wie ein Heiliger verehrt wird, ist nicht nur die Folge einer kritischeren Sicht auf das NS-Regime, vor allem die NS-Justiz, es spiegelt auch eine neue Distanz zum Staat. Nicht jeder Staat hat Anspruch auf die Loyalität des Christen. Der totalitäre Staat des 20. Jahrhunderts, der das staatliche Gewaltmonopol zum Mordmonopol verkommen ließ, ist keine Obrigkeit von Gott. Christen bleiben aufgefordert, dafür einzutreten, dass eine solche „Obrigkeit“ nie wieder Gewalt über uns haben kann. Wer große Teile des 20. Jahrhunderts bewusst erlebt hat, wird einen Staat immer wieder danach beurteilen, ob er in Gefahr ist, totalitär zu werden. Er wird hellhörig und argwöhnisch, wenn vom starken Staat die Rede ist.
Er kann nur noch schwer verstehen, dass der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel den modernen Staat – gemeint war der monarchische Rechtsstaat des frühen 19. Jahrhunderts – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ gefeiert hat. Von da war es nur ein kleiner Schritt zur Staatsvergottung. Zum Staat als Gott, dem auch Menschenopfer zustehen.
Heute wird der Staat und die Menschen, die ihn repräsentieren, eher mit Karrierismus, Machtmissbrauch, ja Korruption verbunden. Viel Stoff fürs Kabarett. Der Staat hat sich im 20. Jahrhundert so gründlich diskreditiert, dass aus der Staatsvergottung die Staatsverspottung geworden ist. Dass es denen, die gewählt wurden, den Staat zu regieren, um das gemeine Wohl geht, glaubt nur noch eine Minderheit. Galt für Hegel der Staat als Garant der Freiheit, so findet heute die These Anklang: „Je schwächer der Staat, desto freier der Bürger.“
Staat machtlos
Der Staat des 20. Jahrhunderts verstand sich in Europa und darüber hinaus als Nationalstaat. Dieser Nationalstaat hat sich durch die unvorstellbaren Gemetzel zweier Weltkriege diskreditiert. Es war konsequent und richtig, dass er danach einen Teil seiner Souveränität auf die europäische Gemeinschaft übertrug. Was immer man an der EU kritisieren mag, sie hat Kriege zwischen europäischen Staaten praktisch unmöglich gemacht. Und das ist eine gewaltige Leistung.
Seit der Implosion des Kommunismus ist es vor allem die Globalisierung, die diesem Staat zusetzt. Nicht die Globalisierung der Warenmärkte, daran hatten sich Länder wie Deutschland, die Niederlande oder Frankreich längst gewöhnt. Was den Nationalstaat zum Standort degradiert, ist die Globalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte. Für Konzerne steht der ganze Globus offen, wenn sie investieren wollen. Dieser Globus verfügt über unterschiedliche Standorte, die alle ihre Vorteile und Nachteile haben. Was ein Vorteil, was ein Nachteil ist, entscheiden die Gewinnerwartungen. Meist sind es die kurzfristigen Gewinnerwartungen der Aktionäre, zumal der Großaktionäre in den diversen Fonds. Da zählt Ausbildung, Motivation der Arbeiter und ihre Arbeitsdisziplin, da zählen Verkehrsnetze, Telekommunikation, aber noch mehr Löhne und Steuern. Wenn unsere Löhne in den letzten 20 Jahren kaum, die Vorstandsgehälter dafür in luftige Höhen gestiegen sind, dann hat das damit zu tun, dass die Löhne der Arbeiter mit denen ihrer Kollegen in Tschechien, der Ukraine oder gar China konkurrieren müssen, während die Vorstände meinen, sie müssten mit ihren Kollegen in den USA Schritt halten. Wenn die Mehrwertsteuer deutlich erhöht, die Unternehmenssteuern aber gesenkt werden, dann nicht, weil das Gerechtigkeitsgefühl des Finanzministers defekt wäre, sondern weil der Mehrwertsteuer niemand entfliehen kann, während hohe Unternehmenssteuern dazu führen, dass weniger Investitionen weniger Arbeitsplätze schaffen, ja dass Betriebe verlagert werden. Kein Finanzminister kann sich einfach ausklinken aus dem Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern, in den ein global agierendes Kapital die Nationalstaaten hineingezwungen hat. Nicht was die Regierung für gerecht hielte, wird Gesetz, sondern was das Land „wettbewerbsfähig“ macht. Bei vielen Bürgern ist dieser deprimierende Tatbestand noch nicht angekommen, zumal Politiker aller Parteien nicht gerne über ihre eigene Machtlosigkeit reden. Würden sie es tun, so müssten sie die Frage riskieren: „Wozu wählen wir Euch, wenn Ihr Euch nachher doch den Zwängen eines globalisierten Kapitalmarkts fügen müsst?“ Ob Politiker es zugeben oder nicht, die Menschen spüren, dass Demokratie nur noch eingeschränkt die Herrschaft des Volkes, der Wähler bedeutet.
Schwacher Staat – freie Bürger?
Der im 20. Jahrhundert diskreditierte Nationalstaat verliert also im 21. Jahrhundert an Entscheidungskompetenz und damit an Macht. Na und? Genau dies sei gut für die Märkte, das Wachstum, den Welthandel, den Wohlstand und damit für uns alle, hämmern uns seit zwei Jahrzehnten die Marktradikalen ein. Wenn es stimmt, dass im 20. Jahrhundert die Menschen umso unfreier wurden, je totaler der Staat sich gebärdete, dann muß im 21. Jahrhundert doch auch das Umgekehrte gelten: Je schwächer der Staat, desto freier der Bürger.
Das war auch die Leitlinie des so genannten „Washington Consensus“, an den sich über Jahrzehnte die Weltbank und vor allem der Internationale Währungsfonds hielten, wenn sie Ländern in Lateinamerika oder Afrika ihre „Anpassungsprogramme“ auferlegten. Weniger Geld für Bildung, Polizei, Justiz, Soziales, dafür niedrigere Steuern. Da aber die Staaten des Südens ohnehin schwach auf der Brust waren, wurden sie nicht sportlich schlank, sondern schwindsüchtig krank, und da sie ihren Bürgern und vor allem ihren Bürgerinnen keinen Schutz, keine Schulen für die Kinder, kein sauberes Wasser mehr bieten konnten, wurde es unerheblich, ob ein Dorf von der Zentralregierung oder vom nächsten Warlord und seinen Söldnern beherrscht wurde. Die Staaten zerfielen, vor allem in Afrika.
Dabei machten die Bürger und noch mehr die Bürgerinnen die Erfahrung: Sie wurden nicht frei, sondern Freiwild für eine verwilderte Soldateska. Wo kein Staat mehr Recht setzen kann, gilt das Recht des Stärkeren, und das heißt heute: der Kalaschnikow. Opfer sind vor allem die Schwachen, Kinder und Frauen. Im Kongo ist es vorgekommen, dass Mütter ihre 12-jährigen Kinder freiwillig den Warlords als Kindersoldaten überließen, mit der schauerlichen Begründung, dort seien sie allemal noch sicherer als bei ihnen. Wer als Europäer den Staatszerfall im Süden beobachtete, wurde plötzlich gewahr, dass der Staat sich gar nicht von selbst verstand. Er war keine Katze, die, wohin man sie wirft, immer wieder auf die Füße fällt. Er war ein Produkt menschlicher Kultur, und wie alle solche Errungenschaften gefährdet, hinfällig, pflegebedürftig.
Dazu kam, dass die Marktradikalen in den USA nicht mehr nur propagierten, dass weniger Staat mehr Freiheit und Wohlstand bedeute. Sie ließen erkennen, was ihr Ziel war: Der Marktstaat. Die ganze Weltgeschichte laufe zu auf den Marktstaat, steht in einem 800-Seiten-Buch des amerikanischen Historikers und Präsidentenberaters Philipp Bobbit. Der Marktstaat ist nur noch zuständig für das Funktionieren der Märkte, des Warenmarkts, des Arbeitsmarkts, des Versicherungsmarkts, des Bildungsmarkts, ja sogar des Sicherheitsmarkts. Diese Märkte müssen dem Bürger „opportunities“, Gelegenheiten, Schnäppchen bieten. Der Bürger hat die Freiheit, sie zu nutzen – oder auch nicht. Will oder kann er es nicht, so ist der Staat nicht mehr zuständig. Arbeitsmarkt: Für die Arbeitslosen ist der Staat nicht mehr zuständig. Sicherheitsmarkt: Jeder kann sich bei einer Sicherheitsagentur Sicherheit vor Verbrechen kaufen – oder auch nicht. Das geht dann an den Kern jedes Staates, sein Gewaltmonopol. An seine Stelle tritt der Gewaltmarkt.
Seither wird für immer mehr Menschen klar, dass manche Marktradikalen so etwas wie einen umgekehrten Kommunismus propagieren und oft auch praktizieren. Hatten die Kommunisten versucht, den Markt durch Staat, also Beschlüsse eines Politbüros, ausgeführt durch Bürokratie, zu ersetzen, so soll nun, so weit dies irgend geht, der Staat durch den Markt ersetzt werden. Sicher, es soll ja auch im Marktstaat so etwas wie Staat geben, aber ist der handlungsfähig, lebensfähig? Will er Demokratie sein, worüber sollen die Parlamente diskutieren? Renten? Jeder kann sich versichern. Wer es nicht tut, ist selbst schuld. Bildung? Für jedes Kind kann man Bildung kaufen, gute, sehr gute, notfalls miserable Schulen, je nach Geldbeutel. Und wer sich von Kriminalität bedroht fühlt, kennt ja die Telefonnummern der Sicherheitsfirmen. Die Bürgerin wird zur Kundin.
Politik wird nicht verboten, sie verliert ihren Gegenstand, wird gegenstandslos. Es gehört schon einige Naivität dazu, sich einen solchen Staat vorzustellen. Er müsste am Desinteresse seiner Bürger zugrunde gehen, die sich dann als Kunden wieder finden.
Beginnende Ernüchterung
Der Widerstand gegen die marktradikale Abwertung des Staates hat in Lateinamerika begonnen, auf einem Kontinent, der erfahren hat, was es bedeutet, wenn das staatliche Gewaltmonopol zerbröselt, wenn, wie in den Ballungsräumen von Rio oder Sao Paolo, jedes Jahr viele tausend Menschen eines gewaltsamen Todes sterben, umgekommen in Bandenkriegen, durch Todesschwadronen oder Drogenmafia. Inzwischen verebbt die marktradikale Welle auch in Europa. Jetzt wird wieder gefragt, ob der Markt all das kann, was man ihm zutraut, was die unaufgebbaren Staatsaufgaben sind, wozu der Staat nötig, wo er unersetzlich ist. Die christliche Soziallehre wird wieder modern.
Es wird auch klar, dass alles, was dem Markt übergeben wird, zur Ware wird, die einige kaufen können, andere nicht, dass also keineswegs alle Bürgerinnen zu Kundinnen werden, sondern nur die kaufkräftigen.
Dass Autos, Kühlschränke, aber auch Brot und Käse Sache des Marktes sind, bestreitet niemand mehr. Der Wettbewerb der Bäcker um das schmackhafteste und gesündeste Brot ist allemal besser als das staatlich verordnete Einheitsbrot. Aber wie ist das mit der Bildung? Sie ist ein Menschenrecht, dem zu dienen der Staat verpflichtet ist, keine Ware. Sicherheit? Sie ist eine Bringschuld des Staates als Ausgleich für sein Gewaltmonopol. Es kann keine ungerechtere Gesellschaft geben als eine, in der die Sicherheit zur käuflichen Ware wird. Vorsorge für Krankheit und Alter? Natürlich hat jede und jeder die Pflicht, sich selbst darum zu bemühen. Aber was wird aus denen, die das nicht können? Wenn die körperliche Unversehrtheit ein Menschenrecht ist, dann ist der Staat auch dafür verantwortlich, dass niemand hungert. Wenn die Würde des Menschen Staatsziel ist, dann darf der Staat menschenunwürdige Verhältnisse nicht dulden. Kultur? Wenn nur noch stattfände, was sich am Markt unmittelbar auszahlt, dann könnten wir unsere großen Theater schließen und unsere philharmonischen Orchester nach Hause schicken. Übrig blieben vielleicht ein paar Musicals. Der Staat hat zwar nicht zu entscheiden, was Kunst ist, wohl aber dafür zu sorgen, dass alle Formen von Kunst möglich sind. Er hat nicht zu verordnen, was die richtige Philosophie oder gar die richtige Religion ist, aber er hat die Lehrstühle zur Verfügung zu stellen, auf denen darüber gearbeitet und diskutiert werden kann. Der Staat ist für Wahrheit nicht zuständig, wohl aber für die Bedingungen der Wahrheitsfindung. Der Staat ist dafür zuständig, dass nicht zur Ware wird, was nicht zur Ware werden darf. Er ist dafür verantwortlich, dass die politische Auseinandersetzung darüber, wie wir leben wollen, in Freiheit möglich ist. Er darf nie versuchen, den Markt zu ersetzen, aber er muß ihm den Rahmen zimmern, innerhalb dessen er dem Gemeinwohl besser dienen kann. Wenn eine Klimakatastrophe droht, dann muß der Staat die Autoindustrie zwingen, Autos mit geringerem Ausstoß von Treibhausgasen zu bauen. Der Markt ist kurzfristig hocheffizient, aber er kennt weder ein soziales Gewissen noch Rücksicht auf die kommenden Generationen.
Demokratischer Staat – verantwortliche Bürger
Was bedeutet dies für unseren Alltag? Zum Beispiel, dass wir nicht mehr nach der Devise handeln, der Markt sei immer klüger als der Staat. Dass wir, wenn die Privatisierung der Stadtwerke zur Debatte steht, nicht nur fragen, was dies den Bürgern bringe, was der Stadthaushalt davon habe, sondern auch, was dies für die kommunale Selbstverwaltung bedeute. Was bleibt für die kommunale Demokratie – die Basis aller Demokratie -, wenn die Stadtwerke, die städtische Klinik verkauft sind, der Nahverkehr und die Stadtgärtnerei privatisiert ist? Immer weniger, vor allem dann, wenn die Stadtväter und -mutter wirklich geglaubt haben, Privatisierung müsse einhergehen mit Deregulierung. Alle Untersuchungen sagen das Gegenteil: Privatisierungen gelingen nur, wenn sie verbunden sind mit vielen Auflagen, welche die Interessen der Gesamtgemeinde und ihrer Bürger rechtlich absichern.
Es bedeutet auch, Steuern nicht als staatlichen Diebstahl zu verstehen. „Der Finanzminister greift den Bürgern in die Tasche“, ist in jeder Provinzzeitung zu lesen. Anderen Leuten in die Tasche greift nur ein Taschendieb. Der Staat ist dazu da, das Gemeinwohl gegen Sonderinteressen durchzusetzen, für Sicherheit und Bildung zu sorgen. Er ist kein Taschendieb.
Als bei Sabine Christiansen am 11.2.2007 ein Politiker sagte, für Erbschaften müsse man nichts leisten, sie seien also leistungsloses Einkommen, antwortete ein Professor der Ökonomie, wenn der Staat die Erbschaftssteuer für Großvermögen erhöhe, leiste er auch nichts dafür, verschaffe er sich also leistungsloses Einkommen. Dabei vergaß der Herr Professor, dass seine gesamte Existenz auf Staatsleistungen beruht: Dass er eine Universität hat, wo er dozieren kann, dass er auf dem Weg zur Universität nicht befürchten muß, ausgeraubt zu werden, dass er Straßen für sein Auto vorfindet, nicht zuletzt, dass dieser Staat ihm ein großzügiges Gehalt überweist. Was würde er sagen, würde sein Gehalt halbiert mit der Begründung, es sei leider kein Geld mehr da? Er würde beim – vom Staat finanzierten – Gericht klagen und, aufgrund staatlicher Gesetze, Recht bekommen.
Schließlich könnten wir auch etwas mehr Nachsicht üben mit denen, die unter schwierigsten Umständen Politik für das Ganze machen sollen. Wenn man die Zeitungen liest, fragt man sich, woher es denn komme, dass Journalisten immer so viel klüger sind als Politiker. Müsste man nicht einfach tauschen? Die Leitartikler zu Ministern machen? Ich habe den einflussreichsten Journalisten seit 1945, Rudolf Augstein, im Bundestag erlebt: Eine klägliche Vorstellung, die rasch abgebrochen wurde. Wer Jahrzehnte in politischen Führungsgremien verbracht hat, weiß, dass eine wohl abgewogene, tragfähige Entscheidung einem Menschen viel mehr abverlangt als ein brillanter Leitartikel. Ganz sicher ist, dass zur Staatsverspottung nicht mehr Intelligenz gehört als – einst – zur Staatsvergottung.
Quelle: Begegnung & Gespräch, Nr. 149, Mai 2007.