Clara Eisenkraft (Spaleck), Damals in Theresienstadt. Erlebnisse einer Judenchristin: „Es sagte uns unser Gerechtigkeitsgefühl, Gott könne das nicht zugeben, dass soviel Ungerechtigkeit triumphierte. Wir Christen und die gläubigen Juden waren uns in dieser Auffassung einig.“

Was für eine Lebensgeschichte: Clara (Klara) Spaleck wurde am 17. Januar 1878 in die jüdische Familie Eisenkraft im Bezirk Wiznitz des damaligen Herzogtums Bukowina geboren. Mit 16 Jahren verließ sie das Elternhaus, mit 18 Jahren konvertierte sie zum christlichen Glauben und ließ sich taufen. Sie trat in das deutsche Diakonissenhaus in Bukarest ein, von wo aus sie 1898 für zwei Jahre an das evangelische Lehrerinnenseminar in Droyßig (jetzt Sachsen-Anhalt) entsandt wurde. Nach ihrer Rückkehr 1900 unterrichtete sie an der deutschen evangelischen Mädchenschule in Bukarest bis 1903. Danach verbrachte sie ein Jahr in England. Anschließend besuchte sie in Bielefeld das Lehrerinnenseminar, das der dortigen evangelischen höhere Töchterschule angegliedert war, und legte 1906 das Examen für höhere Lehranstalten ab.

1908 lernte sie Max Spaleck aus Greiz (Thüringen) kennen. Die beiden heirateten dort Anfang 1909. Der gemeinsame Sohn Siegfried wurde am 10. November 1909 und die Tochter Elisabeth am 10. Juli 1913 geboren. Nachdem der Ehemann, der 1921 eine Fabrik für Webereimaschinen von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte, 1933 plötzlich verstarb, unterstützte Clara ihren 23jährigen Sohn in der Firmenleitung und kümmerte sich um das Exportgeschäft der Firma.

Schon einmal am 9. November 1938 für eine Nacht in Weimar in polizeilichen Gewahrsam genommen wurde Clara Spaleck am 12. Januar 1944 von Weimar in das Lager Theresienstadt deportiert. Von dort kehrte sie am 14. Juni 1945 nach Greiz zurück. Infolge der Demontage der Fabrikanlagen und der mangelnden wirtschaftlichen Aussichten übersiedelte die Familie Ende 1949 nach Bocholt ins Westmünsterland, wo die Firma Spaleck als Maschinenbauunternehmen neu aufgestellt wurde. Wohl schon vor der Übersiedlung verfasste Clara Spaleck einen Bericht über ihre Zeit in Theresienstadt. Fünf Jahre nach ihrem Tod erschien dieser Bericht 1977 unter ihrem Mädchennamen Clara Eisenkraft:

Damals in Theresienstadt. Erlebnisse einer Judenchristin

Von Clara Eisenkraft

AUSSAAT VERLAG WUPPERTAL 1977

Nur wenige Juden sind den Vernichtungslagern der NS-Zeit entronnen. Eine von ihnen war Clara Eisenkraft, von der nun die erschütternden Tagebuchaufzeichnungen vor­gelegt werden. Als Angefochtene und Geängstete wurde sie dennoch von der Kraft des Evangeliums gehalten — gerade auch in der letzten Phase des Krieges, in der sie wie alle Geächteten dem Vernichtungswillen erbarmungs­loser Verbrecher ausgeliefert war. Ein ernstes Lebens­zeugnis von den Leidensstationen einer Frau, die als Zei­chen verordneter Schmach den Judenstern tragen mußte, deren innerste Überzeugung aber von Christus geprägt war.

Inhalt

Zu den Memoiren einer Überlebenden. 2

Abtransport 3

Theresienstadt 5

Aussehen des Städtchens. 6

Das Zusammenleben. 8

Ernährung. 10

Heizung. 14

Entwesung. 14

Neuankömmlinge. 15

Menschentypen. 17

Registrierungen und Transporte. 20

Christuserleben in Theresienstadt 24

Auslandskommissionen. 27

Die Volljuden. 30

Theresienstädter Strategen und Bonkes. 32

Die Abtransportierung oder Vernichtung der Urnen aus dem Krematorium.. 34

Vernichtung der Karteien. 36

Schweizer Transport 36

Gewaltsame Scheidung der Ehen. 37

Dänischer Transport 39

Rücktransporte. 40

Bauschewitz. 41

Die letzte Zeit in Theresienstadt 42

Die Leerung der Kleinen Festung. 43

Heim ins Reich. 43

Meine letzte gefährliche Erkrankung. 44

Die letzten Wochen in Theresienstadt 45

Gottes Engel 48

Schlußgedanken. 49

Zu den Memoiren einer Überlebenden

Dieses Erinnerungsbuch unterscheidet sich von der Enthüllungs­literatur über die NS-Zeit vor allem dadurch, daß sein Akzent neben der authentischen Wiedergabe schrecklicher Fakten vor allem auf der Auseinandersetzung der Berichterstatterin mit ihren Erlebnissen im Ghetto Theresienstadt liegt. Hier ist ein Stück trauriger Zeitgeschichte in einem Schicksal und einer Gestalt lebendig geworden, die sich als jüdische Christin ganz als Deutsche fühlte und die in ihren Aufzeichnungen die er­fahrene Unmenschlichkeit zum Gegenstand aufrüttelnder Fra­gen macht — sowohl an das jüdische Volk wie auch an die deut­sche Nachkriegsgeneration.

Clara Eisenkraft berichtet grausame Einzelheiten über das ent­würdigende Abtransportiertwerden und das elende Dahinsie­chen Tausender von Juden in einem „Musterlager“. Da ihre Haftzeit in die letzten Kriegsjahre fiel, war sie — wie alle ihre Mitleidenden — in besonderer Weise dem Vernichtungswillen der Nazis ausgesetzt, so daß es ihrer letzten Glaubenskraft be­durfte, um die Bedrängungen und Schikanen ihrer Peiniger ertragen zu können. So ist dieser lebensnahe Bericht ein auf­rüttelndes Zeugnis für den Sieg, den Gott denen schenkt, die ihm vertrauen — auch und gerade in einer verteufelten Umwelt. Gleichzeitig werden wir aber auch hautnah mit dem Phänomen des Bösen und unserer Mitschuld daran konfrontiert. Und es stellt sich die Frage, wie in Zukunft die Wiederholung einer solchen Barbarei verhindert werden kann. Nach all ihren leid­vollen Erfahrungen ist die Autorin zu der Überzeugung ge­kommen, daß letztlich nur eine wirkliche Hinwendung zu dem lebendigen Gott, wie er sich in Christus gezeigt hat, das deut­sche Volk, aber auch jeden einzelnen von uns, vor der Macht des Bösen bewahren kann.

Carolus Lehmann

An einem sonnigen Abend

Goldene Schleier webt die Sonne,
so schön, daß mich mein Körper schmerzt.
Der Himmel oben — grelles Blau.
Ich hab gelächelt aus Versehen.
In Blüte steht die ganze Welt.
Ich möchte fliegen, doch wohin?
Im Stacheldraht noch kann es blühn —
warum nicht ich? Ich will nicht sterben!

1944, Verfasser unbekannt

Ein Lied der Hoffnung, an die sich die Kinder der Baracke L 318 und L 417 im KZ Theresienstadt jahrelang klammerten, obwohl von insgesamt 15 000 Kindern unter fünfzehn Jahren kaum einhundert die Zeit überlebten.

(Mitgeteilt von Elisabeth Kübler-Ross in „Interviews mit Ster­benden“)

Abtransport

Am 10. Januar 1944 morgens um 9 Uhr kamen zwei Kriminal­beamte auf Veranlassung der Geheimen Staatspolizei in meine Wohnung und eröffneten mir, daß sie aufgrund eines neuen Erlasses die Aufgabe hätten, mich abzuholen und nach There­sienstadt abzutransportieren; und zwar müßte ich im Laufe des Vormittags „marschbereit“ sein und für fünf Tage Verpflegung mitnehmen.

Ich war natürlich zu Tode erschrocken. War ich doch trotz aller bösen Erfahrungen auf diesem Gebiet auf so etwas nicht vor­bereitet, nachdem so oft betont worden war, daß die „privile­gierten Mischehen“, d. h. solche, die christlich erzogene Kinder aufzuweisen hatten, besonderen Schutz genössen. Diese Ehen waren doch auch bei der Aktion „Abgabe von Schmucksachen“ verschont geblieben, dabei sogar solche, bei denen das einzige Kind gefallen war.

Ich rief sofort bei meinen Kindern an, die an meiner Stimme schon etwas gemerkt haben müssen; denn sie kamen beide todesbleich aus ihrem Kontor herauf, um diese Schreckensbot­schaft entgegenzunehmen.

Blutenden Herzens gaben wir nun alles zu Protokoll, was man von uns wissen wollte: ob ich an der Fabrik beteiligt sei, Höhe und Art meines persönlichen Besitzes und was ich an Wert­gegenständen hätte. Meine goldene Uhr — ein teures Andenken an eine mütterliche Freundin — fiel bei dieser Gelegenheit in die Hände der Gestapo. Von meinen Kleidern durfte ich nur wenig mitnehmen; das andere wurde versiegelt, zur „Sicher­stellung“, wie sie das so schön nannten. (Meinen Kindern ist es später nach langen Verhandlungen gelungen, mein Eigentum zurückzukaufen.) Doch — was bedeutete alles irdische Gut in diesen qualvollen Stunden für uns? Es war wesenlos geworden, ein Nichts, ein Schatten! Können menschliche Worte überhaupt ausdrücken, was Mutter und Kinder in solchen finsteren Augen­blicken und Stunden empfinden? Unsere Herzen schrieen aus der Tiefe zu Gott, schrieen um Kraft und Stärke, dieses über menschliche Kraft Hinausgehende, dieses Unfaßbare, dieses Widergöttliche zu ertragen. Als wir uns dann am Gerichts­gebäude ein letztes Mal in die Augen sahen, sagte meine Toch­ter zu mir tröstend: „Dein Junge wird dich schon loseisen.“ Doch ihr älterer, reiferer Bruder bemerkte dazu nur: „Wie Gott will.“ Ja, „wie Gott will“ — das war fortan mein Leitstern für all das Schwere und schier Unerträgliche, das meiner wartete … Ein stummer Händedruck, eine stürmische Umarmung — und ein Abschied auf Leben und Tod lag hinter uns.

In der darauf verbrachten Nacht im Gefängnis schrieb ich an meine beiden Kinder und sagte ihnen damit all das, was ein zerrissenes und todtrauriges, aber auch und dennoch im Herrn getrostes Mutterherz ihren trostbedürftigen Kindern sagen kann. Ich bat sie dringend, ihr Vertrauen auch dann noch nicht wegzuwerfen, wenn Gott in seiner unausforschlichen Allmacht und Weisheit beschlossen hätte, mich nicht wieder lebend zu ihnen zurückzuführen.

Am folgenden Morgen um 5 Uhr ging es in Begleitung der Kriminalpolizei von Greiz zu dem Sammeltransport-Ort Er­furt. Im Laufe des Tages kamen dann die anderen, aus allen Teilen Thüringens, und sie wurden wie ich in das Polizeigebäude gebracht. Die Menschen, die dort unsere Personalien aufnah­men, unsere Sachen untersuchten und uns für den Transport nach Theresienstadt fertig machten, haben uns schon all die Bitternis vorahnen lassen, die uns erwartete. Meine Tochter hatte mir in einem Etui ein Besteck und ein Taschenmesser mit­gegeben. Das Taschenmesser und Messer und Gabel wurden hohnlachend herausgezogen und auf den Platz der konfiszier­ten Gegenstände gelegt. Die diensttuende „Dame“ bemerkte dann diabolisch lachend: „Bei uns braucht man keine Bestecke. Bei uns wird alles gelöffelt.“ Das soll­te wahrscheinlich auch noch im übertragenen Sinn verstanden werden.

Es wurden nun alle Kleidungsstücke am Leibe und in den Kof­fern gründlich untersucht. Manchen von uns wurde sogar aus den Kleidern das Futter herausgetrennt, um nach Geld und Geldeswert zu fahnden. Ein mir teures, im übrigen aber wert­loses Andenken an meine Kinder verschwand dabei auch. Als ich den schüchternen Versuch unternahm, es zu behalten, sagte die Funktionärin höhnend zu ihren Kollegen: „Frau Eisenkraft möchte Andenken mitnehmen —!“ So eine Zumutung an Arier, daß wir auch Menschen mit einer fühlenden Brust im Leibe sein sollten!

Ein biederes Schneiderlein, das in der Vorhalle noch auf die Un­tersuchung wartete und dessen ganzes Hab und Gut aus einem Rucksack und 500 RM bestand, vertraute mir an, er habe sein Geld eben in einen gewissen Ort geworfen, weil er von den anderen über die gründliche Untersuchung unterrichtet worden sei. Er sagte wörtlich: „Lieber werfe ich es dorthin, als daß ich es denen zugute kommen lasse.“

Nun standen wir den ganzen Tag herum und warteten der Din­ge, die da kommen sollten. Sitzgelegenheit gab es nur wenig, so daß wir mit der Zeit todmüde wurden. Doch die Leute, die uns abfertigten, hatten Zeit, viel Zeit. Auch viel Spaß schienen sie zu haben, denn es ging sehr lustig bei ihnen zu. Verhöhnungen und Verspottungen mußten wir uns reichlich gefallen las­sen, auch anderes mehr. Eine Frau, die aus Versehen an eine falsche Tür kam, erhielt einen ganz schlimmen Fußtritt, so daß ein junger SS-Mann, der uns von der Bahn abgeholt hatte, dem betreffenden „Herrn“ seine Empörung darüber zum Ausdruck brachte und ihm drohte, sich an der Aktion nicht mehr beteiligen zu wollen. Endlich, am späten Nachmittag, wurden wir zur Bahn abgeführt; die „menschenfreundlichen“ Leute, die unsere Personalaufnahme und Untersuchung besorgt hatten, kamen mit.

Auf dem Bahnhof mußten wir stundenlang bei grimmiger Winterkälte warten. Im ganzen waren wir 24 Menschen. 21 wur­den in ein Abteil hineingepfercht; die übrigen drei, ein Ober­amtsgerichtsrat aus Bayern, der es im Weltkrieg bis zum Oberst gebracht hatte, das EK I und II besaß, einseitig schwer gelähmt war und deshalb bei seiner in Erfurt lebenden verheirateten Tochter weilte, eine Fabrikantenwitwe aus Gera und ich wurden in das letzte Abteil, einen schmalen engen Raum gestopft. Kaum saßen wir drin, da tat sich die Tür auf, und ein ganzer Haufen Gepäckstücke, unser aller Gepäck (große Rollen, Rucksäcke, Koffer usw.) flogen mit rücksichtsloser Vehemenz herein; wir mußten uns richtiggehend verschanzen, um nicht erschlagen zu werden. Die liebenswürdige Begleitmannschaft belustigte sich sehr über unsere berechtigte Angst und rief höhnisch ins Abteil hinein: „Ist gut genug für Euch, ihr Judenpack!“ Nun war guter Rat teuer. Wir hatten buchstäblich kein Eckchen, wo wir uns niederlassen konnten. Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Sachen teilweise bis an die Decke zu schichten, dann noch einen Teil in der benachbarten winzigen Toilette unterzubringen und den Rest um uns herum aufzutürmen, so daß wir uns dazwi­schen nicht bewegen konnten; wir waren eingeklemmt wie in einer Zwangsjacke. Unter unseren Füßen war auch alles voll, und wenn wir den nahen Abort benutzen wollten, bedurfte es großer Anstrengungen, uns durch diese Barrikade den Weg zu bahnen.

Schließlich setzte der Zug sich wirklich in Bewegung; Türen und Fenster waren vorher fest verschlossen worden. Als wir nach Jena kamen, stieg noch eine Dame zu uns, der wir auch noch „Platz“ machen mußten. Es war die Witwe eines berühmten Jenaer Professors, der jahrelang in der Augenklinik dort gewirkt hatte, und die noch als alte Frau, trotz ihrer Schüttel­lähmung, als schön zu bezeichnen war; ihr volles, langes blon­des Haar umgab sie, wenn gelöst, wie ein wallender Mantel. Diese arme verwöhnte Frau war von ihrem Schwiegersohn, einem Edlen von Sowieso, an die Bahn gebracht worden. Auch sie glaubte, wie manche von uns, aufgrund der Verdienste von Mann und Kindern bald wieder freigelassen zu werden; aber — sie mußte es, wie so viele andere auch, erleben, daß Theresien­stadts Tore hinter jedem fest verschlossen blieben. Leider hat sie das Ende nicht mehr erlebt, so daß ihre Sehnsüchte, so wie die ihrer liebenden Kinder, unerfüllt blieben. Sie sank dahin wie viele, ach wie viele, ohne den Tag der Freiheit zu erblicken. Ein großes Herzeleid sollte sie schon unmittelbar nach ihrem Einsteigen erfahren: Der begleitende „Herr“ nahm ihr sofort ihre Handtasche mit den privaten Dingen und dem darin befindlichen Geld, ferner ihre goldene Uhr, Kette und Ringe ab. Die Fahrt dauerte zwei Tage und drei Nächte! Während der ganzen Dauer bekamen wir nichts Warmes zu essen und nichts zu trinken, nicht einmal einen Schluck Wasser. Das Abteil war selbstverständlich nicht geheizt und nachts nicht beleuchtet. Die Nächte durch blieben wir irgendwo auf einem toten Geleise ste­hen; auch am Tage war das vielfach der Fall. Es war eine trost­lose Fahrt. Man konnte annehmen, daß man trotz gegenteiliger Behauptung gar nicht nach Theresienstadt gebracht werden soll­te, sondern in ein Lager nach Polen. In der Tat war ich bis zuletzt über unser Reiseziel sehr skeptisch, weil die Route oft gewech­selt wurde. Bei der Glaubwürdigkeit der Naziregierung wäre es ganz im Rahmen ihrer sonstigen Machenschaften gewesen, uns durch das Hin und Her etwas vortäuschen zu wollen.

Endlich kamen wir, nach Mitternacht, tatsächlich in Theresien­stadt an. Wir mußten noch einen langen Marsch in den Bestim­mungsort machen, weil die Bahnstation weit entfernt lag. Dann wurden wir in unser „Heim“ gebracht. O weh! Welch ein Schreck bemächtigte sich unser! Ein abgetakelter Kinosaal öffnete seine einladenden Tore den Neuangekommenen! Als wir eintraten, mußten wir bei der schwachen Beleuchtung feststellen, daß er schon ganz belegt war: Frauen und Männer lagen in buntem Durcheinander auf der Erde, auf mit Holzwolle gefüllten Papier­säcken, teils mit, teils ohne Kissen, je nachdem wie die einzelnen sich für diesen Aufenthalt hatten ausrüsten können, die meisten mit eigenen Mänteln oder Decken zugedeckt. Nun hieß es für die Aufgescheuchten zusammenrücken und den Neuangekom­menen Platz schaffen, d. h. sich auf seinem Sack möglichst schlank machen, damit noch einer daneben „schlafen“ konnte. Doch die Enge des Raumes war noch nicht einmal das Schlimm­ste. Der Schmutz war es, dessen Anblick einem die Kehle zu­schnürte! Kein Wunder — etwa 200 Menschen waren in diesem Raum untergebracht, und da er direkt von der schmutzigen, schlecht- oder ungepflasterten Straße aus zugängig war und man so etwas wie einen Fußabstreicher in Theresienstadt nicht kannte, mag man sich vorstellen, was eine solche Menschenmasse an Schmutz bei dem ständigen Ein- und Ausgehen in diesen Raum einschleppte. (Ich soll zu meiner Nachbarin gleich bei meiner Ankunft geäußert haben, ich würde dafür sorgen, daß hier Wan­del geschaffen würde, ich wolle lieber den ganzen Tag reinma­chen als in solchem Schmutz leben. Wenigstens hat diese mir das oft vorgehalten, als ich nach wenigen Tagen das Unmög­liche meiner Absicht erkannte und äußerte. Man mußte diesen Schmutz einfach schlucken, wie so vieles andere dort, wenn es einen auch zu zermürben drohte).

Am Tage wurden die Säcke zusammengelegt, und sie dienten dann als „Wohnraum“, auf dem sich unser ganzes Leben ab­spielte. Darauf saßen wir, wenn wir uns tagsüber etwas aus­ruhen wollten; dort aßen wir, dort machten wir auf dem Schoß unseren notdürftigen Aufwasch usw. Und wenn unser „Schreib­turnus“ kam, d. h. wenn wir an unsere Angehörigen schrei­ben durften — was erstmalig nach 2 Monaten geschah —, dann schrieben wir auf dieser vielseitigen Lagerstatt auch unsere Karten, natürlich mit dem streng vorgeschriebenen Inhalt. We­he, wenn da ein Wort zu viel war oder nicht mit den ungeschrie­benen Gesetzen im Einklang stand! Die Karte kam als „un­bestellbar“ vom Zensor zurück. Und erst in 14 Tagen durfte wieder geschrieben werden, — falls man eine neue Karte auf­treiben konnte! Man mußte zu diesem Zwecke jedenfalls etwas von seinem kärglichen Brot opfern.

Theresienstadt

Wie schon der Name sagt, ist Theresienstadt von Maria There­sia angelegt worden, und zwar als kleines Garnisonstädtchen, das ziemlich stark befestigt wurde. Die noch gut erhaltene Bastei, Festungsmauern mit Wassergraben, sowie die Zugbrücke mit Türmen sind Zeugnis hierfür. Besonders die vielen Kasernen, die einen beträchtlichen Teil des Ortes einnehmen, beweisen, daß das Städtchen fast ausschließlich militärischen Zwecken diente. Bemerkenswerterweise trugen diese Kasernen, elf an der Zahl, zum Teil deutsche, zum Teil tschechische Städtenamen, wie: Dresdner, Hamburger, Aussiger, Bodenbacher usw.

Einige der Kasernen hatten ihre ganz besondere Bestimmung. So war die Hamburger als Verwaltungsgebäude eingerichtet. Alle Ämter befanden sich dort, und ihre Zahl war durchaus nicht gering, stand der Ort doch unter jüdischer Selbstverwaltung. Der Verwaltungsapparat war ziemlich umfangreich und die Organisation sozusagen erstklassig: alles nach Nazimuster über­organisiert. Das Karteiwesen klappte wie am Schnürchen, ob­wohl auf engstem Raum zusammengepfercht; so konnte mit einem Griff die Lebensgeschichte jedes einzelnen sofort ermit­telt werden. Es war eben alles bis aufs Kleinste von der Kom­mandantur fest geordnet, auch räumlich, und die betreffenden Positionen durften keinen Finger breit davon abweichen. Das geringste Versehen, die kleinste Unterlassung trug Polen­transport oder die „kleine Festung“ ein. (Auf diese beiden ge­fürchteten Dinge gehe ich später noch ausführlich ein).

Ein sehr wichtiges Amt war die „Raumwirtschaft“, d. h. das Wohnungsamt; wurden doch die Leute sehr oft „umgesiedelt“. Der Zweck? Den konnte niemand ermitteln. Wahrscheinlich sollten die Leute miteinander nicht warm werden, damit es ihnen nicht zu gut ging. So mußten immerzu mehrere Tausende ihre Behausungen verlassen und andere beziehen und zwar nach Vorschrift. Jeder mußte immerzu mit seinen paar Sachen wan­dern und versuchen, sich in der ganz fremden Umgebung schlecht und recht wieder einzuordnen.

Aussehen des Städtchens

Wie schon gesagt, nahmen die Kasernen einen beträchtlichen Raum ein; mußte dort doch der größte Teil der Insassen hausen, deren Zahl zu dem Zeitpunkt, als wir „arisch Versippten“ und Verwitweten eintrafen, 60 000 bis 65 000 betrug. Es gab nur wenige normale Häuserblocks, meist einstöckige kleine Häuser, von denen die geräumigsten und schönsten im sog. „arischen Viertel“ lagen und nicht zu unserer Verfügung standen. Infolge­dessen mußte das Gros von uns in den Kasernen untergebracht werden. Die Häuser, die früher eine Bevölkerung von nur 2 000 bis 3 000 Menschen beherbergt hatten, waren jetzt in Massen­quartiere umgewandelt: Höfe notdürftig durchgebrochen; Mau­erreste ragten gespenstisch in die Luft, so daß man befürchten mußte, beim Durchgehen erschlagen zu werden; Pflasterungen in den Höfen und auf den Straßen total beschädigt, von Kot überdeckt, holprig, trostlos; Klosettanlagen in den Höfen noch so primitiv wie zur Zeit des Stadtbaues, aber sehr abgenutzt und verwahrlost vom Massengebrauch.

Als ich mir am ersten Morgen das alles ansah, legte es sich wie eine Eisrinde um mein Herz. So leben hier Menschen! Kann man denn so ein Leben überhaupt ertragen? Gibt es denn so etwas wirklich im 20. Jahrhundert? Die Afrikaner im Busch ha­ben gewiß ein erträglicheres Wohnen, denn sie haben wenig­stens Raum und wenn es in der elendsten Lehmhütte ist. Aber hier! Kein Raum in der „Ubikation“ (Behausung) und keiner auf den Straßen; denn die Menschenmasse wälzte sich auf den Straßen, daß es einem den Atem wegnahm. Wo sollten sie auch bleiben? Blieb nur die grundlose, aufgeweichte, mit dicker Kot­schicht bedeckte Straße in dem winzigen Städtchen, das man in 20 bis 25 Minuten kreuz und quer durchlaufen konnte.

Wen traf man auf diesen schmutzstarrenden Straßen? Meistens alte verkrüppelte Frauen, an einem oder zwei Stöcken laufend, mit unsicheren Beinen sich vorwärts tastend, stark nach vom gebeugt. Alle hatten sie einen Buckel, auch die mittleren Alters und die Jüngeren. Ich erkundigte mich nach der Ursache. „Man­gelnde Ernährung, völlige Vitaminlosigkeit der Nah­rungsmit­tel“, war die Antwort. Ich dachte: Mir soll das nicht passieren, ich will mich mit aller Energie gegen diese Erscheinungen stem­men; aber ich mußte bald die Unmöglichkeit, meinen Vorsatz auszuführen, einsehen.

Eine andere Eigentümlichkeit des Theresienstädter Straßenbil­des war, daß man ohnehin fast nur Frauen sah, schätzungsweise bis zu 80 v. H.; nur den Bruchteil von 20 v. H. Männern konn­te man beobachten. Auch darüber wurde ich bald aufgeklärt: Ursprünglich waren die beiden Geschlechter fast paritätisch vertreten; aber die Männer sind dann sehr bald zugrunde ge­gangen — nicht so sehr an Unterernährung, obwohl diese Tat­sache schon für sich sprach; vielmehr waren es Gründe der seeli­schen Belastung, vor allem bei den Männern der sog. höheren Stände, die aus guten, angesehenen Positionen und befriedigen­der, sie ganz ausfüllender Arbeit kamen. Sie konnten dieses tierische Dasein, das Hinvegetieren ohne Zweck und Ziel, die Degradierung ihres Menschentums, das Hinausgestoßensein aus der menschlichen Gemeinschaft nicht ertragen. Sie magerten sehr bald ab und verloschen wie ein Licht im sauerstofflosen Raum.

Die Stadt ist ganz eben — die einzige Erhebung bildet die Bastei mit Schanze —, und die Straßen sind regelmäßig angelegt. Die Längs- und Querstraßen laufen völlig gerade von einem Ende zum anderen des Ortes. Sie hießen auch für uns „Einheimische“ „L“-Straßen und „Q“-Straßen, d. h. Längs- und Querstraßen. Die erste Längsstraße hieß „L 100“.

Das erste Haus hatte die Nummer L 101, das zweite L 102 usw. Ebenso waren die Q-Straßen eingeteilt. Nur für die Auswärtigen, damit also auch für unsere Korrespondenz, hatten die Straßen so schöne Namen wie „Parkstraße“, „Hauptstraße“ usw. Mußte doch der Eindruck erweckt werden, wir wären „ganz gut“ unter­gebracht. Wie es in Theresienstadt wirklich war, hat bis zuletzt niemand erfahren; waren wir doch hermetisch gegen die Au­ßenwelt abgeschlossen. Die ersten Ankömmlinge, die etwa zwei­einhalb Jahre vor uns angekommen waren, hatten noch die Kühnheit gehabt, etwas verlauten lassen zu wollen, d. h. ein oder zwei Leute hatten Postkarten ausgeworfen. Dafür mußten dann ein paar Dutzend Menschen ihr Leben durch den Strang verlieren und als warnendes Beispiel lange auf den Straßen hän­gen bleiben. Daß nie wieder der Versuch unternommen wurde, so etwas zu tun, liegt auf der Hand.

Das Sterben ging in Theresienstadt sehr schnell vor sich; das habe ich in den verschiedensten Fällen selbst erlebt. Sterben ist doch in normalen Verhältnissen ein Geschehen mit, wenn man so sagen darf, voraufgehenden Ursachen und sich vollzie­henden Nebenumständen, abgesehen von denen, die vom Herz­schlag getroffen werden. In Theresienstadt aber war das Ster­ben genauso, wie wenn einer zur Tür hinausgeht oder einen Schluck Wasser trinkt. Bei der massenhaften Häufung der Fälle und der Erbarmungslosigkeit der dortigen Verhältnisse gehörte das Sterben zu den unbedeutendsten Alltäglichkeiten. Man ging einfach zur Tagesordnung über. Wer hing denn da noch am Leben! War das überhaupt als „Leben“ anzusprechen, was dort vor sich ging? Mußte nicht jeder beneidet werden, der es hinter sich hatte —?

Ich fragte die vielen männerlosen Frauen nach dem Wann und Wie des Verlustes ihres Lebensgefährten. Ein stumpfes und stummes Achselzucken war oft die Antwort. So grausam ich es zuerst fand, nach und nach ging mir ein Verstehen für diese Haltung auf. Lohnte es sich denn, sich überhaupt mit etwas aus­einanderzusetzen? Das Ganze lag so ganz jenseits allen Verste­hens und Begreifens, daß man völlig abstumpfte. War doch al­les darauf angelegt, die Seelen der Menschen zu zertreten. Dazu gehörte auch die Tatsache, daß die Ehegatten alle getrennt unter­gebracht waren, wenn möglich, in verschiedenen und entfernt liegenden Häusern. Was Wunder, wenn die Menschen innerlich vereisten!

Eine kleine Illustration hierfür:

In den ersten Tagen, als ich mich im Ort noch nicht zurechtfand, fragte ich einen Vorübergehenden nach einem Siechenheim, in dem eine Bekannte untergebracht war. „Hier ist es, das rote Haus“, war die Antwort. „Vorige Woche ist meine Frau hier gestorben.“ Die Art und die gleichgültige Stimme, mit der er das sagte, hat mich erschauern lassen. „Wie kann man so ge­fühlsarm sein!“ dachte ich in meinem Herzen. Ist das vielleicht „typisch jüdisch“? Sollten jene mit ihren Minderwertigkeits­theorien doch recht haben? Ach nein! Es war etwas ganz ande­res. Die Menschen hier hatten nur noch das Gefühl: Es ist alles gleich; für uns ist alles verloren, unsere Vergangenheit und mit ihr all das, was das Leben lebenswert macht. Und die Zukunft? Gibt es denn noch eine solche? So wird eben die trostlose und verzweifelte Gegenwart stumpf und stur hingenommen. Was kümmert uns Menschentum? Gibt es überhaupt ein solches? Und sind wir denn hier noch „Menschen“? Wenn ja, wo ist unsere Menschenwürde —?

Das war ungefähr die innere Haltung der meisten. Äußerlich haben sie Haltung bewahrt, mehr als man es für möglich ge­halten hätte. Das bewunderte ich an ihnen vor allem bei den „Transporten“, auf die ich später noch zu sprechen komme.

Das Zusammenleben

Wie nicht anders zu erwarten, war das Zusammenleben in die­sem Menschengewühl alles andere als harmonisch. Wie sollte es auch anders sein! Kamen wir doch aus den verschiedensten Gegenden des Reiches, vor allen Dingen aus den verschieden­sten Verhältnissen, mit dem denkbar größten Unterschied an Erziehung, Bildung und Gewöhnung und mußten nun auf ein­mal nicht nur in Tuchfühlung, sondern in „Fleischfühlung“ mit­einander leben. Es fehlen einem die Worte, diesen Zustand zu beschreiben. Da waren die verwöhnte Medizinalrätin, die Kommerzienratswitwe sowie die Künstlerin und daneben als ihre Wohn- und Schlafnachbarinnen die Wartefrau, die Jahrmarkts­verkäuferin, die Hausiererin usw. Und da solche Verhältnisse bekanntlich die schlechtesten Eigenschaften im Menschen aus­lösen, so haben sich viele Zeit- und Volksgenossen nicht gerade von ihrer liebenswürdigsten Seite gezeigt. So mancher mußte für seine ehemalige „privilegierte“ Stellung jetzt schwer büßen, und man mußte sich schon ein sehr dickes Fell zulegen, wenn man einigermaßen unversehrt aus dieser Situation herauskom­men wollte. Es ist eben doch nicht so, wie die oberflächliche und grausame Doktrin der Naziführung lautete: „Jud ist Jud!“ Zwischen Gliedern eines Volkes gibt es oft viel einschneidendere Differenzen und Vorurteile als in den gleichen Gesellschafts­schichten verschiedener Völker. Diese Beobachtung drängt sich jedem auf, der sich im Ausland mit offenen Augen umgetan hat. Unser Kinosaal war ein frappanter Beleg hierfür.

Zum Glück fanden sich diejenigen, die einigermaßen zusammenpaßten, sehr bald zusammen. Mit den anderen mußte man eben jeden Konfliktstoff vermeiden und vieles über sich ergehen las­sen. Ohne mit der Wimper zu zucken. All das war eine sehr gute Gelegenheit, den „alten Adam“ abzutöten. Und wie schnell lernte man das, wenn man ein einigermaßen erträgliches Da­sein führen wollte, genauso wie man manches andere lernen mußte!

Trainieren war die Parole. Das fing schon beim Darm an, der hier die härtesten Proben zu bestehen hatte. Es gab nämlich für etwa 180 bis 200 Frauen im Kinosaal nur (sage und schreibe) ein Klosett. Ebenso wie es für uns alle im Flur nur eine Waschgelegenheit gab, bei der der Abfluß oft verstopft und nicht zu benutzen war. Um nicht am Massenandrang teilnehmen zu müssen, habe ich mich am Hahn im Hof gewaschen, im Win­ter bei 10-15 Grad Kälte. Um dies ungestört tun zu können, bin ich vor Tagesgrauen aufgestanden; denn auch dort gab es An­drang, da holten die Frauen das Wasser zum Putzen. Die Folge dieser reichlich absonderlichen Morgentoilette war, daß ich mir ein Ohrenleiden zuzog und bald nur noch sehr schlecht hören konnte, ja meine eigene Stimme nicht mehr verstand, die so heiser und verändert war, daß ich mich vor mir selber fürchtete. Ich habe ja oft vor mich hingesprochen, nur um festzu­stellen, ob meine Sprechorgane noch funktionierten.

Nachdem ich eine Zeitlang auf der Erde geschlafen hatte, hieß es, mehrere von uns könnten Bettstellen bekommen; es müßten jedoch je zwei zusammenschlafen. Zum Glück hatte ich mich an eine mir angenehme Dame angeschlossen, so daß wir eine ganz gute „Ehe“ abgaben. Aber unsere nächsten Nachbarn, die nicht so glücklich waren, zusammenzupassen, stritten sich in der Nacht mehr, als daß sie schliefen, und zwar war dies sowohl rechts als auch links von uns der Fall. Wenn man wirklich ein­geschlafen war — was vielfach infolge der Überfüllung und Un­ruhe im Raum nur für wenige Nachtstunden der Fall war —, dann wurde man geweckt von den stereotypen Reden der Un­verträglichen: „Sie haben wieder den ganzen Platz! Sie nehmen das ganze Bett ein! Sehen Sie, wie schlecht ich liege! Ich falle bald aus dem Bett heraus.“ Oder: „Sie sind eine ganz schlechte, niederträchtige Person! Es ist eine große Unverschämtheit von Ihnen, mich so mit Absicht zu peinigen!“ Solche lieblichen Zwie­gespräche mußte man sich stundenlang anhören.

Dazwischen peinigte uns das Ungeziefer, so daß es einem oft zumute war, als ginge es nicht mehr weiter. Wie oft in solchen unerträglichen Nächten habe ich zu meinem Herrn geschrien: „Du hast doch auch Daniel aus der Löwengrube errettet. Du mußt mich aus diesem Ort der Qual auch erlösen. Du mußt, denn Du hast es Deinen Kindern versprochen, daß Du ihnen aus allen Fährlichkeiten helfen wirst!“ Den 121., den 23. und andere Psalmen habe ich so im Geiste vor mich hergesagt, froh und dankbar, so viel auswendig zu können. Mit diesem meinem Schatz konnte ich auch anderen dienen, die der Verzweiflung nahe waren. So hatte ich mich mit der Witwe eines Kommer­zienrates angefreundet, die auch aus einer „Mischehe“ kam. Sie hatte noch vor kurzem ein schwindelerregendes Einkommen aus den Aktien ihres verstorbenen Mannes, so daß sie bis zu ihrem Abtransport in einem feudalen Hotel in Leipzig leben konnte; ihre einzige Tochter war mit einem Mann aus altem Adelsge­schlecht verheiratet. Diese Frau kam oft zu mir und bat um Auf­klärung über Gottes „wunderliche“ Führung. Sie konnte es nicht verstehen, daß ein Gott der Liebe so etwas zuließ. Sie eiferte wie der Prophet: „Ach, daß doch Feuer vom Himmel fiele …“ Es war nicht leicht, auf ihre Fragen Auskunft zu ge­hen; denn, obwohl lange zur christlichen Gemeinde gehörig, wollte sie von göttlichen Heimsuchungen nicht viel wissen. „Warum, warum“, das war ihre stehende Rede. Leider hat sie die Erlösung nicht mehr erlebt. Achtzig Jahre alt, litt sie vor allem unter der Unterernährung. So ist sie denn nach etwa fünf Mona­ten heimgegangen. Dort in der Ewigkeit wird sie gewiß besseren Aufschluß bekommen, als ich ihn ihr über die Absichten Gottes und über die letzten Dinge geben konnte. Das Schmerzlichste für sie war, nichts von ihrer Tochter und ihren Enkeln erfahren zu haben, die zur Zeit ihres Abtransportes mit unbekanntem Ziel verreist waren. Sie hatte sich mit ihnen nicht mehr verstän­digen können; auch andere konnten nicht rechtzeitig benach­richtigt werden, so daß sie nun ganz vereinsamt und gedrückt das kaum tragbare Leben mit sich hatte „herumschleppen“ müssen.

Ich selber hatte vor dem Abtransport doch wenigstens meinen Kindern in die Augen schauen, einen letzten innigen Hände­druck mit ihnen wechseln können. Das gab mir Kraft, Mut und Hoffnung! Und doch — wieviele Tränen habe ich in den ersten Tagen und Wochen geweint! Nicht so sehr um das eigene Schicksal, das wahrhaftig trostlos genug und reichlich bejam­mernswert war, sondern viel mehr noch dauerten mich meine Kinder. Wußte ich doch, was sie leiden würden um das unge­wisse Los ihrer fortgeschleppten Mutter! Immer wenn ich auf meinem elenden Lager lag oder wenn ich mir das kärgliche Mahl von der Verteilungsstelle in meinem Töpfchen holte, sah ich meine beiden Kinder mit ihren traurigen Augen im Geiste vor mir stehen und mir ihr letztes Lebewohl zurufen. Ach, Worte sind zu primitiv und unvollständig, um das Jammer­gefühl der Sehnsucht auszudrücken, einer Sehnsucht, die viel­leicht nie erfüllt werden würde …! Und dennoch, wenn man ohne Abschied und ohne vorherigen letzten Austausch hat fort müssen, wie die betagte Leidensgefährtin —!

Noch ein ähnlicher Fall gehörte zu meiner Bekanntschaft: eine Arztwitwe, Tochter des früheren ersten Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer in Deutschland, die auch mit zerrissenem Mutterherz umherging. Ihr Fall war im Grunde noch viel schlech­ter gelagert und viel hoffnungsloser; ja, er war so ziemlich das Schlimmste, was einem armen Mutterherzen zustoßen kann, ein Dolchstoß, wenn man so sagen will. War ihr Sohn doch von den schändlichen Naziideen infiziert, so daß er sich seiner Mut­ter schämte! Schon vor Kriegsausbruch hatte er sich freiwillig zum Militär gemeldet. Er wollte, wie er der Mutter in einem letzten Lebewohl schrieb, auf dem Felde der Ehre den „Schand­fleck“ von seiner Familie, nämlich seine jüdische Abstammung mütterlicherseits, „abwaschen“. (Es muß um der Wahrheit wil­len aber gesagt werden, daß solche Fälle ganz vereinzelt waren und daß in 98 bis 99 Prozent der Fälle die Kinder in rührender Anhänglichkeit am jüdischen Teil der Eltern hingen.)

Ernährung

Das Essen wurde in Gemeinschaftsküchen gekocht und dann an den Schaltern ausgegeben. Solche Küchen waren in verschie­denen Kasernen eingerichtet. Die Insassen der betreffenden Gegenden mußten sich dort ihr Essen holen. Jeden Monat wurde für die Zeit vom Ersten bis zum Letzten eine Essenskarte aus­gegeben, auf der 3 Mahlzeiten vermerkt waren: Frühkaffee, Mittagessen und Abendbrot. Vor den Ausgabeschaltern stan­den Leute, gewöhnlich zwei, die die Essenkarte in Empfang nahmen und den betreffenden Abschnitt mit einer Schere ab­schnitten. Diese Ämter, die Essenausgabe, das Kartenabschnei­den und der Dienst in der Küche, waren sehr beliebt; denn wer dort beschäftigt war, brauchte nicht zu hungern. Daher der An­drang nach der „Menage“. Leider konnte man dort sehr schwer ankommen; denn es saßen dort meistens Tschechen, also die ersten Ankömmlinge, und in den Ämtern, die diese Stellen ver­gaben, saßen auch vielfach Tschechen, die ihre Landsleute be­sonders bevorzugten. Man mußte also sozusagen Beziehungen haben, wenn man einen „Posten“ haben wollte (wie die Be­schäftigung in der „Menage“ kurzweg genannt wurde). Bei dem allgemeinen Hunger in Theresienstadt war das Bestreben, einen „Posten“ zu ergattern, selbstverständlich sehr groß.

Was wurde denn nun ausgegeben? Früh von 5 bis 8 Uhr Kaf­fee. (Es fing schon so früh an, weil die Rüstungsfabriken in Schichten arbeiteten und die Schichtwechsler schon in aller Frühe ihren Kaffee holen mußten.) Von 10 bis 2 Uhr wurde das Mit­tagessen ausgegeben und von 31/2 bis 7 Uhr das Abendbrot. Zum Kaffee gab es nichts weiter als eine reichliche Tasse schwarzen, ungesüßten Kaffees. Das Mittagessen bestand gewöhnlich aus 2 Gängen, einer Suppe und dem Hauptgang. Die Suppe war so, daß man sie vielfach gleich wegschütten konn­te: Wasser mit starkem Gewürz. Diese stark gewürzten Suppen trugen wahr­scheinlich auch sehr zu den Durchfällen bei; aber sie wurden doch genossen, um eben den Magen zu füllen.

Als ich in Theresienstadt ankam, Anfang Januar 1944, waren fast keine Kartoffelreserven mehr vorhanden. Es gab als Haupt­gericht jede Woche drei- bis viermal „Knödel“ — das waren Mehlklöße —, und zwar gab es jeweils nur 1 Stück (vielleicht eine Kleinigkeit größer als unsere normalen Mehlklöße) und etwas Tunke dazu. Meist war das eine braune undefinierbare Brühe, manchmal mit einigen Fleischfäserchen darin; in letzterem Falle stand nicht „Tunke“ an der Tafel, sondern „Haschee“. Wenn etwas mehr Fleisch drin war, hieß es „Goulasch“.

An den anderen Tagen gab es statt Knödel Graupen mit den gleichen Zutaten. Man muß der Wahrheit die Ehre geben und anerkennen, daß alles sehr sorgfältig zubereitet war und schmeckte. Das Küchenpersonal hat sein Bestes hergegeben, um mit den dürftigen und unzulänglichen Mitteln etwas zu schaf­fen, was einem schmeckte. Aber, aber … wer kann zu Mittag mit einem Mehlkloß sattgemacht werden? Drei bis vier wären eine Normalportion gewesen; nun gab es aber nur einen! Und abends gab es dünne Suppe, in der manchmal einige Graupen herumschwammen. Ab und zu hatten wir eine Kartoffelsuppe abends, worüber wir uns sehr freuten! Ja, wie wurde man denn satt? Ja, „satt“! So etwas war dort nur ein Begriff, wenigstens für die meisten. Die 2 Pfund Brot, die es alle drei Tage gab, reichten nicht vom und nicht hinten; das mußte zu jeder Mahl­zeit gegessen werden, auch zu Mittag. Außerdem gab es noch jede Woche 60 g Margarine und 70 g Zucker. Das waren die gesamten Zuteilungen. Darauf freuten sich die Menschen sehr. Wenn der Hausälteste seine Vertreter durch die Zimmer schickte und ausrufen ließ: „Zucker und Sahne (Margarine) fassen!“, da jauchzten die armen Herzen der Hungernden. Denn unmittel­bar darauf fing der Tauschhandel an. Diejenigen, die keine Pa­kete von Zuhause bekamen und keinen „Posten“ hatten, mußten ihren Zucker und ihre Margarine gegen Brot tauschen, wenn sie nicht verhungern wollten. Es gab eine Anzahl von ihnen, die nie etwas zum Brot aßen, die sehr froh und glücklich waren, wenn sie sich an trockenem Brot halbwegs satt essen konnten. Dazu mußten sie eben anderes dagegen eintauschen; noch mehr, sie mußten alles Entbehrliche weggeben, um sich Brot kaufen zu können. Brot, Brot, das war das A und O! Das war der Wert­messer, nach dem alle Preise für die anderen Lebensmittel und Bekleidungsstücke festgesetzt wurden. So verkauften viele buchstäblich alles, was sie hatten, nur um Brot dafür tauschen zu können.

Umgekehrt konnte man für Brot alles haben: Kleider, Wäsche, Geschirr usw. Der Preis für ein Paar noch gut erhaltener Schuhe war 11/2 bis 2 Brote, für ein gutes Kleid 3 bis 4 Brote. Das wurde dann in Raten abgezahlt, und diejenigen, die viel von daheim bekamen, konnten wiederholt solche Geschäfte machen. Ja, es gab sogar Leute, die als Zwischenhändler tätig waren und den Tausch unter den einzelnen bewerkstelligten. Die „Provision“ bestand dann auch in Brot oder Brotwerten.

Gleich die ersten Tage lernte ich in der Nähe des Kinosaales in einer elenden Behausung eine Frau kennen, eine polnische Jüdin aus den ärmeren Schichten, die erzählte mir in herzzer­reißender Weise von ihrem Ergehen: Ihr Mann lag im Kran­kenhaus und siechte an Ermattung dahin. Sie hatte schon alles verkauft, was sie von ihrer Habe hatten behalten dürfen — Wertsachen, Anzüge des Mannes, bessere Kleidungsstücke von sich, nur um Brot kaufen zu können. Nun sei sie am Ende. Wenn ihr Mann aus dem Krankenhaus doch noch entlassen würde, hätte sie nichts mehr zum Zusetzen. Nun wollte sie ihr Letztes hergeben: ihre Waschschüssel für ein Brot!

So ging es Hunderten, ja Tausenden, die keine Verwandten hat­ten, die sie versorgten, oder Bekannte, die etwas für sie ta­ten …

Alle paar Wochen gab es etwas Besseres zu Mittag: Karbona­den (gesottene Fleischklößchen) oder „Portionenfleisch“ (ein Stück Kochfleisch). Da war die Freude groß. Da konnte man sich etwas davon aufheben und zum Brot essen, damit man nicht immer nur trockenes Brot zu sich nahm. Das habe ich alles selber ausgekostet, ehe die ersten Pakete für mich kamen. So habe ich den Hunger und die Mattigkeit und das Elendsgefühl am eige­nen Leibe zu spüren bekommen. Zum Glück waren es nur 6 Wochen! Immerhin konnte ich mir genau vorstellen, wie herun­ter man sein kann, wenn solch ein Zustand lange anhält.

Besonders hoch im Kurs stand Obst. Bemerkenswerterweise kam wenig Obst herein. Man durfte von Zuhause nichts anfordern, und so wußten die Angehörigen nicht, daß man nie eine Kirsche, eine Birne, einen Apfel oder eine Pflaume zu sehen be­kam. So war es auch bei mir. In anderthalb Jahren habe ich drei kleine Obstsendungen bekommen, obwohl wir einen großen Obstgarten selber besaßen. Für einen Apfel konnte man ein hal­bes Brot bekommen oder 1 Kilo Kartoffeln. Ja, Kartoffeln — das war auch ein rarer Artikel. Wie sehnte man sich nach einer Kar­toffel! Monate gab es keine einzige. Erst im Mai bekamen wir ab und zu Kartoffeln zu Mittag, ein halbes Pfund pro Kopf, Pellkartoffeln, in Salzwasser gekocht. Man war so gierig dar­auf, daß man sie schon unterwegs ungeschält eine nach der anderen verschlang. Alle paar Wochen gab es als Mittagessen eine „Buchtel“; das war ein Gebäck, das sehr gut schmeckte, aber leider nicht sättigte. Auch davon hätte man 3 bis 4 Stück essen müssen, um gesättigt zu sein. Gemüse gab es sehr selten, im Winter schon gar nicht und im Sommer verschwindend we­nig.

Im ersten Sommer hat es drei- oder viermal einige Salatblätt­chen bei der Mittagsausgabe gegeben, obwohl die „Arier“ außer­halb unseres Gettos riesige Gemüseanpflanzungen hatten, die sie kaum für sich alle nutzbar machen konnten, ganze Frühbeetfelder mit allen Arten von Gemüsen. Wenn man diese von wei­tem sah, packte einen der Zorn, daß man von alledem ausge­schlossen war. Die vitaminlose Ernährung hat natürlich die vie­len Krankheiten verschuldet und die Sterblichkeitsziffer noch erhöht. Wer irgendwie konnte, verschaffte sich von den nach draußen abkommandierten Landarbeitern Gemüse im Tausch gegen Lebensmittel; denn wenn es auch manchmal eine Zugabe von Gemüse wie Kohlrabi oder Kohl gab, dann in so verschwin­dender Menge, daß man es nicht als „Gemüse“ ansprechen konnte, richtig homöopathisch dosiert. Das konnte den Körper natürlich nicht vor Verfall bewahren, sondern nur als Gaumen­kitzel gelten. Ach, wie sehnsüchtig dachte man da an daheim, an den Garten, aus dem man sich täglich nach Herzenslust bis in den Spätherbst hinein die verschiedensten Gemüse holen konnte! Und wie habe ich das Versäumte nach meiner Heim­kehr nachgeholt! Es war eine Lust, mal wieder nach Herzens­lust im Garten zu arbeiten und jäten, hacken, häufeln zu dür­fen — welch eine Wonne! Und wie entbehrte man dies alles in jener Einöde!

Obst gab es auf besagtem Wege überhaupt nicht. Man konnte es auch nicht im Tausch erwerben, weil es einfach nicht gehan­delt wurde. Wahrscheinlich haben die Landarbeiter selber wenig oder gar nichts für sich davon bekommen. Ein mir bekannter Herr erhielt einmal von seinem Sohn aus Berlin Stachelbeeren. Es war bloß ein Pfund. Er teilte viel davon aus. Ich bekam auch zwei Stück — welch ein Erlebnis!

Wie schon erwähnt, hingen die Kinder ungemein an ihrem indischen Elternteil; das sah man schon an den Paketen. Von Mischehen-Partnern haben fast alle regelmäßig Pakete bekom­men. Wir mußten uns immer wieder wundern, was kindliche Liebe zuwege brachte.

Ich selber hatte gemischte Gefühle beim Empfang; mußte ich doch fürchten, daß meine Kinder es sich abgespart hatten, so reichlich waren die Gaben. Andererseits — was bedeuteten diese Pakete! Wer keine bekam, konnte unmöglich durchhalten, und diejenigen, die keine erhielten, verhungerten in der Tat buch- aläblich. Vorboten waren die berüchtigten „Theresienstädter Krankheiten“, wie ruhrartiger Durchfall, große Abmagerung u a. m. Kein Wunder, wenn die Ärmsten dann eines Tages wie ein Licht erloschen.

In der allerersten Zeit kam ich, als ich ums Essen anstehen mußte, einmal mit einer Wienerin ins Gespräch, die mir erzählte, daß sie bald zwei Jahre da sei. Ich ganz erstaunt: „Und so lange haben Sie das ausgehalten?“ Worauf sie sagte: „Ich dachte zu­erst auch nicht, daß ich es überleben würde; aber seit ich von meinen arischen Freunden aus Wien ‚Packerl‘ bekomme, kann ich bestehen.“ Es ist erstaunlich, wie viele hier gleichfalls von arischen Freunden Pakete bekamen, besonders die Wiener. Demnach scheint es doch nicht so zu stimmen, daß die Juden sich mit ihren arischen Wirtsvölkern nicht vertragen haben …

Es ist wohl nicht übertrieben, wenn wir alle der Meinung waren, ohne Paketempfang wäre das Leben in Theresienstadt unerträglich gewesen. Schon die Formalitäten und die postalisch-technische Abwicklung brachte in die Öde Abwechslung und damit Leben. Die Briefträgerin brachte die Ankündigungen (Avise) für jedes einzelne Haus zum Hausältesten. Dieser ließ die glücklich Betroffenen dann entweder auf sein Büro kommen, oder er brachte die Avise mit seinem großen Quittungsbuch in die einzelnen Zimmer und ließ die Betreffenden den Empfang derselben quittieren. Mit den Avisen und mit der Kennkarte als Ausweis ausgerüstet wanderte man dann klopfenden Herzens zu den verschiedensten Schaltern, wo oft Hunderte schon warteten. Man stand dann in langer Schlange an, bis man zunächst an den Postschalter kam und seine 10-Ghettokronen ablieferte. Daraufhin wurde der Stempel auf das Avis gedrückt, und man konnte nun an den Paketschalter weiterwandern. Dort gab es mehrere Beauftragte, die den Verkehr regelten, indem sie je 10 Avise an sich nahmen und dem Postbeamten in die Hand gaben. Dieser ließ durch seine Helfer im Paketraum die Pakete heraussuchen, woraufhin die einzelnen aufgerufen wurden. Die Avise wurden ihnen dann zur Unterschrift gegen Vorzeigen der Kennkarte und Ansagen der Transportnummer ausgehändigt, und nach Rückgabe des unterzeichneten Avises bekam man dann das Paket. Das heißt: Jedes Paket wurde in Gegenwart des Empfängers zunächst geöffnet, auf „Konterbande“ untersucht und erst, wenn nicht Anstößiges gefunden, ausgeliefert. Der Konterbande unterlagen: Getränke, Rauchwaren, Medikamente, Boh­nenkaffee und … Geld, auch Zeitungen oder Briefe u. a. m. Wie beglückt zog man dann ab! Eine Geschenkgabe aus der Heimat, von den Lieben! Da solch ein Paket eine Laufzeit von immerhin nur 8 bis 14 Tagen hatte, so erhielt man auf diese Weise neu­este Lebenszeichen.

Ich weiß noch, wie mir zumute war, als ich nach 6 Wochen das erste Paket bekam und die Handschrift meines Jungen auf der Paketadresse erkannte. Für mich war das fast ein Stück Himmel auf Erden! Und dann eine Woche darauf ein Paket mit der Handschrift meiner Tochter! Theresienstadt hatte sich für mich in ein Paradies verwandelt. Es gab mir Auftrieb zum Leben und Hoffen und Harren. Meine Kinder lebten beide, und ich hatte ihre geliebte Handschrift auf den Paketen am Kopfende meiner Schlaf- und Wohnstätte, unserer einzigen Aufbewahrungsmöglichkeit. Die Pakete kamen schon so bald, weil meine Kinder erfahren hatten, daß 4 bis 5 Monate vergehen könnten, ehe sie meine erste Nachricht mit Angabe der Anschrift erhalten wür­den. Es wurde ihnen an maßgebender Stelle geraten, einfach an meinen Transport zu adressieren. Das taten sie denn auch, und ich war nicht wenig überrascht, fünf Monate lang meine regel­mäßigen Paketsendungen an diese Adresse zu erhalten. Das erste offizielle Paket konnte erst nach diesem Zeitraum richtig bei mir ankommen, weil meine erste Nachricht so spät zu Hause eingegangen war. Es gehörte doch zu den Methoden der „Herrenrasse“, die Menschen vor allem seelisch zu vernichten. Und welche Mittel wären geeigneter dazu als das Zerreißen der Familien und die gegenseitige Ungewißheit über das Ergehen der Getrennten —?

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Zeugnis von kind­licher Liebe und Treue geben. Meine Kinder hatten in Erfahrung gebracht, daß man nur ein Paket monatlich abschicken könnte; für beide Kinder wären das zwei Pakete gewesen. Nun wurde ihnen von erfahrener Seite erklärt, 4 kg Zuschuß monatlich würden nicht ausreichen, um jemand in Theresienstadt am Leben zu erhalten. Irgendwie ist es doch, trotz hermetischer Abschlie­ßung, bekanntgeworden, daß die Sterblichkeit ungewöhnlich groß war. Vor allem war dies in der ersten Zeit der Fall, als die Juden den Paketverkehr u. a. m. noch nicht richtig organisiert hatten. Wir vermuteten, daß das Internationale Rote Kreuz dort sehr energisch interveniert hatte und laufend auf Besserung drang. Daher auch das wunderbare Funktionieren des Paket­verkehrs, der ausschließlich in jüdischen Händen lag und nur von tschechischer Gendarmerie überwacht wur­de. Die Juden befolgten allerdings haarscharf alle Vorschriften, wohl wissend, daß der geringste Verstoß ihnen den Kopf gekostet oder minde­stens einen der gefürchteten Polentransporte eingebracht hätte. (Darüber später ausführlich.) Darum hatte man auch in allen hierzu gehörigen Abteilungen den Eindruck, es mit alter preußi­scher Beamtenschaft aus den Zeiten des Fridericus Rex zu tun zu haben.

Meine Kinder also, die mir unbedingt jede Woche ein 2-kg-Paket zukommen lassen wollten, kamen auf den rührenden Einfall, zwei weitere über nichtarische Bekannte aus Berlin und Stuttgart zu schicken. Damit dies schnell ging, brachten sie diese Pakete jedesmal selbst dorthin. Sie haben also Zeit und Mühe nicht gescheut, um ihre Mutter am Leben zu erhalten. Wenn sie nicht selber fahren konnten, beauftragten sie damit treue Angestellte und Arbeiter der Firma. Auch unser Pg-Obmann (Mitglied der NSDAP) hat sich darin glänzend bewährt, denn er riskierte dabei viel, wenn er als „Hoheitsträger“ dazu beitrug, eine Jüdin am Leben zu erhalten. …

Heizung

Kohlen gab es nur für die Gemeinschaftsküchen und für die Küchen, in denen man sein Essen aufwärmen konnte. Für die einzelnen Zimmer gab es kein Heizmaterial. Es standen wohl in fast allen Räumen altersschwache, klapprige Dinger da, die „Öfen“ markieren sollten; aber sie funktionierten meistens schlecht, und man hatte ja auch nichts hineinzulegen. Die Kohlen oder das Holz dazu mußten „geschleust“ werden, was gleichbedeutend mit „Organisieren“ war, wie es im Hitlerstaat hieß. Alle Insassen eines Zimmers mußten mit dazu beitragen. Wenn sie nicht selber schleusen konnten, mußten sie Brot hergeben und solche schleusen lassen, die mehr Geschick zu diesem Gewerbe hatten als sie selbst … Ich weiß noch, wie ich auch meinen Mann stehen wollte und, weil zu ungeschickt zum Schleu­sen, schließlich eine hölzerne Doppelbettstelle von Leuten, die in den „Transport“ gekommen waren, hinter mir hergeschleift habe. Wie ich das fertigbrachte, weiß ich nicht mehr, wohl aber dies, daß ich wochenlang Reißen und Gliederschmerzen infolge Überanstrengung hatte.

Außer dem „Schleusen“ gab es noch eine andere Möglichkeit, sich Feuerung zu schaffen. An einem Ende des Ortes war ein Sägewerk, das von 12 bis 12 1/4 Uhr mittags seine Tore gastlich öffnete und großzügig Säge- oder Hobelspäne spendete. Da hieß es, bei jedem Wetter Schlan­ge stehen, ein bis zwei Stunden; denn die letzten kamen nicht mehr dran, weil von den Aufsichts­beamten sehr pünktlich geschlossen wurde. Wie es in dem Fa­briksaal beim Einsacken der Späne zuging, kann man sich leicht denken: ein Hasten, Eilen, Jagen, Schimpfen, um ja gut zum Ziele zu kommen und etwas zu erwischen; hing von dem Er­folg doch das Wohl und die Gesundheit ab. Wer nichts brachte, mußte im Winter sein bißchen Essen eiskalt zu sich nehmen und obendrein in seinem „Zimmer“ frieren. Den ersten Winter im Kinosaal war es schlimm in dieser Beziehung. Da gab es keine Heizgelegenheit, und wir mußten jämmerlich frieren, obwohl wir in Kleidern, manche sogar in Mänteln, schliefen.

Entwesung

„Entwesung“ — ein spezifisch Theresienstädter Ausdruck. So wichtig und nötig dies gewiß war, so haben sich doch alle Insas­sen schrecklich davor gefürchtet.

Was war denn dies Schreckgespenst? Eine Entwanzung, eine Desinfektion! Das rohgezimmerte Holz unserer Bettstellen wim­melte von Wanzen. Besonders in schwülen Sommernächten kamen sie aus allen Ritzen, Rissen und Fugen des spröden, split­terigen Holzes gekrochen und überfielen uns wie ein Heu­schreckenschwarm. Man konnte sich ihrer nicht erwehren. Hatte man einige von sich abgelesen, kamen drei- und viermal soviel andere. Man war ihnen einfach wahllos preisgegeben! Das konnte einen zur Raserei bringen. Ich weiß noch genau, wie ich einmal in einer solchen Nacht kein Auge geschlossen habe, son­dern die Tiere, in meinem Bett aufrecht sitzend, das Wasch­becken mit Wasser vor mir, mit beiden Händen von meinem Körper gestreift und ins Wasser geworfen habe. Um solcher Qual zu entgehen, haben sehr viele im Sommer in den Höfen auf ihren Matratzen oder Säcken geschlafen. Wenn sie vom Re­gen überrascht wurden, stellten sie sich unter, um dann nach dessen Aufhören sich von neuem hinzulegen. Sie hielten es in ihren Marterbetten einfach nicht aus und zogen es vor, einen Teil der Nacht wachend zuzubringen, statt sich zerfleischen zu lassen. Ein Wanzen­stich hinterläßt einen schrecklichen Juckreiz, ein brennendes Gefühl, so daß man sich wundkratzt. Um die­sem unerträglichen Zustand abzuhelfen, wurden laufend einige Häuserblocks „entwest“, d. h. ausgeräuchert. Die Insassen eines solchen Blocks mußten zu diesem Zweck ihre Behausung mit allem darin Befindlichen räumen, wobei sie nur eine Decke mit­nehmen durften. Da der Ort ohnehin überfüllt war, wurden diese Betroffenen auf leeren, schmutzigen, zugigen Böden unter­gebracht. Diese Prozedur dauerte ungefähr eine Woche. In die­ser Zeit war man heimatlos und lag sozusagen auf der Straße. Bei kaltem, nassen Wetter konnte man sich den Tod dabei ho­len. Eine mir bekannte Dame bekam Lungenentzündung und als Folgeerscheinung Tuberkulose. Andere haben sich Bronchial­katarrh u. a. m. geholt. Daher hatte man bei so einer Entwesung gemischte Gefühle. So sehr man die Plage los sein wollte, so sehr graute es einem doch davor. Reine Freuden waren eben dort nicht zu haben.

Neuankömmlinge

Im Kinosaal hieß es eines Tages, wir müßten noch mehr zusammenrücken, es müsse Platz für Neuankömmlinge geschaffen werden.

Einige mir bekannte Damen und ich hatten uns als Unterkunft die Bühne gewählt, und ich muß sagen, das hat uns gefallen. Wenn wir auch wie die Bücklinge geschichtet nebeneinanderlagen, so hatten wir doch wenigstens so etwas wie eine Distanz gegen­über den anderen. Wir waren sozusagen abgetrennt und nicht mehr so mitten im Gewühl und Gezänk. Man kann sich wohl vorstellen, daß die unglücklichen Insassen solcher Unterkünfte keine sehr harmonische Gemeinschaft bildeten, daß sie nicht so ausgeglichen und versöhnlich gestimmt waren wie unter nor­malen Verhältnissen; ganz im Gegenteil: der geringste Anlaß genügte, um eine Flut von Vorwürfen und Beleidigungen schlimmster Art auszulösen. Es war und blieb hier äußerst schwer, von Mensch zu Mensch in ein richtiges Verhältnis zu kommen. Das beste Mittel war noch Schweigen. Hier galt mehr denn je, daß Schweigen „Gold“ ist; denn einer allein kann sich nicht zanken, es gehören eben immer zwei dazu. Aber manch­mal lief einem doch die Galle über, und man wehrte sich seiner Haut.

Da oben, auf dem erhöhten Platz, war es übrigens sogar interes­sant, abgesehen von der Misere mit dem Fenster, an dem ich schlief und das statt Scheiben nur zerrissene Pappe als Schutz gegen die Witterung bot. So bekam ich im Winter — der Winter 1944 war bis zum Mai kalt — manchen Schneesturm an meinem Kopf zu spüren. Es wurde erst einigermaßen erträglich, als ich mit einem dicken Kopftuch schlief, das ich mir auch übers Ge­sicht zog. Gleichwohl war es, wie gesagt, auf unserer Schlafstatt nicht übel. Wir betrachteten eben die Dinge von dort aus mehr „von ferne“.

Von ferne gesehen beurteilt sich manches anders — bis hin zu den Mißhandlungen von Menschen. Sonst könnte man sich auch gar nicht erklären, daß so viele achtbare Deutsche zu alledem, was unter Hitlers Teufelsregierung geschehen ist, geschwiegen haben. Sie haben das alles nicht gewußt, was inzwischen in Nürnberg ans Tageslicht gekommen ist; das kann man ihnen gern glauben. Allerdings mußten sie doch wissen, dai jahrelang anderen geraubt wurde, wovon sie lebten, und zwar in einem Ausmaß, wie es brutaler nicht gedacht werden konnte. Die neuen Machthaber haben es ja öffentlich verkündigt, daß, wenn in Europa gehungert werden soll, die anderen, also die sog. „inferioren“ Rassen, davon betroffen würden, die deut­schen Edelmenschen aber nicht.

Ich frage an dieser Stelle die Millionen Kirchgänger: Wo blieb euer christliches Gewissen? Wo das Gebot der Nächstenliebe? Oder fallen andere Völker nicht unter dieses Gebot, das Grund­gebot des ganzen Dekaloges —? Ach, es ist dies ein schwarzes Kapitel. Und das deutsche Volk in seiner Gesamtheit muß sich das immer wieder sagen lassen, daß es in Zukunft gerade auf diesem Gebiet sehr viel gutzumachen hat, nämlich in der Be­wertung anderer Völker und Rassen. Es ist ein ehernes Gesetz Gottes: „Wer sich selbst erhöhet, soll erniedrigt werden.“

Doch zurück zu meinem Kinosaal. Wir saßen und lagen also da oben und beobachteten unten zu unseren Füßen das, was man dort „Leben“ nannte: ein Gemurmel und Gewühl sondergleichen. Es kam einem vor wie ein brausendes, wogendes Meer bei einer stürmischen Überfahrt über den Kanal; wenigstens mir kam das so vor. Andere hatten andere Eindrücke. So meinte eine Dame aus Wilhelmshaven, die neben mir lag, es sähe genauso aus wie auf dem Zwischendeck eines Auswandererschiffes; das Ge­murmel und der ganze Betrieb da unten erinnere sie sehr daran. So hausten wir nun hier bis Mitte März. Um diesen Zeitpunkt kam unser Hausältester früh vor Morgengrauen und verkün­digte uns, bis 9 Uhr müßte alles hier geräumt sein; wir würden in alle Winde zerstreut. Er hätte schon einen Umsiedlungsplan gemacht und wür­de die betreffenden Gruppen zusammenstel­len und ausrufen. Die Transportkolonne würde alles weitere übernehmen. Und — in der Tat, es klappte alles. Wie am Schnürchen lief der „Umzug“ ab. Und wir? Man glaube es oder nicht: Wir trennten uns nur ungern von dem Raum, der, so elend und jämmerlich er gewesen war, nach unserer Ankunft doch so etwas bot, was einem Heim (von weitem, ganz von weitem) glich. Merkwürdig, wie der Mensch doch unter den widrigsten Verhältnissen Wurzeln schlägt, genauso wie die Pflanze auf dem Felsen …

In der neuen „Wohnstelle“ in der Hauptstraße, wohin ich dann kam, war es alles andere als schön. Wieder auf der Erde schla­fen, in einem ganz kleinen, engen Raum 16 Personen in zwei Längsreihen. Da der Raum überdies sehr schmal war, konnten wir die Beine nicht ausstrecken; man hätte sonst die Gegen­überliegenden gestoßen. Überdies mußte ein Durchgang gelas­sen werden für diejenigen, die nachts hinausmußten. Ich wurde sehr wenig freundlich aufgenommen; denn der Raum war schon überfüllt. Meine Nachbarinnen rechts und links jammerten ganz schlimm, als sie mir zwischen sich einen Platz abtreten sollten. Ihre Lagerstatt wurde dadurch sehr verengt, und sie konnten nicht an das Kopfende an der Wand gelangen, wo sie ihre weni­ge Habe aufbewahrt hatten. So gab es denn jeden Morgen viel Zank und Streit beim Bettenmachen. „Sie haben ihre Matratze zu sehr auf meinen Platz geschoben“, hieß es da. „Diese 5 Zentimeter gehören noch zu meinem Platz.“ So ging es denn hin und her und machte einem das Leben zur Hölle. Und wenn ich im Schlaf meine Beine etwas vorgestreckt hatte, dann wurde ich mit einem unsanften Puff zurückgestoßen, worüber ich na­türlich wach wurde und nicht mehr einschlafen konnte. Da gab es viel Tränen. Und gleich dem Verlorenen Sohn dachte ich an das schöne Heim und unser harmonisches Familienleben zurück, und gleich ihm wünschte ich, der geringste Arbeiter in unserer Fabrik zu sein und so schön leben und schlafen zu können wie dieser.

Da kamen einem die Gedanken nach dem Warum und Wozu. Wem nützte es, daß ich hier ein Tierdasein führte und keinen Wirkungskreis hatte? (Über 65jährige standen nicht mehr unter Arbeitspflicht.) Daheim dagegen versah ich den ganzen Haus­halt meiner Kinder. Wozu diese Maßnahme? Was bezweckte sie? Solche und ähnliche Gedanken peinigten mein Hirn. Aber — was nützte dies alles? Es blieb eben nur die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende; damit würde dann wohl auch unsere Befreiung erfolgen.

Daß Hitler diesen Krieg nicht gewinnen würde, war nicht nur für mich klar, die ich Auslandssender gehört hatte, sondern für uns alle, auch für die, die schon Jahre vorher hierhergekommen waren. Es sagte uns unser Gerechtigkeitsgefühl, Gott könne das nicht zugeben, daß soviel Ungerechtigkeit triumphierte. Wir Christen und die gläubigen Juden waren uns in dieser Auf­fassung einig.

Menschentypen

Die Menschen sind bekanntlich so verschieden, innerlich und äußerlich, daß es nie zwei ganz gleiche gibt, und doch gibt es Doppelgänger.

Zwei von ihnen habe ich in Theresienstadt in ganz frappanter Weise erlebt. Da war einmal der Herr Meier im Kinosaal, der mich so sehr an unseren Packer Hempel erinnerte, daß ich ihn oft so anredete. Er war genauso groß, genauso hager und be­weglich, hatte gleichfalls rötliches Haar und glich ihm auch sonst in seinem ganzen Habitus. Ich hätte es nicht für möglich ge­halten, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. Und er war doch Jude und kein Arier wie Hempel! Was soll man dazu sagen —? Dann war da in der Seestraße eine sehr sympathische Dame, Frau Gottlieb, Gattin eines Wiener Hofrates. Diese erinnerte mich sehr an eine mütterliche Freundin in meiner Heimatstadt, mit der ich früher sehr verbunden war, Frau Becher. Haarscharf der gleiche vornehm-schöne Kopf mit dem vollen weißen Haar, vorzeitig gealtert infolge des Verlustes ihres Mannes in There­sienstadt. Auch die gedrungene energische Gestalt, die Bewe­gungen, die Art sich zu geben — alles dies bei beiden gleich. Und Frau Becher war doch Rheinländerin von der holländischen Grenze, dazu „Arierin“! Es war sehr interessant, dies zu beob­achten, und es bestärkte einen in der Ansicht, daß die Schöpfung sich nicht an Rassengesetze bindet, daß es unter allen Rassen, Völkern und Religionen Ähnliches und Verwandtes gibt — allen einseitigen Rassenwissenschaftlern zum Trotz.

Noch eine andere Beobachtung habe ich dort gemacht, nämlich die, daß Lebensweise und äußere Umstände die Menschen ver­ändern, ja verwandeln. So war da eine Dame von der „Water­kant“, blond, hübsch, wohlgestaltet, sehr gepflegt und zart, dazu gütig und verträglich. Das ganze Äußere verriet einen Menschen aus gutem Milieu und in guter Position. Und nach einem Jahr? Total verändert: bucklig, schwerfälliger Gang, ver­nachlässigtes Äußeres, ungeschlacht, grob, derb, mürrisch. Sie hatte schwere körperliche Arbeit zu verrichten und unangeneh­me Mitbewohner zu ertragen, dazu schlechte Nachrichten von daheim erhalten; all dies bewirkte den inneren und äußeren Wandel. Menschen sind eben nicht Maschinen, sondern sensible Wesen, und sie reagieren auf Umstände und Verhältnisse, allen anderen Theorien zum Trotz. Die Erbmasse allein tut es eben doch nicht.

Wieder ein anderer Typ. In der Parkstraße gab es einen Mann, der vom Hausältesten zum Reinigen der Klosetts bestimmt wor­den war. Dabei wurde er oft beschimpft, weil er angeblich unge­schickt war. Irgend etwas zog mich an dem armen Mann an. Und so ließ ich mich mit ihm in ein Gespräch ein und erfuhr dabei, daß er von Hause aus Rechtsanwalt war; mit einem An­flug von Stolz nannte er mir die Universitäten, auf denen er studiert hatte. Und hier? Er hatte es aufgegeben, sich durchzu­setzen, ließ alles geduldig über sich ergehen. Und gerade das durfte man in Theresienstadt nicht!

Ach, wieviel könnte man über Menschenart und Menschen­schicksal schreiben! Das würde jedoch den Rahmen dieses Büch­leins sprengen. Zum Schluß daher nur noch die Erinnerung an eine etwas komische Figur. Unter meinen Blinden, die ich zu betreuen hatte, war ein kleiner Hamburger, harmlos und gut­mütig. Er wollte mir durchaus „keine Mühe machen“; ich nannte ihn daher den „kleinen Gentleman“. Aber er war sehr großstädtisch; so muß er auch wohl früher noch nie ein richtiges Feld gesehen haben. Als ich einmal begeistert von unserem Garten sprach, meinte er: „Die kleinen Kartoffeln entwickeln sich wohl über der Erde am Stiel zu großen?“ Es war daher für ihn so etwas wie eine Offenbarung, als ich ihm etwas über die Kartof­felkultur erzählte …

Unter den wirklich gläubigen Juden gab es sehr wertvolle, inter­essante und begabte Persönlichkeiten. So lernte ich in dem neu­en, schrecklichen Zimmer u. a. die vormalige Vorsitzende der jüdischen Frauenverbände, die dann dem allgemeinen Deut­schen Frauenbund angeschlossen waren, kennen. Sie hielt uns im engeren Kreis einen Vortrag über das Ausmaß und die Viel­seitigkeit dieser Vereinigung, der zeigte, wieviel nützliche und fruchtbringende Arbeit dort geleistet wurde. Als frühere Lehre­rin war sie geistig sehr rege. Darüber hinaus war sie aufs beste bewandert in allen Sparten des Haushaltes und hatte auf die­sem Gebiet mit viel Geschick und Erfolg Kurse abgehalten. Da­bei war sie großzügig und umsichtig und im übrigen sehr glück­lich in der Auswahl ihrer Helferinnen. Sprühend von Geist und Humor, mit feinem, durchgeistigtem Gesicht, hatte sie auch in der neuen Situation ihren Lebenswillen nicht verloren, obwohl sie zu den Vielen gehörte, die dort ihren Lebensgefähr­ten — einen Gymnasialdirektor i. R. — hergeben mußten. Ihre Kinder waren rechtzeitig ausgewandert und unterstützten sie über Lissabon mit Sardinen-Sendungen, die in Theresienstadt hoch im Kurs standen und für die man viele nützliche Sachen eintauschen konnte. Sie erzählte ohne Verbitterung und ohne viel Aufhebens darum zu machen, wie sich ihre und ihres Man­nes letzten Tage in ihrem Heimatort Berlin abgewickelt hatten. Natürlich war ihnen vorher alles für ein Butterbrot abgenommen worden. Ihr altes, von vielen Geschlechtern her ererbtes Tafel- und Haussilber wurde auf der großen Brückenwaage gewogen, und es kam den großzügigen Abnehmern auf 2 bis 3 kg Über­gewicht bei den kostbaren Sachen von „800 fein“ nicht an. Nun, sie war innerlich von allem los; nur das Kriegsende wollte sie erleben und dann zu ihren Kindern nach Palästina gehen. Sie war im übrigen wunderbar bewandert in der Bibel — eine Seltenheit bei jüdischen Frauen! —, wußte auch im Neuen Testa­ment gut Bescheid und hielt jeden Freitagabend eine Andacht über einen Bibeltext: inhaltlich großartig, mit Nutzanwendung auf unser Leben in Theresienstadt; ein evangelischer Pfarrer hätte es nicht besser machen können.

Was ich an ihr am meisten bewunderte, war ihre heiße Liebe zu Deutschland, trotz allen erfahrenen Leides. Von gleicher Ge­sinnung waren auch ihre Verwandten, die sie besuchten, junge Studienräte, die sich ein Leben außerhalb Deutschlands gar nicht denken konnten. Seit Hunderten von Jahren hatten ihre Familien hier gelebt und gewirkt; ihr Herz gehörte ihrer Heimat — wieder ein Beweis für die Unhaltbarkeit der oberflächlichen Nazi­behauptung, ein Jude könne „nie deutsch“ fühlen. Diese fühlten und handelten deutsch, vielleicht mehr als mancher Ritterkreuz­träger! Ich fragte mich überhaupt bei vielen Gelegenheiten: Sind dies denn wirklich Juden? Das kann doch eigentlich nicht sein. Sie haben doch nicht ein einziges dieser oft zitierten und publi­zierten Merkmale: wie z. B. Geldliebe, mangelnder Idealismus, Schachergeist, „vaterlandslose“ Gesinnung und wie sonst noch all die schönen Bezeichnungen lauten mögen. Ich suchte oft nach Juden und fand statt dessen echte Rheinländer, Westfalen, Hamburger, Bremer, Süddeutsche, Thüringer, Sachsen usw., nie aber die sogenannten „typischen Juden“. Die Juden hatten sich in ihrer Art und sogar in ihrem Aussehen so angepaßt, daß ich meine Verwunderung darüber gegenüber einem Fachmann auf diesem Gebiete zum Ausdruck brachte. Dieser meinte, die Juden hätten sich zunehmend vermischt. Es seien vielfach sogar die christlichen Partner einer Ehe zum Judentum übergetreten, und sog. Mischlinge hätten wieder Juden geheiratet usw.; des­halb sei diese spezifisch deutsche Haltung durchaus zu erklären. In der Tat gab es in Theresienstadt allein 3 000 Mischlinge, die — mit Juden verheiratet — als „Geltungsjuden“ auch an diesen Ort der Qual gekommen waren.

Bei den dänischen, tschechischen und anderen ausländischen La­gerinsassen war es genauso. Die tschechischen zum Beispiel sahen ganz slawisch aus. Es waren meistens große, kräftige, wohlausgebildete Gestalten, die Zeugnis davon ablegten, daß sie in einem reichen und fruchtbaren Lande aufgewachsen wa­ren. Diese hatten auch gut zu essen; sie bekamen von ihren christlichen Verwandten — fast alle hatten solche — riesige Sendungen, 50 bis 60 kg, so daß sie fast wie mitten im Frieden lebten. Mit denen konnte man tauschen. Man gab z. B. Sardinen, Zucker, Grieß oder Haferflocken ab und konnte dafür Kartoffeln in entsprechender Men­ge erhalten. Dadurch konnte man sich vor Hunger schützen. Die Dänen bekamen ebenfalls großartige Sendungen, und zwar vom dänischen König per­sönlich! Es war erstaunlich, was alles in solch einem Paket war und in welcher Qualität. Ihr Landesvater ließ es sich wirklich etwas kosten, für seine jüdischen Bürger zu sorgen. Sie stan­den auch sonst unter ganz besonderem Schutz; so durften sie zum Beispiel nicht mit in die Polentransporte genommen wer­den, wahrscheinlich aufgrund einer Abmachung mit dem Deut­schen Roten Kreuz. Die Dänen waren auch die ersten, die aus Theresienstadt zurückgefordert wurden — von ihrem König — und die merkwürdigerweise auch im März schon fort durften, also noch vor Beendigung des Krieges …

Es war mir eine richtige Genugtuung, konstatieren zu können, daß nicht nur die Dänen, sondern auch die Tschechen, Hollän­der und andere nicht im geringsten daran dachten, sich anläß­lich der Transporte in die KZs ihrer jüdischen Bürger zu ent­ledigen; im Gegenteil — sie versorgten sie sehr gut und holten sie bei der ersten besten Gelegenheit heim! So wurden auch die tschechischen Juden in Kolonnen von Autobussen und Pri­vatautos von ihren Landsleuten nach Hause gebracht, sobald die Luft um Theresienstadt einigermaßen rein war, obwohl in vielen Teilen Deutschlands noch gekämpft wurde. Die anderen Völker dachten eben nicht, daß die Juden ihr „Unglück“ seien — vielleicht weil sie in Deutschland einen so abschreckenden Rassendünkel und völkischen Hochmut sahen, der teilweise leider bis in die christlichen Kreise hineinreichte. Hitler ver­stand es eben, auch bei den Besten die niedrigsten Instinkte zu wecken: völkische Überheblichkeit, Herrschsucht, Expan­sionssucht, Weltträume („Heute gehört uns Deutschland, mor­gen die ganze Welt“), obwohl sie doch wissen mußten, daß dieser Krieg kein „aufgezwungener“ war. Kein Geringerer als Goebbels selbst hatte es offen zugegeben, daß der deut­sche Soldat nicht für „Ideale“ kämpfen könne; er müsse reale Ziele im Auge haben, nämlich die russischen wogenden Weizenfelder, Ölgruben und Stahlbergwerke. Damit wußte jeder, daß dies ein richtiger Eroberungskrieg war. Aber — das adamitische Wesen, das auch den besten Christen noch an­haftet, wurde ja von den Nazis richtig gezüchtet, gehätschelt und gepflegt. Der Propaganda war es eben meisterhaft gelun­gen, die niedrigsten Triebe, die bei den „Guten“ ganz zurück­gedrängt irgendwo in der hintersten Ecke des Unterbewußtseins schlummerten, herauszulocken, so daß diese armen Menschen ihre Urteilskraft einfach verloren, mit sehenden Augen nichts sahen und mit hörenden Ohren nichts hörten — genauso wie einst die Juden, über die der Herr in Jerusalem weinen mußte … Kann man sich da wundem, daß das Erwachen so bitter war, daß das deutsche Volk durch eine Flut von Leid hindurchwaten mußte? Man sage ja nicht, „wenn der Versailler Vertrag nicht gewesen wäre … oder mache andere fromme Sprüche! Was hat ein schlechter Vertrag oder sonst etwas Schreckliches in der Welt mit diesen unerhörten Verbrechen zu tun, wie sie uns in Nürnberg enthüllt wurden —? Nein, Hitler wollte der ein­malige Feldherr von Format sein neben den zeitgenössischen „militärischen Idioten“ — das ist und bleibt der springende Punkt. Er wollte nicht als einer der Großen in die Geschichte eingehen, sondern als der Größte. Und sein tollkühner Plan war ganz dazu angetan. Die klassische Zangenbewegung: im Norden vom Kaukasus und im Süden durch den Suezkanal hinüber nach Indien; dort mit den Japanern sich vereinigen, so daß das britische Weltreich in seinen Fugen erzittert und zusam­menbricht. Dann geht es sofort weiter zur anderen Halbkugel der Welt. Hannibal und Cäsar waren ja Stümper gegen diesen deutschen Hitler! Ja, der Plan war mehr als kühn … Hochstapler, Verbrecher und Massenmörder haben immer solche überheblichen Pläne. Aber — sie machen ihre Rechnung ohne Gott, der zuletzt doch noch sein Halt spricht.

Daß sich auch Christen an den Erfolgen der Nazis berauschten, weiß ich auch aus eigener Erfahrung. Ein gläubiger Pfarrer sagte in den ersten Kriegsjahren zu mir: „Hitler wird von Gott als Werkzeug benutzt.“ Und eine nicht minder christliche Dame aus Berlin, die vorgab, auf die göttlichen Linien in der Ge­schichte zu achten, also auch im Kriege, meinte mir gegenüber damals: „England hat vierhundert Jahre Weltherrschaft be­sessen. Nun kommt Deutschland an die Reihe!“ Sie behaup­tete, eine gute Auslegerin der Offenbarung zu sein und zu wissen, daß die ganze Apokalypse sich an England erfüllen würde. Es würde verwüstet, ja, vernichtet wer­den; Hitler sei von Gott dazu berufen, dies zu vollführen. Man konnte zu alle­dem damals nur schweigen. Und heute wundert man sich nicht, daß der Fall Deutschlands so tief war. Gott hat eben die Gerech­ten in Deutschland nicht gefunden, von denen er mit Bezug auf Ninive spricht. Auch die Kinder Gottes waren teilweise vom Hitlerismus mehr oder weniger infiziert. Daher vielleicht das Strafgericht. — Was uns jetzt nottut, ist vor allen Dingen Einsicht und nicht etwa die Suche nach einem neuen Sünden­bock. 1918 waren es angeblich die Juden mit ihrem „Dolchstoß“ im Rücken. Wer wird es morgen sein, nachdem ein so hoher Prozentsatz dieses Volkes in Europa in Gaskammern sein Ende fand? Ach, diese vielen Opfer im jüdischen und auch in ande­ren Völkern! Ihr Blut schreit zu Gott um Rache. Aber — das Gericht kann dennoch abgewandt werden, wenn die Christen wieder Christen werden und sich von ihrem politischen Grö­ßenwahn abkehren. Denn Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern daß der Sünder sich bekehre und lebe!

Gewiß ist auch die These vom Gericht Gottes über die Juden richtig, das soll niemand bestreiten; ich habe es zu meinen Volksgenossen in Theresienstadt oft genug gesagt und dabei nichts weniger als Beifall geerntet. Aber — auch das andere ist wahr, nämlich die Tatsache des Strafgerichtes über die Deutschen. Auch sie haben gegen das erste Gebot ganz gewaltig gesündigt. Sie, die Christen fallen unter das Wort: „Wer da weiß Gutes zu tun und tut es nicht, dem ist’s Sünde.“

Registrierungen und Transporte

Schon im Kinosaal, wenige Tage nach unserer Ankunft, waren wir registriert worden, und zwar nach folgenden Gesichtspunkten: ob man christlich sei, ob die Kinder christlich erzogen seien und ob man prominente arische Verwandte und Bekannte habe; von diesen mußte man je 2 mit genauer Anschrift angeben. Diese Aufnahmen wie auch spätere wurden von Juden ge­macht. Auf meine Anfrage nach dem Zweck erfuhr ich, daß es sich um vorgesehene Polentransporte handle; die Betroffe­nen würden dafür je nach den gemachten Feststellungen zu­sammengestellt. Ich war natürlich nicht wenig erschrocken, denn ich hatte schon genügend von solchen Transporten in Theresienstadt gehört. Transport! Ein harmloses Wort und im kaufmännischen Leben so viel angewandt …; aber — was verbanden die Theresienstädter mit diesem Ausdruck! Für sie war er kein beliebiger Begriff; hat doch niemand in Theresien­stadt jemals wieder von denen gehört, die in den „Transport“ kamen, nicht von Freunden, nicht von Verwandten, nicht von den eigenen Kindern oder Ehegatten. Man kann sich vorstellen, wie uns bei diesen Erfahrungen zumute war: ein Zustand zwi­schen Hoffen und Bangen, zwischen Leben und Tod!

Und in der Tat, schon im April wurde von einem nahen „Trans­port“ gemunkelt; die Juden in den Ämtern, die das zu bear­beiten hatten, ließen etwas durchsickern. Und wir liefen zagen­den und bangen Herzens einher mit der angstvollen Frage­stellung: Wird’s auch dich treffen? Was soll dann aus deinen Kindern werden, wenn sie keine Nachrichten und keine Paket­bestätigungen mehr von dir erhalten? Sie werden sich zu Tode grämen … Und wahrhaftig — Anfang Mai wurde das lauernde Schreckgespenst Wirklichkeit. Eines Tages beim ersten Morgengrau­en kam der Hausälteste auch in unser Zimmer und brachte die Liste der Aufgerufenen zur Unterschrift; in den anderen Zimmern war es schon die ganze Nacht so gewesen. Die „Befehle“ wurden meistens nachts ausgetragen, wenn die Menschen im ersten festen Schlummer lagen. Das war eine Aufregung im ganzen Ort! Die Austragungen dauerten unge­fähr zwei Nächte. Am Tage mußten die Betroffenen dann ihre Sachen richten, genau nach Vorschrift. Jeder durfte zwei Ge­päckstücke und eine Bettrolle mitnehmen; die Gepäckstücke mußten, wenn möglich, aus Rucksäcken bestehen. Auf jedem Gepäckstück mußten der volle Name sowie die Transportnum­mer, in Tinte oder Tintenstift geschrieben, aufgenäht sein.

Nun galt es zu überlegen, was man von seinen Sachen mitneh­men sollte. Und ich muß sagen, ich habe die Leute bewundert, mit welcher Fassung sie ihre Vorbereitungen trafen. Ohne Jammer, ohne Geschrei, ohne Verwünschungen gingen sie — in den Tod. Denn daß die Transporte am Ende Tod bedeuteten, darüber waren sich alle im klaren. Sie wußten nur nichts Zu­verlässiges über das Wie und Wann; aber die Tatsache an sich war niemandem zweifelhaft. Eine Frau war allerdings in unserem Zimmer, die hatte es buchstäblich hingemäht. Sie lag stöhnend und leise vor sich hinweinend da und konnte sich nicht auf­raffen, ihre Vorbereitungen zu treffen. Diese Haltung war vielleicht auch die Folge ihrer körperlichen Verfassung. Sie war unterleibskrank und sehr schwächlich und mitgenommen, zu­mal sie von ihren beiden Kindern im Ausland bis zur Stunde noch kein Lebenszeichen erhalten hatte; das zehrt natürlich am Menschen, wie man sich vorstellen kann. Es war gerade an einem Sonntag. (Die Herren der SS wählten immer die Sab­bate und Sonn- und Feiertage für ihre Hiobsbotschaften.) Ich wollte in die Kirche; aber ich sagte mir: Hier wartet auf mich ein anderer Gottesdienst.

Gegen Abend ging es dann in die „Schleuse“, das war die „Hannoverkaserne“, die das Sammelbecken für die Transporte war. Dort wurden die Leute „durchgeschleust“, d. h. abgefertigt für den Transport. Diese Prozedur dauerte oft eine Woche lang; denn obwohl es mit der „Einberufung“ so eilig war, daß sie nachts ausgetragen werden mußte, stellte sich hier in letzter Stunde heraus, daß die „Leitung“ noch keine Wagen zur Ver­fügung hatte. In der Schleuse hockten sie nun herum und war­teten der Dinge, die da kommen sollten, natürlich streng be­wacht, damit ja niemand seinem Schicksal entgehen, auch nicht mit Außenstehenden verkehren, sondern nur gelegentlich, in unbewachten Augenblicken, sich am vergitterten Fenster zei­gen und noch ein Wort mit Verwandten und Freunden wechseln konnte. Endlich kamen die Viehwagen, viel zu wenige für die Menschenmasse, denn es waren immer mehrere Tausende, die an einem Transport teilnahmen. Und so wurden sie denn zu­sammengepfercht, das Gepäck irgendwo verstaut. Und nun setzte der Elends- und Todeszug sich in Bewegung. Ein letztes Winken und Grüßen durch die winzigen Fenster der Vieh­wagen, und … es war aus!

Was so manches Mutterherz, deren Tochter oder Sohn das Los getroffen hatte, gelitten und geschrien hat, kann sich wohl jeder vorstellen. Denn bei der „humanen“ Zusammenstellung der Transporte ergab es sich vielfach „von ungefähr“, daß Familienmitglieder auseinandergerissen wurden. Es war ein teuflischer Trick dabei im Spiel: Weitere Familienmitglieder konnten sich freiwillig melden und mitgehen. Das haben viele in früheren Transporten getan; aber irgendwie brachte man es nach und nach in Erfahrung, daß die Familien nie zusammen an einen Ort kamen, sondern schon unterwegs voneinander getrennt wurden. So hatte es denn keinen Zweck, mitzugehen; denn man konnte nicht einmal zusammen sterben. Dies war nun der erste Transport, den ich erlebte. Es waren schon viele voraufgegangen, und ich habe dann noch viele weitere mit­erlebt.

Tatsache ist, daß unser „Musterlager“ eigentlich nur ein Durch­gangslager war. Es wurden dort Juden aus aller Welt gesam­melt. Im Frühjahr 1944, also wenige Monate nach meiner An­kunft, wurden noch Holländer dorthin gebracht, meist sog. In­tellektuelle, darunter ein Amsterdamer Professor für orientalische Sprachen, der französisch, englisch und gut deutsch sprach. Das Westerborger Lager in den Niederlanden war aufgelöst worden und da man nicht wußte, wohin mit den Menschen, kamen sie eben nach Theresienstadt. So sind etwa 150 000 bis 160 000 durch Theresienstadt gegangen. Wenn es dann zu voll hier wurde, so wurde von Zeit zu Zeit ein Teil ausrangiert und in den „Transport“ gebracht. Alle Insassen zitterten davor. Im Vergleich mit Auschwitz und Birkenau, wohin die Theresienstädter Transporte geleitet wurden, war es bei uns noch einigermaßen erträglich, schon deshalb, weil man mit den Sei­nen irgendwie in Verbindung sein konnte, wenn diese auch sehr lose war und sich auf vierteljährlichen Postaustausch, Paket­empfang und Bestätigungskarten hierfür beschränkte. Aber man war doch wenigstens nicht verschollen! Die Freunde und Bekannten würden dann den Kindern Nachricht zukommen las­sen, wenn einem etwas zustoßen sollte (was ja in Theresienstadt nicht selten vorkam). Aber Transport? Unausdenkbar solch ein Jammer, solch ein Verloren­sein! Genauso, wie wenn sich das Meer auftäte, um einen aufzunehmen und dann erbar­mungslos und unwiederbringlich seine Wogen über einen aus­zubreiten. Verschollen, im Ozean der Vergessenheit, das Schick­sal von Millionen Volksgenossen und anderen unglücklichen, zertretenen Völkern teilend …

Dieser Maitransport hieß „Arbeitertransport“, d. h. die Be­troffenen wurden zur „Arbeit“, zum „Aufbau“ abkomman­diert. Es folgten dann noch viele andere Transporte, deren trau­rige Zeugin ich sein sollte. Einer wurde aus dem Gesundheits­wesen zusammengestellt, bestand also aus Ärzten und Pflege­personal. Ach, wie so mancher tüchtige Arzt, mancher Dozent und Universitätsprofessor wurde davon betroffen! Namen von Weltklang, die dort in Theresienstadt mit den primitivsten Mitteln eine wunderbare sanitäre Organisation ins Leben ge­rufen hatten. Sie wurden aus der Sprechstunde geholt wie Schlachtvieh, darunter auch meine tüchtige Zahnärztin, bei der ich gerade drankommen sollte. Dann nur zwei Stunden Vor­bereitungszeit! Der Zug mußte bald abrollen und sollte noch durch den einen oder anderen in letzter Minute aufgefüllt wer­den. Tränenlos, stumm und starr folgten sie dem Befehl eines Wahnsinnigen, der durch seine (nur zu willigen) Helfershelfer solche nie dagewesenen Untaten ausführen ließ … In dem Transport des Gesundheitswesens waren auch viele Kranke dabei: die Krankenhäuser, die Siechenheime wurden geräumt. Doch wie? Auf Bahren wurden die Kranken an die Geleise ge­bracht. Aber wie immer war der Zug noch nicht eingefahren. Die Kranken aber, viele mit hohem Fieber, lagen stundenlang auf ihren Tragen in strömendem Regen. Ob sie ihr Reiseziel lebend erreichten? Es kam ja auch gar nicht darauf an, ob sie unter­wegs zugrundegingen oder nach ihrer Ankunft in die Gaskam­mern gesteckt wurden. Die maschinelle Massenvernichtung von Menschen stand damals schon außer Zweifel! Wir hatten auf Umwegen davon erfahren.

Ein nächster Transport brachte „Prominente“ fort. Dazu ge­hörten vor allem höhere Beamte, außerdem zwei von den drei Vorsitzenden des Ältestenrates (Dr. Eppstein und Dr. Edelstein) sowie andere irgendwie um die Wissenschaft oder Forschung verdiente Leute. Auch unter den Hausältesten wurde diesmal sehr aufgeräumt. Diese hatten so manche Privilegien, was sich in Theresienstadt insbesondere in besseren und reichhaltige­ren Nahrungsmittelzuweisungen auswirkte. Wahrscheinlich war der Kommandant der Auffassung, daß es diesen Leuten viel zu lange gut gegangen war und daß sie jetzt das Los anderer Unglücklicher teilen sollten. So ging denn nun ein Transport nach dem anderen ab, den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein. Vor jedem Transport erfolgten die Registrierungen der Aufgerufenen, die dann in langen Schlangen vor der Komman­dantur standen. Im Herbst mußten sich alle Reserveoffiziere, vor allem die höheren mit EK I und II, darunter ein österrei­chischer Feldmarschall-Leutnant, stellen.

Letzteren kannten wir Christen alle. Er war Katholik und hatte die verschiedensten Vorträge über mannigfache Themen bei den Katholiken und auch bei uns Evangelischen gehalten. (Die beiden Bekenntnisse lebten in mustergültiger Eintracht neben­einander und veranstalteten mehrfach gemeinsame Darbietun­gen, teils christlichen, teils profanen Inhaltes.) Dieser Feldmar­schall-Leutnant Friedländer war ein geistig sehr beweglicher und vielseitiger Mann. Er konnte über fast jedes Thema lehr­reich und interessant plaudern, besonders, wenn er auf sein geliebtes Wien zu sprechen kam, dessen Geschichte er bis ins graue Altertum kannte. Dabei war auch seine Erscheinung sehr sympathisch: eine schlanke, ranke Gertengestalt mit schmalem Kopf, blondem Haar und durchgeistigtem Gesicht, die Augen sprühend von Geist und Humor. Wenn er so auf die Bühne trat und seine weltmännische Verbeugung machte, jubelte alles. — Er hatte Wochen vorher einen Vortrag zugesagt, der gerade auf den Vorabend seines Abtransportes fiel. Die Leitung hatte mit Bestimmtheit angenommen, er würde unter diesen Um­ständen den Vortrag nicht mehr halten wollen, und hatte für Ersatz gesorgt. Aber wie überrascht und erfreut waren alle, als er so unerwartet erschien! Mit nicht enden wollendem Jubel wurde er von der ganzen Versammlung begrüßt. Es war ihm gelungen, sich aus der Schleuse zu entfernen. Und nun hielt er seinen Vortrag. Aber wie! Die Zuhörer waren sich alle dar­über einig, daß das einmalig war — das Vermächtnis eines reifen Christen auf seinem letzten Lebensweg an seine Mit­pilger, ein Lobgesang und eine Huldigung an die Mutter Maria für das Herrliche, das sie der Welt und der Menschheit ge­schenkt hatte! Man mußte unwillkürlich an den Jubelruf von Paulus denken: „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?“ Fürwahr, der Tod ist verschlungen in den Sieg! Das war ein großes Erleben, eine Oase in der Wüste …

Nun aber war Theresienstadt ziemlich zusammengeschmolzen: von den etwa 150 000 bis 160 000 waren 40 000 gestorben, die meisten gleich in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft. Kein Wunder. Ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Kanalisation, ohne Wasserleitung, schlecht ernährt, fielen sie hin wie die Fliegen. Sie sollen eine Zeitlang nur verschimmeltes Brot und Wasser­suppen als Nahrung gehabt haben. Auch haben mir glaub­würdige Personen erzählt, daß zahllose Menschen dort in den unzulänglichen Krankenhäusern von Läusen buchstäblich auf­gefressen wurden. Schließlich nahmen die Häftlinge selber die ganze Ernährung und Versorgung in die Hand; dann klappte alles. Auch die Sauberkeit wurde gesteigert. Und nach und nach haben die Leute mit viel Energie und Selbstverleugnung auch eine mustergültige ärztliche Betreuung aufgebaut und Pflege­personal ausgebildet, soweit es nicht vorhanden war.

110 000 Menschen kamen seither in die Transporte. Nun waren wir nur noch 10 800, zum größten Teil Angehörige von Misch­ehen und solche, die für die Arier unentbehrlich waren. Es gab nämlich in Theresienstadt auch zwei Rüstungsfabriken, eine für Uniformen und eine für Glimmerarbeiten. Wer dort arbeitete, war vor Transporten geschützt. Junge kräftige Leute, meistens Tschechen, besorgten überdies die Landwirtschaft der Arier: große Gartenanlagen, ein ganzes Feld von Frühbeeten, Pferde und Kühe sowie eine riesige Kaninchen- und Geflügelzucht. Die Arier hatten es sich dort sehr schön gemacht, geradezu ein Paradies dort geschaffen. Das alles haben wir erst nach der Befreiung, also nach ihrem Abzug sehen können; vorher hatten wir keinen Zutritt zum sog. arischen Viertel, das im übrigen den größten Teil des Ortes einnahm. Nur die dort Beschäftigten wußten, wie es dort aussah. Diese Leute hatten auch genügend zu essen; sie sahen daher auch weit besser aus als wir anderen Sterblichen, beinahe so gut wie Arier.

Im Sommer, bald nach den ersten Transporten, mußten wir wieder einmal unsere „Wohnstelle“ wechseln. Ein ganzer Block mußte geräumt werden, und wir saßen wieder einmal auf der Straße und wußten nicht wohin. Wer nichts Eigenes fand, wurde in die Kasernen gestopft. Ich bin zwei Tage lang auf der Suche nach einer Unterkunft umhergelaufen; endlich fand ich ein Plätzchen in der Seestraße. Dort waren leider viele „Aber“ zu überwinden. Vor allen Dingen war in dem Zimmer, in dem ich Unterkunft gefunden hatte, eine sehr unangenehme Zim­merälteste, die nie genug bekommen konnte von Kommandieren und Schimpfen, eine ordinäre grobe Wienerin, die ihre Zeit für gekommen hielt, Herrschergelüste an anderen auszulassen. Nach und nach wurde es aber auch dort erträglich. Ich freundete mich mit einigen im Zimmer an, und es ging schließlich ganz gut … Dummerweise stieß mir am 20. Juli (!) ein Unglück zu: Ich brach den rechten Arm und mußte ihn drei Wochen im Gips­verband tragen. Hier ein Beispiel, wie die ärztliche Betreuung klappte: Um 7 Uhr früh fiel ich die Treppe hinunter, war in einem Loch der Holztreppe mit meinem Absatz hängenge­blieben, und um 8 Uhr war bereits die Röntgenaufnahme ge­macht, und der Arm in der Binde! Der mich behandelnde Arzt sagte zu mir mit nicht unberechtigtem Stolz: „In Berlin wären Sie nicht so prompt bedient worden.“

Leider wurde auch dieser Block Anfang November geräumt, und die Unterkunftsfrage trat erneut an mich heran. Ich löste sie dadurch, daß ich mich entschloß, eine Arbeit anzunehmen. (Nach dem letzten Transport bestand ein großer Mangel an Arbeitskräften.) Ich siedelte daher nach Erfüllung aller vorge­schriebenen Formalitäten als Betreuerin in das Blindenheim über, wo ich bis zur Heimfahrt verblieb, also sieben Monate lang. Es war dort mancherlei zu überwinden; aber Gottes Güte war auch dort mit mir. (Darüber später ausführlicher.)

Christuserleben in Theresienstadt

Als die Gestapo mich aus meiner Wohnung holte, schoß mir u. a. durch den Kopf, daß ich nun unter Juden würde leben müssen, mit denen ich ein halbes Jahrhundert keine Berührung gehabt hatte und bei denen ich es als Christin vielleicht schwer haben würde. Aber nichts oder nur wenig davon ist eingetroffen. Wir Mischehen-Partner wurden nicht besonders angefochten von den anderen, wenigstens nicht allgemein; denn die meisten konnten es nicht verstehen oder glauben, daß jemand aus Überzeugung zum Christentum übertrat. Nach ihrer Meinung geschähe solches nur wegen äußerer Vorteile oder weil der Ehepartner Christ wäre. Es gab allerdings auch solche, die die Christen generell über die Achsel ansahen und auch keinen Hehl aus ihrer Haltung machten; aber dies war zum Glück nur eine Minderheit von Menschen, auf deren Ansicht es einem nicht ankam, die man also auch in anderer Beziehung nicht schätzen konnte.

Um der Wahrheit willen muß ich hier hervorheben, daß es unter den arisch Versippten einen guten Teil gab, die zwar zum evan­gelischen Glauben übergetreten waren, die davon aber im Grun­de keine Ahnung hatten. So kannten sie keine christliche Lite­ratur, lasen keine christlichen Bücher und hatten nicht die primitivsten Vorstellungen vom christlichen Leben oder von der christlichen Tradition. Sie wußten weder von der Äußeren noch von der Inneren Mission etwas, hatten nie etwas von einem August Hermann Francke noch von einem Wichern, einem v. Bodelschwingh, geschweige denn von einer Mutter Eva v. Tiele-Winckler gehört. Das machte einem diese Men­schen fremd und verursachte einem das Gefühl innerer Ver­einsamung. Mit diesen Leuten konnte man eben nur über die täglichen Belange sprechen oder über den Krieg und über da­heim. Indessen — im Grunde war und ist dies auch beschämend für die „arischen“ Ehepartner! Sie hatten aus ihrem Hause eben keine Stätte christlichen Lebens und christlicher Tradition ge­macht. Sie kannten zur Not die christlichen Feiertage; damit war aber auch ihr ganzes Christentum erschöpft.

Da sah es bei den Katholiken ganz anders aus. Die kannten ihre Literatur; die waren auch viel mehr interessiert, ja be­geistert! Ich muß hier wirklich den katholischen Geschwistern meine Hochachtung aussprechen. Mit welchem Eifer besuchten sie ihre Gottesdienste, und wieviel Verständnis und Liebe hat­ten sie für das Reich Gottes! Das war ihnen klein bloßer Be­griff; sie lebten und webten darin. Das kam in den Vortrags­themen zum Ausdruck, die von ihren Leitern gewählt wurden, aber auch in Aussprachen. Es war schon so, wie ich einmal in einer Diskussion sagte: „Die Katholiken sind im Himmel mehr zu Hause als wir Evangelischen.“

Nun aber das Positive bei uns Evangelischen. Ich fand dort in der Hölle von Theresienstadt eine Gemeinde vor, die mit viel Not und Mühe und vielen Widerständen zum Trotz aufge­baut war. Das Verdienst hierfür hat sich ein über 70 Jahre alter Jurist aus Hamburg, Dr. Goldschmidt, erworben. Wie mir er­zählt wurde, war er von Kaserne zu Kaserne, von Haus zu Haus, von Baracke zu Baracke gegangen, um die evangelischen Christen ausfindig zu machen. Er selber stammte nicht aus einer Mischehe und wollte damals, vor unserem Eintreffen, eigentlich nur die nicht aus Ehegründen zum Christentum über­getretenen Gläubigen sammeln. Und diese sog. Volljuden wa­ren eigentlich die bewußteren Christen! Bei ihnen fand man viel­fach das, was man bei den Menschen vergeblich suchte: bewußtes Christentum in Theorie und Tat. Das waren die Menschen, die mit größter Aufopferung unter den widrigsten Verhältnis­sen und unmöglichen Umständen Großes leisteten im Dienst an ihren Mitmenschen und Gefährten der Leiden. Auch der frühere Richter Dr. Goldschmidt war ein solcher. Er muß von Kindheit auf eine christliche Erziehung genossen haben; denn er war in allem, was die christliche Kirche und wesentliche Fra­gen des Christentums betrifft, sehr gut orientiert. Mit wieviel Mühe hat er die Gemeinde dort gesammelt und auch wirklich zusammengehalten, gebaut und erbaut, die Kranken in den Krankenhäusern besucht und die Toten beerdigt, deren es eine so große Anzahl gab. Vor allen Dingen hat er allsonntäglich regelrechte Predigtgottesdienste mit Liturgie und allem, was dazugehört, abgehalten. Ihm zur Seite stand ein anderer Jurist, Dr. Stargard aus Berlin-Dahlem. In den Gottesdiensten wech­selten sie sich später ab. Dr. Stargard hat sich besonders um die Pflege der Musica Sacra verdient gemacht (war er doch selber Künstler), ferner um das Zusammengehen mit den Katholiken. Gemeinsame Veranstaltungen und Aussprachen waren seine besonderen Anliegen. Wie hat er sich sodann auch wegen der Lokalfrage mit der Jüdischen Kultusgemeinde herumgeschla­gen, die verständlicherweise kein sonderliches Interesse daran hatte, den „Abtrünnigen“ einen Raum zur Verfügung zu stel­len! Die einzige dort existierende Katholische Kirche mitten im Ort, neben der Post, war von der SS seinerzeit geschlossen worden. So kämpfte er denn diesbezüglich lange vergeblich, bis kurz vor dem deutschen Zusammenbruch. Endlich, im Winter 1945, konnten wir das neue Lokal als Andachts- und Gottesdienstraum beziehen: den berühmten, vielmehr berüchtigten Kinosaal!

Vorher hatten wir uns in wirklich unwürdigen Räumen herum­drücken müssen. Aber — was sollte es? Wir haben dort wahr­scheinlich mehr Andacht gehabt als manche großen Stadtge­meinden in berühmten Domen. Mir ist es, als wäre es gestern gewesen, mit welcher inneren Spannung und Erschütterung ich zum ersten Male an einem Sonntagmorgen den notdürftigen Gottesdienstraum betrat. Dieser unser Gottesdienstraum war ein elender, halb zerfallener Wäscheboden mit offenen Luken, zu denen Wind und Winter hereinkamen; die Schneeflocken flogen einem manchmal ins Gesicht. Ein paar elende, wackelige rohgezimmerte Bänke ohne Lehne dienten außer den dort be­findlichen Balken als Sitzgelegenheiten. Aus rohen Brettern war ein Altar gefertigt, auf dem das Symbol der christlichen Kirche, das Kruzifix, stand. Daneben war eine Staffelei aufgestellt, auf der ein Marienbild mit dem Jesusknaben stand, ein Bild für un­sere Kirche von Dr. Goldschmidt, der nicht nur Richter und hier Prediger, sondern wie auch Fachleute bekundeten, ein sehr guter Maler war. Als ich diesen Raum erstmals betrat, hatte ich ein unbeschreibliches Dankes- und Lobesgefühl. Ich setzte mich in eine Ecke hinter einen Balken und weinte mich ordentlich aus. Mir kam es vor, als wäre ich in die Katakomben der ersten Christengemeinde geraten. Ach, wie dankte ich da Gott, daß er auch in Theresienstadt eine Stätte bereiten ließ, da seine Ehre wohnte! Und wie wird einem unter solchen abnormen Um­ständen das Jesuswort groß: „Es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge, noch zu Jerusalem werdet den Vater anbe­ten … Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“

Galt das damals der Samariterin, so galt das gewiß auch uns Verfemten. Und ebenso gewiß gilt es heute auch dem deutschen Volk, das so viele Kirchen und Dome verloren hat. (Man ver­zeihe mir diese ketzerische Auffassung. Vor allem die Künst­ler und Kunstkenner und -liebhaber mögen mir das nicht ver­denken, die mit Recht um das Verlorene, nie Wiederbringbare, trauern.) Aber — mußte nicht Gott solche ernste Sprache mit unserem Geschlecht sprechen? Hat er nicht mit den Juden auch so sprechen müssen, als er ihnen den kostbaren herodianischen Tempel in Trümmer legen ließ, auf den sogar die Jünger so stolz waren, daß sie den Herrn aufforderten, jenes Bauwerk ordentlich zu betrachten? Fehlte es nicht in den letzten Jahr­zehnten an wahren Verkündigern des Wortes Gottes sowohl auf den Kathedern als auch auf den Kanzeln? Und wie stand es mit der andächtigen Gemeinde? Die schlecht besuchten Got­tesdienste, die Lauheit und Trägheit hatte doch sehr überhand genommen. Vielleicht mußten wir so gerüttelt und geschüttelt werden; vielleicht sollten wir die kunstvollen, kostbaren Ge­fäße verlieren, um besser zum ewigen Inhalt vordringen zu können. Ach, wie hohl und nichtig mutet einen die ganze Kul­tur an, die hohen Errungenschaften auf allen Gebieten, beson­ders auf dem technischen, wenn der Fortschritt letzten Endes dazu benutzt wird, möglichst große Menschenmassen auf schnellstem Wege ums Leben zu bringen! Hat das irdische Schaffen denn heute noch einen Sinn? Die Sinngebung muß eben eine andere werden. Die Götzen „technischer Fortschritt“, „militärische Überlegenheit“, „Zivilisation“ u. a. m. müssen vom Thron her­unter. Der Herr des Himmels und der Erden muß seine Stellung wiedergewinnen; alles Tun und Trachten muß ihm untergeord­net sein. Dann, ja dann erst kann und wird es anders werden. So fanden nun unsere Gottesdienste regelmäßig hier statt, erst die evangelischen und um 10.30 Uhr die katholischen, zu denen viele von uns ebenfalls gingen. Im Winter war es hier wie ge­sagt sehr kalt. Ein kleines notdürftiges Öfchen spendete etwas Wärme; die spürte man aber nur, wenn man daneben saß. Trotzdem brachte der alte Herr, Dr. Goldschmidt, es fertig, bei jedem Wetter Sonntag für Sonntag hier einen vollstän­digen Gottesdienst abzuhalten. Darüber hinaus fanden hier auch viele andere Veranstaltungen statt, teils christlichen, teils profanen Charakters. Immer wieder waren Menschen da, die sich bereit erklärten, mit ihrem Können und Wissen zu die­nen; für Kunst und Wissenschaft sorgte Dr. Stargard. Oft wur­den die Veranstaltungen von beiden christlichen Gemeinden gemeinsam in die Wege geleitet; ja, es kam sogar vor, daß alle drei Konfessionen daran mitwirkten. So hat uns auch der fein­sinnige und hochkultivierte Gelehrte Oberrabiner Dr. Baeck mehrmals mit wertvollen Ausführungen bereichert und erfreut. Vor allem waren es die Evangelischen und die Katholiken, die auch in der Kulturarbeit möglichst zusammenmarschierten. Da­bei war es unser aller Bestreben, auf beiden Seiten nicht das Trennende, sondern das Verbindende und Einigende heraus­zustellen, und es ergaben sich dabei so viele Momente, die wir gemeinsam hatten, daß es ganz erstaunlich war. Besonders Dr. Stargard hat in seiner verbindlichen Art das Verstehenwollen und -können gefördert, so daß wir in Theresienstadt mit der Una Sancta schon Ernst gemacht haben. Gebe Gott, daß die beiden Kirchen sich zu gemeinsamer, segensreicher Arbeit auch im zerrissenen Nachkriegsdeutschland zusammenfinden.

Besonders wertvoll waren die — leider schlecht besuchten — Bibelstunden. Dr. Goldschmidt hielt darüber hinaus einen Zy­klus über die fünf Hauptstücke des Katechismus. Die Unwis­senden unter den Mischehen-Mitgliedern hätten diese Stunden mit großem Gewinn nutzen können. Sie hatten jedoch kein Interesse; sie fragten eben nicht nach ewigen Dingen. Wahr­scheinlich hatten es ihre (verstorbenen) Männer auch nicht ge­tan, womit sie eine ungeheure Verantwortung für die Seelen ihrer Familien auf sich geladen haben. Es gab allerdings einige, bei denen das anders war, Menschen, die etwas von Gebet und Fürbitte wußten. Aber leider waren dies Ausnahmen. Das merkte man so recht aus den Korrespondenzen. Es drehte sich meistens um Irdisches und Materielles, was ja unter solchen Ver­hältnissen vielleicht entschuldbar war, nichtsdestoweniger aber einen Schluß auf die gesamte Geistes- und Seelenhaltung zuließ. Sehr erhebend — und viel feierlicher als in der Heimat — waren die Abendmahlsfeiern. Die erste, zu Ostern 1944, werde ich nie vergessen. Sie wurde am Karfreitag abgehalten — auch auf dem zugigen und unästhetischen Wäscheboden. Aber die in­nere Bereitschaft sowie die Stimmung, die auf dem Ganzen lag, drängten alles Äußere in den Hintergrund. Jeder von uns Teil­nehmern bekam nach empfangenem Mahl ein Zettelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Spruch stand: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.“ Ach, welch ein Glück und welch ein Trost in die­ser Dürre und Einöde! Mein Erlöser lebt … Was können mir die SS-Schergen und der ganze Hitlerismus anhaben? Erfüllte sich auf diese Weise nicht schon an uns das Wort, das der Herr in Bethanien sprach: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr ster­ben.“ Das erhob einen über den Alltag und die Not, über das Leid und das Elend und über die Sorge um seine Kinder! Ist Christus für uns, wer mag wider uns sein? Ja, es ist schon wahr: wo das Wort ist, da ist Christus. Aber wir sollten das noch tiefer erfahren …

Mit den Holländern kam dann auch ein ausgebildeter Theologe, ein evangelischer Pfarrer, der in Deutschland studiert hatte, ins Lager. Er war in Holland Gemeindepfarrer gewesen und hielt jetzt den Holländern Gottesdienste in ihrer Muttersprache. Er hatte sogar Sprechstunden und diente auch uns Deutschen oft mit dem Wort, sowohl in den sonntäglichen Gottesdiensten als auch in biblischen Andachten und Bibelbesprechungen — ein tiefgläubiger Christ mit guter Schriftkenntnis und dem ernsten Willen, seinen Zuhörern Wasser des Ewigen Lebens zu bieten. Im letzten Sommer vor dem Zusammenbruch behandelte er die Offenbarung des Johannes, was mich besonders interessierte, denn ich hatte mich in den letzten Jahren sehr mit diesen Fragen beschäftigt und viel einschlägige Literatur darüber zu Rate gezogen. So hielt ich Hitler für den Antichristen. Der Pfarrer teilte jedoch nicht meine Ansicht, daß wir in den „allerletzten“ Zeiten lebten.

Auslandskommissionen

Von Zeit zu Zeit kamen die Hausältesten in die einzelnen Räume, natürlich immer beim Morgengrauen und in großer Auf­regung. Sie erklärten dann, es müßte ganz gründlich „reine­gemacht“ werden; eine „Auslandskommission“ wäre zur Be­sichtigung im Kommen, und die Kommandantur hätte strenge Vorschriften erlassen. Ob solche Kommissionen wirklich kamen und mit welchen Stellen sie verhandelten, haben wir gewöhn­lichen Sterblichen nie erfahren; vielleicht wußte es der Ältesten­rat auch nicht. Jedenfalls wurde dies aber zum Anlaß genom­men, uns stunden- und tagelang zu jagen und zu hetzen.

Reinemachen! hieß die Parole, obwohl wir auch ohne Kommis­sion genauso putzen mußten wie eine ordentliche deutsche Hausfrau zu Ostern beim Großreinemachen. Täglich wurden die schweren, unförmigen Strohsäcke oder Matratzen in den Hof geschleppt und gründlich gebürstet und geklopft, der Schlafplatz nach Ungeziefer abgesucht, die Kleider nachgesehen usw. Das nahm oft den halben Vormittag in Anspruch. Und wenn man noch dabei war, den Raum selber zu reinigen, dann hatte man den ganzen Vormittag zu tun, und der fing schon vor 6 Uhr an; sonst wurde man nicht fertig. Dann mußte man schnell zum Essenholen laufen und womöglich stundenlang anstehen. So kann man sich wohl denken, wie gemütlich solch ein Reinemachen verlief, wenn obendrein noch eine Auslands­kommission angekündigt war. Nervöses Hetzen und Schimp­fen der Hausältesten mit den Zimmerältesten, mit dem Haus­dienst (Flurreiniger) und diese wieder mit uns andern …

Und — im Grunde alles vergeblich. Denn wir bekamen nichts von dem Angekündigten zu sehen; höchstens, daß nach so einem Aufruhr ein paar jüdische Beauftragte kamen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war, ob in die unzugänglichsten Winkel sich nicht doch irgendwie und irgendwo ein Staubkörn­chen verirrt hatte und dort sein beschauliches Dasein fristete. Ob das Ganze irgendeinem Zweck diente oder nur bewußte Mache war — wir sind nicht dahinter gekommen. Das eine war sicher: War das auch Wahnsinn, so hatte es doch Methode. Auf die­se Weise wurden wir immer im Trapp ge­halten, und nicht nur wir Frauen, sondern auch die Männer. Jeder mußte für seinen Platz sorgen. So sah man manchen Arzt und Juristen, manchen Volks Wirtschaftler und Großindustriel­len seine Matratze auf den Hof wuchten und mit dem Spazier­stock bearbeiten.

Aber — einmal sollte es doch wahr werden! Eine Auslandskom­mission kam im September 1944 wirklich an. Gerade über diese jedoch war merkwürdigerweise vorher nie gesprochen worden; doch merkten wir aus allem, daß irgendwas bevorstand. Schon im Vorfrühling fing es an. Da wurden auf einmal die fast un­wegsamen Wege in Ordnung gebracht, das Pflaster gründlich ausgebessert, die Straße geschottert und regelrecht mit der Dampfwalze bearbeitet. Daß die Kommandantur das nicht aus Liebe zu den Juden in die Wege leitete, konnten wir uns, ohne mit viel Phantasie begabt zu sein, lebhaft denken. Es war ein Schaffen und Ordnen ohnegleichen, natürlich alles von jüdi­schen Fachleuten ausgeführt. So wurden nach großzügigem Plan weiträumige Anlagen gemacht, herrliche Rasenplätze angelegt und eingezäunt, ja sogar regel- und kunstgerecht abgestochen! Wunderbare Formungen entstanden, wahrscheinlich von jüdi­schen Gartenarchitekten entworfen und unter ihrer Anleitung von Gärtnern durchgeführt.

Der Park, der ganz zu Unrecht diesen Namen geführt hatte — denn er war verlottert und liederlich, ohne Sitzgelegenheiten, die einst vorhanden gewesenen Rasenflächen zertrampelt und holperig, die eisernen Einfassungen in Fetzen herunterhängend, keine Spur von Blumenbeeten oder sonstigen Anlagen —, kurz­um der ehemals trostlose Park fing an, seinem Namen Ehre zu machen. Das einzig Unberührte und Schöne waren die Baumgruppen, meist Kastanien, aber auch Linden und Akazien, die im Sommer wundervoll dufteten. Diese Baumgruppen kamen freilich erst zur Geltung, als die entsprechenden Anlagen dazu geschaffen wurden. Malerische Blumenrondells entstanden, mit­ten in üppige Grasflächen mit Geschick und Symmetrie hinein­geordnet. Die Einzäunungen wurden ergänzt und schöne gute Bänke, den geschaffenen Anlagen angepaßt, in Gruppen auf­gestellt, zu geruhsamem Sitzen und Erholen einladend. Dieses alles wurde in langer, gut organisierter Arbeit so erstellt, als wäre es plötzlich aus dem Boden gewachsen. Jedoch der Glanz­punkt des Ganzen waren die Einrichtungen für die Kinder am Ausgang des Parks. Da wurde ein Riesenrondell ausgeschachtet, mit schönstem Elbsand gefüllt und mit einer gut gebauten Mauer umgeben: eine vornehme Sandgrube für Kinder mit einer Brüstung zum Sitzen für die Eltern. Gleich anschließend an diese wunderbare Einrichtung wurde ein Kinderpavillon auf­gebaut, außen mit sinnbildlichen Bildern versehen und innen mit Ruhebetten und allem möglichen Kinderspielzeug ausge­stattet. Das ganze konnte den Vergleich mit einer modernen „Nursery“ auf einem feudalen englischen Landsitz aufnehmen. Und dahinter — man staune! — war ein Tummelplatz mit allem möglichen Turngerät eingerichtet, ein wahrhaftes Eldorado für Kinder. So geschehen in Theresienstadt, dem Ort der Qual und Verzweiflung!

Ein Gegenstück dazu war der große Marktplatz, ein ebener, weitläufiger Raum inmitten des Ortes, vor der Kirche und der Post gelegen, auf einer Seite an die Bank anstoßend, an der anderen an die „Neue“ Kommandantur. (Die Kommandantur war nämlich in Erwartung der Kommission von der einen auf die andere Seite des Marktplatzes umgezogen, wobei der Umzug mehrere Tag in Anspruch genommen hatte. Während dieses Umzuges durfte sich kein Jude im Umkreis blicken lassen. Wenn man von einer Straße in die nächste einbiegen wollte, mußte man daher einen Umweg um den ganzen Ort herum machen, damit man die Arier bei ihrem wichtigen Geschäft, bei dem sie gewiß viel zu verbergen hatten, auch nicht behelligte …) Dieser ganze Platz wurde aus einem wüsten Steinhaufen nun in eine Oase verwandelt. Wunderbare Rasenplätze und Koniferengruppen wechselten mit vielgestaltigen Beeten ab — eine mustergültige Anlage, wie man sie in bekannten Bädern findet, etwa in Bad Elster, Franzensbad o. dgl. Blumen verschiedener Lebensdauer und Jahreszeit waren angepflanzt, so daß es den ganzen Sommer und Herbst über blühte und grünte, daß es eine Lust war. Auch Filme waren gedreht, zu welchem Zweck auf Kommando alle gutgenährten, wohlaussehenden und gut angezogenen Menschen erscheinen mußten, um sich vor Torten- Attrappen zu setzen und aufgenommen zu werden. Nicht zu vergessen der Konzertpavillon, der vor der Bank aufgebaut war und in dem jeden Abend die erlesenste Musik deutscher und ausländischer Meister aller Zeiten mit wirklicher Meisterschaft vorgetragen wurde. Darin war eben Theresienstadt geradezu groß; es beherbergte namhafte Musiker verschiedener Instru­mente, die von den Transporten bis zuletzt verschont geblie­ben waren, weil sie zu den „Prominenten“ gehörten und um sie (was noch wahrscheinlicher ist) der internationalen Kom­mission als Schau- und Glanzstück vorführen zu können.

Zum Schluß wurden noch die Läden bestückt. Die wenigen Ge­schäfte, die sonst nur alte gereinigte Sachen der Verstorbenen und Abtransportierten anboten, zeigten jetzt neue, moderne Herren- und Damengarderoben. Die Schaufenster waren von jüdischen Fachleuten aufs beste ausgeschmückt, so daß es eine Lust war, sie anzuschauen. („Kaufen“ durfte man erst während der Anwesenheit der Kommission, und zwar so, daß man am entgegengesetzten Ausgang des Ladens an die Verkäufer alles wieder abliefern mußte! Und wehe, wenn ein Stück fehlte!) Es gab sogar Fleischer- und Bäckerläden, wie aus der Erde ge­wachsen, mit den herrlichsten Leckerbissen. Ganz großstädtisch auf gemacht waren sie und boten alles, was das Herz begehrte!

Und siehe da, eines schönen Tages hatten die Hausältesten Appell und holten sich ihre Instruktionen, d. h. Verhaltens­regeln für ihre Insassen. Auf jede Frage wurde eine Antwort einstudiert. Eine gewisse Art von Leuten wie die Insassen der Siechenheime, durfte ihre frischbezogenen weißen Betten nicht verlassen, weil sie kein besonders wohlgenährtes Bild boten. Alte und Schwache durften auch in den anderen Wohnstätten ihre Plätze nicht verlassen. Alle vorhandenen Schwestern wur­den aufgeboten, auch andere Frauen in Hauben und weiße Schürzen gesteckt, um mit den Kindern zu spielen. Alles war aufs Glänzendste einstudiert.

Und nun kamen die lange und sorgfältig vorbereiteten Tage. Die SS brachte die Kommission als erstes zu den „jubelnden“ Kindern. (Das Jubeln war natürlich eingepaukt.) Sie bekamen von den fremden Onkeln Schokolade; sie lehnten sie aber dankend mit der Bemerkung ab: „Wir haben heute schon so viel davon gehabt! Es könnte uns schaden.“ In der Tat konn­ten sie das bei den Kindern schon wagen, ohne Verdacht zu erregen; denn diese sahen alle sehr gut aus, dank der vorzüg­lichen Fürsorge des Internationalen, besonders des Schweizer Roten Kreuzes, das sie reichlich mit Kondensmilch und auch mit anderen Sachen versorgte. Sie hatten tatsächlich muskulöse Beine und Arme und mußten diese jetzt bei ihren Turnkünsten am Gerät sowie im Freiturnen zur Schau tragen. Bei den ange­knüpften Unterhaltungen mit den Insassen soll sich manches Unvorschriftsmäßige ereignet haben, ganz wie bei jenem pol­nischen Rekruten und dem preußischen König, der einst ärger­lich ausrief: „Ist er oder ich verrückt?“ und der darauf prompt die eingedrillte Antwort bekam: „Majestät, beide.“ Immerhin, im großen und ganzen hat alles „gut geklappt“; dazu waren die Verantwortlichen ja durch die Nazischule gegangen … Aber — ob diese Herren wirklich so unbegabt waren, dieses Schau­spiel für bare Münze zu nehmen? Jedenfalls haben jüdische Witzbolde bald nach ihrer Abreise ein Telegramm erdichtet, das aus Potemkins Grab stammen solle und so lautete: „Herr Kollege Rahm! (So hieß der Kommandant.) Ich gratuliere — Sie haben mich bei weitem übertroffen!“

Nach dem Abzug der Kommission fing das „große Reinema­chen“ an, nämlich unter den Bewohnern von Theresienstadt: da ging alles, was irgendwie auf die Beine gebracht werden konnte, in die Transporte! Auch die Künstler, die hohen Offiziere, die Hausältesten, die vom Ältestenrat und sonstige „Prominente“! Nur uns aus den Mischehen schonten sie. Die wenigsten von uns kamen fort, und zwar solche, bei denen irgend etwas „nicht stimmte“ oder aber die, die Kinder im Ausland, also nicht in Deutschland hatten. (So wurde wenigstens behauptet. Ob es so war, kann niemand mit Bestimmtheit sagen; denn bei den Nazis gab es keine festen Gesichtspunkte für ihre Handlungen; es war alles Willkür. Jedenfalls zitterten wir alle; denn wenn die SS wollte, hatte sie schnell einen Fall konstruiert, wonach bei je­mand etwas „nicht stimmte“. Und konnte jemand aus der Heimat nicht das erforderliche Material liefern, dann …!) Eine Kategorie von Mischehen-Partnern kam fast restlos fort: das waren die Geschiedenen. Mit uns zugleich waren eine ganze Anzahl dieser Leute hierhergekommen, meistens Männer, die sich hatten scheiden lassen, um Frauen und Kindern den Besitz zu erhalten, Grundbesitz, Geschäfte usw. Ich konnte das da­mals nicht verstehen und hatte auch meine Verwunderung dar­über ausgesprochen; aber die Betreffenden meinten, selbstlos und klug gehandelt zu haben. Daß sie es nach bestem Wissen und Gewissen getan hatten, soll nicht bestritten werden; dennoch hatte ich ein eigenartiges Gefühl dabei. Ich muß in diesem Zusammenhang an einen Mann denken, den ich sehr schätzte, einen Apotheker aus Leipzig namens Blumenthal, der versuchte, sein Christentum wirklich zu leben, auch hier in Theresien­stadt; bei dem es bestimmt nur aus Rücksicht auf seine Frau und Tochter geschehen ist. Er erzählte mir, wenn er von seiner Tochter Pakete erhielte, so wäre das für ihn wie etwas Heiliges. Dieser sympathische Mensch wurde auch von dem Transport­schicksal ereilt, genau wie alle anderen geschiedenen Männer damals. Es hieß zwar, es ginge nach Deutschland zu „Aufbau­arbeiten“, wahrscheinlich, um ihnen die bittere Pille zu ver­süßen; ich habe aber nie gehört, daß diese Männer nach The­resienstadt zurückgekommen wären. Ob sie dem Tode irgend­wie und irgendwann entgangen sind? Hoffen wir, daß es eini­gen geglückt ist! Diesem christlichen Manne wünschte ich es besonders, denn er wollte nach seiner Heimkehr seine Frau wieder heiraten.

Noch an einen anderen Mann mußte ich hier denken. Es war ein (quasi verbummelter) Gelehrter, der sich mit hohen Gedan­ken und Problemen herumschlug, ganz im klassischen Altertum und ihm Mittelalter lebte und der eine der besten Übersetzun­gen von Petrarca gemacht haben soll. Er hatte herrliche Ge­dichte auf seine Heimat (Düsseldorf) verfaßt und noch einige literarische Pläne. Aber auch von seiner Wiederkunft weiß ich nichts.

Wir machten bange Wochen durch und waren auf alles gefaßt. Unsere Hauptsorge waren jetzt unsere Kinder! War es doch in den Wochen und Monaten des gigantischen Vormarsches der Alliierten in Frankreich gewesen, als dieses Aufräumen unter den „verworfenen Juden“ vor sich ging, die „an allem schuld“ waren. Nach Monaten, also mitten im Winter 44/45 bekamen wir eine Zeitung zur Hand, in der die Goebbelsrede vom Oktober stand, die sich mit der militärischen Lage befaßte und in der er zugab, daß wir militärisch auf dem Stand von 1939 waren! Dort hatte er sich das Geständnis abgerungen, daß die Führung angesichts der stark angeschlagenen Front „das Herz in beide Hände neh­men mußte“. Was lag da näher, als dies die Juden in allen La­gern, also auch bei uns, spüren zu lassen? Jedenfalls war Grund genug zur Sor­ge … Aber — Gott hat andere und mich wunder­bar geführt. Wir sind geblieben — unfaßliche Bewahrung! Sollte das der „Rest“ sein, von dem in der Offenbarung die Rede ist?

Die Volljuden

„Volljuden“ wurden offiziell alle diejenigen genannt, die nicht „arisch versippt“ waren. Hier­zu möchte ich etwas Grundsätz­liches sagen, wie es mir in Theresienstadt auffiel: Nach vielen Erfahrungen habe ich dort den Eindruck gewonnen, daß die Juden, sofern sie nicht zum politischen Zionismus gehören, keineswegs eine Nation sind, sondern eine Religion. Die vielen Nationalitäten, wie sie in unserer Lagerstadt versammelt wa­ren, haben sich in nationalen Belangen ganz wesentlich vonein­ander unterschieden. Das einzige wirklich Gemeinsame war ihre Religion! Da hatten sie alle im Tempel zu ihrem großen Versöhnungsfest die gleichen hebräischen Gebetbücher, nur darin verschieden, daß bei den einen der holländische, bei den anderen der deutsche Text oder der dänische, tschechische usw. neben dem Grundtext stand, weil sie das Hebräische an­scheinend nicht mehr verstanden, wenigsten die Frauen nicht. Ich bin mit einer anderen bewußten Christin hingegangen, um mir ein Bild von dem heutigen Judentum als solchem zu ma­chen. Was ich sah, hat mich tieftraurig gemacht. Die gleiche Erscheinung wie zu Jesu Zeit: „Dies Volk naht sich zu mir … mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.“ Leere, trockene Formen, ohne Inhalt und ohne Gottergebenheit und Gott­verbundenheit. Auch das ist wie zu Jesu Zeit: Die Decke Moses hängt vor ihren Augen wie damals! Sie wollen Ihn nicht sehen. Er gibt ihnen nicht das, was sie suchen: irdisches Wohlleben. Sie wissen mit einem „Reiche Gottes“ nichts anzufangen …

Unterwegs auf meinem Transport nach Theresienstadt sagte ich zu meinem Herrn: „Wenn du mich zu den Juden führst, weil du dort eine Aufgabe für mich hast, dann bin ich es zufrieden.“ Aber leider — zu meiner großen Schande muß ich gestehen, daß ich dort nichts ausrichten konnte. Manchmal hatte ich gedacht, ich sei mit dem oder jenem nahe am Ziel und mußte dann zu meinem Bedauern feststellen, daß ich mich getäuscht hatte. Ich fürchte, daß dieses größte Gericht in ihrer bisherigen Geschichte in jeder Beziehung nicht viel ändern wird. Ihre Verheißungen können sich an ihnen noch nicht erfüllen; sie sind nicht auf­nahmebereit hierfür. Ihr ganzes Sinnen und Trachten geht be­dauerlicherweise nur auf den irdischen Gewinn.

Leider sind ihre religiösen Führer, die Oberrabbiner, in der Mehrzahl auch nicht sehr erleuchtet. (Dr. Baeck aus Berlin macht da eine rühmliche Ausnahme.) So war ich bei einem Oberrabbi­ner, den ich einmal in einem Gottesdienst hörte, erstaunt über seine Unkenntnis in biblischen Belangen. So sagte er u.a., im Al­ten Testament sei nirgends die Rede vom Glauben. Darin unter­scheide sich die jüdische Religion von den anderen, daß sie das Tun betone, während die anderen dem Glauben das Wort redeten. Ich hätte am liebsten widersprochen und ihm aus dem Alten Testament einige Stellen zitieren wollen, die aus­schließlich vom Glauben reden. Hat dieser gelehrte Mann noch nichts von Abraham, dem Vater der Gläubigen, gehört, dem Gott seinen Glauben zur Gerechtigkeit gerechnet hat? Ach, es ist kennzeichnend für das Judentum heute: Es fehlt ihm an treuen gläubigen Hirten! Kein Wunder, daß viele ganz vom Judentum los sind und sich ihres Unglaubens rühmen und meinen, dadurch recht moderne, ja „wissenschaftliche“ Leute zu sein. Wenn sie doch zu dieser ihrer Zeit erkennten, was zu ih­rem Frieden dient! Man kann sich mit ihnen über fast alle Fragen unterhalten — aus Wissenschaft, Kunst, Technik, Wirt­schaft usw. — und man findet viel Gemeinsames; sobald man aber das Ethische oder gar Metaphysische streift, findet man kein Verständnis.

Das fiel mir ganz besonders in einer Unterhaltung mit einem geistig sehr regen Großindustriellen aus der Tschechei auf. Er sprach mehrere Sprachen gut und war oft im Ausland herum­gekommen; dieses eine aber, was nottut, begriff er nicht. Wir sprachen u. a. über ein englisches Buch, das wir dort beide ziem­lich gleichzeitig gelesen hatten. Den Verfasser und Titel weiß ich nicht mehr; den Inhalt aber habe ich noch ungefähr behal­ten, weil er auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hatte: Es handelt sich da um einen jungen Arzt, der für seinen Beruf ganz begeistert ist und der nicht bloß „Mediziner“ sein will, sondern Arzt. Er findet auch eine sehr liebe passende Frau, die bereit ist, für seine Arbeit Opfer zu bringen, und die ihn in seiner Berufsauffassung in jeder Beziehung stützt. Sie arbeiten in einer Walliser Kohlengrubengegend und machen sich sehr verdient um die armen in ihrer Gesundheit gefährdeten Gru­benarbeiter. Seine Einkünfte sind sehr bescheiden; aber er ist zufrieden und sehr glücklich im Bewußtsein, an seinen Mit­menschen seine Pflicht zu tun. In seiner spärlichen freien Zeit beschäftigt er sich mit den einschlägigen Wissenschaften, die verdient um die armen, in ihrer Gesundheit gefährdeten Gru­benarbeiter in seiner Gesundheit gefährdet ist und welche Maß­nahmen dagegen ergriffen werden müssen. Auf diesem For­schungsgebiet ist er auch selber bahnbrechend tätig, so daß er bald mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen und Titel von Medizinischen Fakultäten erlangt. Nun will es das Unglück, daß er eines Tages eine attraktive Dame der „Gesellschaft“ kennenlernt, die ihn auf Abwege führt und schließlich dahin beeinflußt, sein Wissen zu seinem materiellen Vorteil zu nut­zen, d. h. sich eine einträglichere Praxis zu suchen und teilweise auch die Kranken zu täuschen, indem er größere Mengen von Medikamenten verschreibt und dgl. mehr. Seine Frau beobach­tet diese Veränderung in seinem Wesen und Tun mit Schmerz und Trauer, hat aber gar keine Macht mehr über ihn, weil er ganz im Bann jener für ihn verhängnisvollen Dame steht. Sie versucht immer wieder, ihn auf den rechten Weg der Pflicht und Gewissenhaftigkeit zurückzubringen, aber vergeblich. Das verschlechtert nur ihr gegenseitiges Verhältnis, und es tritt schließlich eine Entfremdung zwischen ihnen ein, unter der sie unendlich leidet, er aber das neue Glück in seiner Karriere in vollen Zügen genießt. Der Fortgang dieser Erzählung ist dann wohltuenderweise doch versöhnlich, wenn es am Schluß auch noch recht dramatisch wird: Er findet zurück zu sich selbst, han­delt wieder als Arzt und nicht als „Mediziner“, gerät dadurch aber in die größten Konflikte mit der ärztlichen „Zunft“; er soll sogar unter Anklage gestellt und seine Praxis entzogen bekom­men. In der Verhandlung schlägt er sich jedoch kraft seines Wissens und seiner überlegenen Beweisführung durch und geht so als Sieger aus dem Kampf hervor.

In der Unterhaltung hierüber mit dem erwähnten tschechischen Gesprächspartner zeigte sich vieles, was an unser beider Be­urteilung des Buches doch recht verschieden war. Ich fand es erhebend, daß die Ehefrau so fest geblieben war. Der besagte Herr dagegen konnte nicht genug die alberne weltfremde Hal­tung dieser Arztfrau bespötteln. Seine Ansicht darüber gip­felte in dem Satz: „Wie kann man nur so dumm sein und sich darüber ärgern, daß der Mann so viel verdient!“ Ich möchte sagen, das ist vielfach der Unterschied zwischen dem Juden und dem Glaubenschristen: Jener muß viel verdienen, auch wenn es mit dem Gewissen nicht vereinbar ist, d. h. er hat in dieser Beziehung vielfach kein Gewissen; der Christ dagegen denkt und handelt gerade hierin ganz anders, bei ihm ist auch sein Beruf Gewissenssache (wenigstens bei dem, der mit Ernst Christ sein will!).

Repräsentanten der „Geschäftstüchtigkeit“ habe ich in There­sienstadt einige kennengelernt und mich dann unwillkür­lich gefragt, ob nicht doch ihr Materialismus, vielmehr ihre Glaubenslosigkeit an ihrem Unglück schuld sind, denn auch die sog. gläubigen Juden hatten ja nichts als Formen und Riten, ohne sittlichen Gehalt und Inhalt. Und so muß man wohl sagen, daß das Judentum als Religion eigentlich überlebt ist. Es be­deutet den Menschen nichts und hat ihnen so mittelbar die­se größte Katastrophe ihrer Geschichte gebracht! Aber — es ist immer dasselbe, immer derselbe Grund zur Klage: „Aber wer glaubt unserer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbar?“

Um der Gerechtigkeit willen muß ich allerdings zugeben, daß es wenigstens ideal Veranlagte unter ihnen gab, die ganz ihrer Kunst und ihrer Berufung lebten und dienten. Ich denke da bloß an die Konzertmusiker dort. Mit welcher Hingebung, mit welchem Elan haben die gespielt! Wenn ich da vorbeiging und mir das anhörte, so dachte ich mit Beschämung: Woher nehmen diese Menschen den Mut und die moralische und physische Kraft, uns so etwas zu bieten? Sind sie nicht auch in der vergangenen Nacht von Ungeziefer geplagt gewesen wie ich? Und haben sie nicht eine Blutleere im Gehirn infolge der schlechten Ernährung und der durchwachten Nächte? Sind sie nicht so eingeengt und ge- und bedrückt oder angefochten von den vielen elenden Menschen um sich? Woher nehmen sie den Mut und den Auftrieb für das, was sie hier bieten? Es ist ganz gewiß ihr inneres Bedürfnis, es ist ein Stück, ja ein großer Teil ihres selbst; anders war und ist das nicht zu erklären. Ich fand diesen Idealismus so groß, daß ich oft bewundernd vor sol­chem Schaffen stand. Und ihr Ende? Transport …

Und dann die Schauspieler! Haben diese Menschen, die tags­über schwere Kessel in der Küche hin- und herschieben mußten, mit Riesenlöffeln zu hantieren hatten und am Abend den Orest oder Pylades spielten, nicht daran gedacht, daß am Ende auch für sie der Gasofen bereitstand? Wahrscheinlich doch! Hat das auch jene zarte, feine Gestalt geahnt, die eine echte Iphi­genie war, eine klassische Erscheinung und Königstochter vom Scheitel bis zur Sohle, daß sie das gleiche Schicksal ereilen würde wie Tausende vor und nach ihr, ein qualvoller Abtrans­port und ein schmachvoller Tod? Wer will das ergründen? Jedenfalls waren sie alle ganz bei ihrer Sache und verschafften ihren Zuhörern und Zuschauern einen wahrhaftigen Kunst­genuß! Das ist unbestreitbare Größe und muß rühmend aner­kannt werden, allem Kleinen und Häßlichen zum Trotz.

Theresienstädter Strategen und Bonkes

Den Ausdruß „Bonke“ hörte man gleich nach seiner Ankunft in Theresienstadt. Bonke — die genaue Übersetzung und den sprachlichen Ursprung konnte ich nicht feststellen — hieß soviel wie unverbürgtes Gerücht, Phantasiemeldung u. dgl.

Es leuchtet wohl jedem ein, daß wir in Theresienstadt, wo wir von aller Welt abgeschlossen waren, keine Zeitungen zu Ge­sicht bekamen, auch keinen Auslandssender hörten, ein bren­nendes Interesse daran hatten, zu erfahren, wie es draußen, vor allem an den Fronten stand. Schon vor meinem Abtrans­port wußte ich, daß in Rußland nicht alles so war, wie es uns eine verlogene Führungsstelle, das OKW, glauben machen wollte. Im übrigen war ich — und mit mir viele gerecht Den­kende — davon überzeugt, daß Gott Hitler keinesfalls den Sieg geben würde. Ein Krieg, mit solchen Mitteln geführt und so vom Zaun gebrochen, konnte unmöglich Gottes Wohlgefallen haben. Unser Zahnarzt, sonst ein sehr guter Deutscher, hatte meinen Kindern und mir gegenüber schon lange den gleichen Standpunkt betont. Er sagte: „Wenn Hitler diesen Krieg ge­winnt, dann hat die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.“ (Hit­ler hat den Krieg nicht gewonnen, und die Weltgeschichte be­hält ihren Sinn!) Mein Sohn hatte einen Freund in Groß-Gerau (Hessen); der fand auch nur die schlimmsten Ausdrücke gegen den nationalsozialistischen Wahnsinn. Obwohl von nationaler Gesinnung, freute er sich richtig über die damals schon ver­änderte Lage und das Zurückfluten der deutschen Truppen, weil er darin Gottes Hand sah. Es hat ihm gegraut vor dem‘ Gedanken an einen siegreichen Hitler, mit all der Unmoral und Überheblichkeit, mit all den Vergewaltigungen auch der Kir­che. Er gehörte zum Brüderrat der Bekennenden Kirche und kannte die ganze Verlogenheit dieser Unmenschen. Von ihm hatten wir auch manches aufschlußreiche Material zugestellt, vielmehr überbracht bekommen, so die Briefe des Grafen von Galen und den Brief Werner Mölders! So war ich denn durch­aus im Bilde, als ich in Theresienstadt eintraf, und kam mir als gute Deutsche vor, wenn ich eine Niederlage Hitlers wünschte. Es muß hier einmal klar ausgesprochen werden, daß in diesem Kriege und auch jetzt noch viel Unklarheit unter den Christen über das Wort des Apostels Paulus herrschte bzw. herrscht: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“ Daneben steht bekanntlich das Apostelwort: „Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen.“ Über diese beiden Forderungen wurde schon in der Reformationszeit heftig dis­kutiert. Die führenden Männer haben sich indessen stets zum Vorrang des zweiten Wortes bekannt, also da, wo die Befehle der Obrigkeit gegen Gottes Gebote verstoßen. Und wo wäre das klarer und eklatanter zum Ausdruck gekommen als bei Adolf Hitler und seinen Helfershelfern? Eine Regierung, die die Unmenschlichkeit und die Lüge zum Staatsprinzip erhebt, von Treuebrüchen und Gewaltakten lebt, kann nicht Anspruch auf den Gehorsam der Christen erheben. Leider verschanzen sich heute manche, die sich Christen nennen, hinter jener Forderung. Ob man solchen noch den guten Glauben zubilligen kann?

Andererseits sind sehr viele heute auf dem richtigen Wege. So habe ich bei meinem ersten Kirchgang in der Heimat zwei prächtige alte Damen, Pastorentöchter, getroffen, die mich mit den Worten begrüßten: „Wie schön, daß Sie wieder da sind! Wir haben auch ständig für Sie gebetet. Wir schämen uns für unser Volk, daß Ihnen so etwas zustoßen konnte.“ Ich muß es auch einigen Verwandten meines Mannes rühmend nachsagen, daß sie täglich fürbittend meiner gedachten und vor meinem Abtransport sich sogar bereit erklärt hatten, mich bei sich auf­zunehmen und bis Ende des Krieges verborgen zu halten. Was das bedeutet, kann sich jeder denken: Den Kopf konnte es ihnen kosten; mindestens hätte es ihnen KZ eingebracht! Das alles muß man hier festhalten, wenn man von Nazideutschland spricht. Es ist eben so, wie ich schon in Theresienstadt den ver­zweifelnden Juden immer sagte: Man muß unterscheiden zwi­schen dem deutschen Volke und den Nazis. Andererseits sollte man auch verstehen können, daß die „Volljuden“, die alles verloren haben, nicht sehr maßvoll über das deutsche Volk als solches dachten, daß Aussprüche fielen wie: „Ein Volk, das einen solchen Krieg führt und nicht wie ein Mann gegen seine Führung aufsteht, hat in der Geschichte keine Daseinsberech­tigung!“ Kann man mit Leuten, z. B. mit einem Vater darüber rechten, der seine Frau in Theresienstadt an Hungertyphus ver­loren hat, dessen beide Kinder in Polentransporte kamen und dem sein ganzes Hab und Gut (Erbe vieler Geschlechter) ge­raubt worden ist? Kann man sich wundern, wenn Menschen mit solchen Erfahrungen sich zu leidenschaftlichen Ausdrücken hinreißen lassen? All dies soll nur die Tatsache beleuchten, daß man sehr wohl eine „gute Deutsche“ sein konnte, wenn man für Hitlers Niederlage betete, nicht nur um seine und seiner Familie, sondern auch um der vielen geknechteten und mißhandelten Völker willen, die unter der erbarmungslosen Knute von Hitlers Soldateska schmachteten. Dies kann nicht oft und nicht eindeutig genug hervorgehoben werden, um in den auch heute noch verwirrten Köpfen Klarheit zu schaffen.

Gleich nach unserer Ankunft in Theresienstadt hatten wir die militärische Lage erörtert und uns miteinander über die mut­maßliche Dauer dieses Krieges und die damit zusammenhän­gende Freiheitsberaubung beraten. Manche Männer wußten laufend über den Gang der Ereignisse und den Stand der Fron­ten Bescheid; sie hatten nämlich Verbindung mit den dortigen tschechischen Gendarmen, die ihnen unter dem Siegel „tiefster Verschwiegenheit“ manches anvertrauten. Auch fanden oft Frauen, die bei den Ariern reinzumachen hatten, Zeitungen her­umliegen, in die sie in unbewachten Augenblicken hineinsahen und woraus sie sich dann ein Urteil bildeten. Es gab aber leider solche, die in angeberischer Weise große Niederlagen Hitlers erfanden und Gerüchte ausstreuten, die mit der Wirklichkeit nicht im Einklang standen. Solche Bonkes tauchten in Theresien­stadt meist urplötzlich auf, durchschwirrten die Luft und er­füllten die Menschen mit falschen Hoffnungen, um sie dann wieder um so unglücklicher werden zu lassen. Eins muß aller­dings zugegeben werden: irgendeinen Hintergrund hatten sol­che Bonkes meistens, bloße Erfindungen waren sie nie; nur daß aus irgendeinem kleinen Geschehen große Schlüsse ge­zogen wurden, Mücken also zum Elefanten gemacht wurden.

Im Spätsommer 1944, als die Lage in Belgien und Frankreich für die deutschen Heere gefährlich zu werden anfing und diese dann nach und nach diese Länder räumen mußten, entstanden bei uns die wildesten Gerüchte, so daß selbst die Besonnenen unter uns und sogar die eingeschworenen Pessimisten bestimmt glaubten, im Herbst könnten wir heim! Unsere Enttäuschung war daher nicht gering, als es auf einmal mit den Siegesnach­richten der Alliierten vorbei war und eine große Stille eintrat. Das eine stand für uns dennoch fest: es mußte sich etwas Ernsthaftes ereignet haben; denn die Abtransportierungen der Menschen nach Polen nahmen schreckliche Formen an. Es sah aus, als wenn die Nazis sehr schnell handeln mußten. Die Ereig­nisse mußten sich wohl an den Fronten überstürzen. Und im September kam noch etwas dazu, was uns in dieser Ansicht bestärkte. Das war — der Urnen-Transport.

Die Abtransportierung oder Vernichtung der Urnen aus dem Krematorium

Eines Tages wurden alle verfügbaren Frauen aus dem Lager von ihren Hausältesten zum Appell gerufen, und es wurde ihnen aufgegeben, sich am Krematorium einzufinden. Sie wurden dann unter „sicherem Geleit“ hingeführt, und sie mußten sich dort von der Straße aus bis über den langen Hof des Kre­matoriums aufstellen, und zwar in zwei gegenüberstehenden Reihen. Durch diese fest geschlossene Menschenkette wander­ten dann Urnen von Hand zu Hand, vom Inneren des Krema­toriums bis auf die Straße; Männer luden die Urnen auf Last­autos und fuhren sie ab. Das dauerte tagelang und es geschah unter Bewachung; denn es war strengstens untersagt, eine Urne auf die Seite zu bringen. Man kann sich denken, was das für eine aufregende Arbeit war! Sehr viele, die ihre Liebsten dort verloren hatten, hofften auf ein Wiedersehen, wenigstens mit der Urne. Man mußte indessen sehr bei der Sache sein und konnte nur seine nächsten Nachbarn überblicken. So hörte ich, wie die Frau neben mir auf einmal in den Schrei ausbrach: „Mein Mann, mein Mann!“ Da die Arbeit nicht stocken durfte, um bei den Aufsehern keinen Verdacht zu erregen, schob ich sie aus der Reihe, und die rechte und linke Frau schlossen die Lücke wieder. Nun wußte sie nicht recht, was sie mit dem Fund machen, wie sie ihn verbergen sollte; sie wollte daher unversehens verschwinden, die Urne in ihre Behausung tragen und sie zwischen ihre Sachen packen, um sie später eventuell in die Heimat mitzunehmen. Einer der jüdischen Aufseher aber wurde darauf aufmerksam, holte sie ein und brachte sie unter den bittersten Vorwürfen zurück. „Was denken Sie?“ rief er aus. „Ich bin für jede Urne verantwortlich. Eine fehlende bezahle ich mit meinem Kopf!“

Drei Viertel oder vier Fünftel der Urnen wurden durch diese Aktion erfaßt. Kein Mensch wußte, was mit ihnen geschah; denn sie wurden im „arischen Viertel“ abgeliefert, und die SS verfügte das weitere. Es wurden alle möglichen Mutmaßungen laut: manche meinten, es sollte nicht festgestellt werden kön­nen, daß so viele dort gestorben wären; andere meinten, sie brauchten sie für chemische Zwecke, wieder andere, beides sei richtig. Jedenfalls war es für die hinterbliebenen nächsten An­gehörigen furchtbar schmerzlich, die irdischen Hüllen ihrer Lieben in so pietätloser Weise verschwinden zu sehen. Und wie gingen die Herren mit den Leichen um? Diese wurden auf einen dreiräderigen Karren geladen, womöglich zu zweit, und zum Krematorium gebracht. Was machte es, wenn unterwegs die Köpfe herunterhingen und auf der Erde aufschleiften? Erst im letzten Jahr gab es so etwas wie einen Leichenwagen.

Auch aus der Räumung des Krematoriums schlossen wir auf die Kriegslage. Und die Gerüchte wollten nicht verstummen, daß es an allen Fronten nicht zum Besten aussah. Man sah in den einzelnen Räumen und auf den Höfen Leute herumstehen, gebeugt eine Landkarte studierend. Das Merkwürdige an der Sache war, daß die Gerüchte, die den Tatsachen weit voraus­eilten, nachher wirklich zu Tatsachen wurden. Lag es daran, daß die Oberste Heeresleitung die Verluste so spät zugab? Oder konnten sich die „Strategen“ im Lager den Ablauf der Dinge so genau vorstellen? Wir wußten es nicht. Wenn wir wegen enttäuschter Hoffnungen verärgert über die „Bonkemacher“ schimpften, siehe da: nach einiger Zeit konnte man tatsächlich schwarz auf weiß auf einem abgegriffenen alten Zeitungsblatt bzw. dessen Fragment lesen, was jene vor Wochen prophezeit hatten. Solch ein achtlos liegengelassener Fetzen Papier wan­derte dann von Hand zu Hand. (Zuletzt waren übrigens viele Blocks geräumt und wir alle auf kleinstem Raum zusammen­gedrängt worden, angeblich, um für kommende Arier Platz zu machen. Ob sie wirklich vorhatten, im letzten Augenblick dort eine Zufluchtsstätte zu finden? Wir erfuhren es nicht.) Wie ein solcher Zeitungsausschnitt dann aussah, kann man sich leicht vorstellen: bis zur Unkenntlichkeit und Unleserlichkeit abgegriffen. Für uns aber war er ein großer Schatz, der uns in unserem trostlosen Dasein erfüllte.

Darüber verging jedoch der Herbst, und der Krieg war noch immer nicht zu Ende. Aber wir gaben die Hoffnung nicht auf. Einmal mußte dieser unmenschliche Krieg doch ein Ende neh­men! Schließlich sickerten Nachrichten durch, daß die Russen schon tief in Polen eingedrungen seien und sich Schlesien näher­ten. So leid uns die armen Menschen dort taten, daß sie ihre Heimat verloren und Hals über Kopf fliehen mußten, so sag­ten wir uns doch immer wieder: Warum machen sie nicht endlich Schluß? Warum gibt es keinen Volksaufstand? Warum verweigern die Generale nicht den Gehorsam? Sie müssen doch wissen, daß der Krieg für Deutschland verloren ist und daß alles weitere Blutvergießen vergeblich ist. Wir konnten das nicht begreifen. Die Angehörigen der anderen Völker hier, Öster­reicher, Tschechen, Holländer, Dänen usw., meinten, die Deut­schen seien eine „Hammelherde“ und ließen sich alles bieten;‘ ein anderes Volk hätte längst Schluß gemacht. Dann hörten wir — allerdings sehr verspätet und nur mit Vorbehalt wieder­gegeben —, es sei im Sommer ein Attentat auf Hitler verübt und es seien Generale erhängt worden. (Wie das miteinander zusammenhing, habe ich erst nach meiner Heimkehr erfahren. Merkwürdigerweise waren wir darüber bis zuletzt im unklaren. Nach dem deutschen Zusammenbruch erfuhren wir zwar schon einiges durch den englischen Rundfunk; aber den vollen Sach­verhalt haben wir lange nicht herausbekommen.)

Vernichtung der Karteien

Hatte uns schon der Abtransport der Urnen zu denken gegeben, so mußte uns ein anderes Moment noch viel mehr auffallen. Im Januar 45 hieß es: alle Karteien der Ämter und der Kanz­leien bei den Hausältesten seien zu vernichten; das Nichtbefolgen dieses Befehls wurde unter strenge Strafen gestellt. So wurden denn alle Unterlagen in der Magdeburger Kaserne be­seitigt. Die Abteilung „Evidenz“, die sonst über jeden lebenden, abtransportierten oder verstorbenen Insassen genauste Anga­ben machen konnte, wurde auf einmal „tot“ gemacht; es war jetzt nichts mehr in Erfahrung zu bringen. So konnten diejeni­gen, die im Winter und Frühjahr 1945 noch hierherkamen, über das Schicksal ihrer Angehörigen absolut nichts mehr erfahren. Manche hatten sich mit den Transporten etwas ausgesöhnt, in der Hoffnung, Angehörige dort anzutreffen oder über ihren Verbleib etwas zu erfahren. Nun waren darüber die Zurückblei­benden wie auch die Neuankömmlinge bitter enttäuscht. Deren erster Weg galt oft der Evidenz; aber diese konnte nur nega­tiven Bescheid geben. „Es tut uns leid“, hieß es dort. „Wir können Ihnen gar keine Auskunft über Ihre Mutter, Schwe­ster, Ihren Vater, Bruder usw. geben. Wir haben darüber keine Unterlagen mehr.“ Dann fing ein Suchen an unter Bekannten oder Freunden, die etwa zu gleicher Zeit dort angekommen wa­ren. In den allermeisten Fällen verlief dies Unterfangen aber ergebnislos; die Transportgefährten waren entweder nach Po­len gekommen oder tot.

Theresienstadt war inzwischen sehr zusammengeschrumpft. Man sah fast niemand mehr, wenn man die Straßen und die Plätze passierte. Die Völkerwanderung vom Sommer vorher war vorbei. Damals wälzten sich Massen durch den Ort wie auf einem großen Jahrmarkt. Jetzt stand alles an seinem Ar­beitsplatz; der Ort war wie ausgestorben. Erst Anfang Februar und in den folgenden Monaten fing er an, sich wieder zu be­leben, als dann nämlich noch andere unser Schicksal teilen mußten …

Schweizer Transport

Da verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht im Ort, es ginge ein „Transport“ in die Schweiz. Er solle etwa 2000 Menschen umfassen und sei auf Freiwilligkeit gegründet; es könnten sich Leute melden, die Lust hätten, frei zu werden und in die Schweiz zu gehen. Allerdings waren die Bedingungen für diesen Transport nicht vorbehaltlos: Es kämen nur Voll­juden (also nicht arisch Versippte) und Glaubensjuden (nicht Getaufte) in Frage. Von der Kommandantur wurde eine An­zahl hierzu unmittelbar aufgefordert, andere wieder konnten sich freiwillig zur Verfügung stellen.

Da gab es eine furchtbare Aufregung. Es schwirrten die ver­schiedensten Ansichten und Gerüchte durch den Ort. Wie war solch ein Transport zu erklären? Wieso auf einmal diese Frei­heitszubilligung? War das nicht nur eine Falle für einen neuen, ganz gewöhnlichen Polentransport? Wieso diese Vorbehalte bei der Auswahl? (Auch Dänen waren ausgeschlossen.) Und . .. angesichts der Erfahrungen mit den Nazis, konnte das überhaupt seine Richtigkeit haben? Wer oder was stand dahinter—? Schließ­lich sickerte durch, das Internationale Rote Kreuz habe dies in die Wege geleitet. Aber — war denn die militärische Lage schon so schlecht, daß die deutsche Regierung sich damit einverstanden erklären konnte? So gab es ein Hin und Her, ein Schwanken und Zaudern. Aufgeforderte, die auf der Kommandantur ihre Einwilligung schon unterzeichnet hatten, gingen eilends wieder hin und widerriefen ihre Zustimmung, darunter solche, die schon über 3 Jahre in Theresienstadt weilten und des Lebens hier überdrüssig waren. Andere wiederum blieben dabei. Sie sagten sich: Wer nichts riskiert, gewinnt auch nichts. Einen Kof­fer und eine bestimmte Menge Bettzeug durfte im übrigen jeder mitnehmen.

Es wurde also nun überall gepackt. Und — wirklich: Eines Tages stand ein regulärer Zug mit guten Personenwagen auf dem Geleise! Kommandant Rahm und andere „führende“ Herren erschienen persönlich, hielten Ansprachen an die Reisefertigen und beglückwünschten sie zu der erworbenen bürgerlichen Frei­heit beim Betreten dieses Zuges. Dann zog die Lokomotive an. Ein letztes glückliches Tücherschwenken, und … der Zug war abgebraust!

Die Stimmung wie auch die Aussichten in Theresienstadt waren geteilt. Diejenigen, die sich zum Mitfahren nicht hatten ent­schließen können, kamen sich als die Klügeren und Glückliche­ren vor; sie meinten noch immer, alles sei fingiert, sei „Nazi­bluff“. Ja sogar als bald danach die ersten Nachrichten aus der Schweiz eintrafen und die glückliche Ankunft sowie das Wohl­befinden einiger Teilnehmer bezeugten, glaubten die Leute noch nicht an die Echtheit der Sache. Auch diese Karten — so mein­ten sie — könnten von den Nazis stammen, seien womöglich unter Druck geschrieben, in die Schweiz geschickt und dort von Naziagenten auf die Post gebracht worden. Aber — diesmal war die Sache echt! Diejenigen, die skeptisch gewesen waren, mußten nach dem Krieg feststellen, daß es mit dem Schweizer Trans­port seine Richtigkeit hatte, trotz unzähliger erlogener und verfälschender Machenschaften der Nazis in der Vergangenheit, die solch ein skeptisches Mißtrauen sehr wohl rechtfertigten. Es war doch so, daß das Internationale Rote Kreuz eine Verein­barung mit der Regierung getroffen hatte, und zwar zum Austausch gegen deutsche Kriegsgefangene, so daß die Abgereisten ihren Entschluß nicht zu bereuen brauchten. Wie sie schrie­ben, waren sie glänzend untergebracht und versorgt, und außer­dem mußten sie nicht die letzten schweren Wochen des Wartens und der zermürbenden Ungewißheit mit durchmachen, denen wir anderen ausgesetzt waren; denn die Abtransportierung nach Deutschland erwies sich da fast als ein Ding der Unmöglichkeit.

Gewaltsame Scheidung der Ehen

Die großen Ereignisse an der Front und in der Heimat warfen ihre Schatten auch nach Theresienstadt. Das galt sogar für die Scheidungsfrage bei noch bestehenden Ehen.

Schon im Sommer 1944 hieß es, alle Mischehen würden, auch in den von Deutschland besetzten Gebieten, geschieden; dieses Gerücht wollte nicht verstummen. Im Herbst trat es dann mit größerer Bestimmtheit auf, und — im Winter wurde es Tatsache. Als wir Mischehen-Partner das hörten, wollten wir es zunächst nicht glauben. Wir sagten uns, das würde ja furchtbaren Staub in aller Welt aufwirbeln, das könnte sich Hitler bei dieser Kriegslage nicht leisten. Aber — Hitler konnte sich eben alles leisten! Je wahnwitziger die Idee, desto eher und desto bru­taler wurde sie in die Tat umgesetzt. Was kümmerten ihn schon Familienbande, Tränen und Weh und Ach? Es konnte alles nicht teuflisch genug sein, um ausgeführt zu werden: Alle Privi­legien der Mischehen, alle Versprechungen und Garantien wur­den ebenso kaltschnäuzig gebrochen wie die Verträge mit den Völkern, deren Zahl groß war. Lautete der „ethische“ Grund­satz doch: „Gut ist, was dem deutschen Volke nützt.“ Und dem deutschen Volke „nütz­te“ es immer, wenn Hitler und seine Spieß­gesellen irgendeine neue Teufelei ersannen … Es waren mei­stens Frauen, die davon betroffen wurden. Und die Männer, die „arischen“ Männer? Die hatte inzwischen die Gestapo mundtot gemacht. Sie saßen zum großen Teil schon in Lagern, wo sie wie Schwerverbrecher Zwangsarbeit verrichten mußten, für „Be­waffnung und Munition“! Wie es dort zum großen Teil zu­ging, haben die Betroffenen vielfach bezeugt: schwerste Arbeit, schlechte Unterbringung und mangelhafte Ernährung. Es hat sich mancher der (meist älteren und alten) Herren dort Schä­den fürs Leben geholt; auch in meinem Heimatort traf ich spä­ter solche …

Also — die Mischehen sollten getrennt werden! Dementspre­chend war die Transportleitung in Theresienstadt schon ange­wiesen, die Neu-Ankömmlinge in Empfang zu nehmen und bis auf weiteres in der „Schleusenkaserne“ unterzubringen. Die er­sten waren die Tschechen wie­der; die waren ja aus der Nachbar­schaft. Ach, wieviel Wehgeschrei und Herzeleid trat einem da entgegen! Da war eine Mutter, die über den kranken Mann jammerte, den sie in elendem körperlichen Zustand hatte zu­rücklassen müssen. Da eine andere, der der Säugling von der Brust gerissen worden war. Dann eine, die eine alte arische Schwiegermutter zu versorgen gehabt hatte, weil der Mann im Zwangslager saß, und da wieder eine, die ihre todkranken Kinder ohne Versorgung und Pflege hatte zurücklassen müs­sen. Wieviel Jammer, wieviel Tränen, wieviel Verwünschungen! „Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten las­sen“ — das war die Grundstimmung all derer, die jetzt an­kamen. Und dazu die Gerüchte, die in solcher geladenen Atmo­sphäre kursierten! Da schrie eines Morgens eine tschechische Frau auf: „Meine Kinder sind tot! Meine Kinder sind tot!“ Sie hatte gehört, in ihrem Heimatort wäre ein schlimmer Luftan­griff gewesen und ihr Haus dabei getroffen worden. (Die Tschechen hatten ja viel Fühlung mit den „arischen“ Tschechen und erfuhren so manches.) Ach, was für herzzerreißende Szenen spielten sich da ab! Und wie erbarmungslos ging bald der All­tag darüber hinweg!

Da fast alle Frauen in arbeitspflichtigem Alter waren, wurden sie sofort in Arbeit gesteckt, und zwar in solche, die ihnen schwerfiel. Manche zarte Frau, die daheim von ihrem Manne auf Händen getragen worden war, bekam gleich nach der An­kunft Scheuereimer und Bürste in die Hand gedrückt, und sie mußte damit hantieren, als ob das die größte Selbstverständ­lichkeit von der Welt wäre. Da gab es Tränen und Erkran­kungen, und Ohnmächten und Todesahnungen — Herzeleid über Herzeleid! Das Schlimmste jedoch war, daß es seit Weihnachten so gut wie keinen Postverkehr mehr gab, daß diese armen Men­schen daher keine Aussicht hatten, etwas über ihre Angehöri­gen zu erfahren. Es war und blieb nur die eine Hoffnung, daß Hitlers Heere bald den Krieg einstellen mußten; damit würde ein vielfaches Millionenelend dann zu Ende sein. Das hofften auch wir „guten“ Deutschen —!

Ich persönlich kümmerte mich verständlicherweise besonders um einen Thüringer Transport. In meiner Heimatstadt war ja, wie ich wußte, auch noch eine Dame, die mit einem „Arier“ ver­heiratet war und die bestimmt herkommen würde. So sehr ich wünschte, etwas über meine Kinder zu erfahren, so tat mir diese Dame doch sehr leid; wußte ich doch, wie sie unter der Trennung leiden und wie es ihrem treuen Manne zumute sein würde. (Daß die arischen Männer auch schon das Schicksal er­eilt hatte zur Strafe dafür, daß sie seinerzeit das „Verbrechen“ begangen hatten, jüdische Frauen zu heiraten, das wußten wir natürlich nicht; das erfuhren wir erst bei der ersten Begegnung mit den Neuangekommenen.) So war denn nun, nachdem der Transport an Ort und Stelle war, mein erster Weg zu dieser Dame.

Was ich da außer über sie selber vom Schicksal meiner Familie zu hören bekam, hat mein Herz in größte Trauer versetzt. Zunächst war da mein Sohn nicht mehr zu Hause in seinem Betrieb, sondern in einem Zwangslager. Welche Befürchtun­gen hegte ich da! Kannte ich doch von früherer Mitarbeit her genau die internen Angelegenheiten unseres Unternehmens und wußte, daß, wenn mein Sohn, die Seele des Ganzen, nicht da wäre, schlimme Fehler begangen werden könnten, Fehler, die womöglich nie wieder gutzumachen wären. (Und in der Tat — wie hatte ich mit meinen Befürchtungen recht behalten! Als ich nach Hause kam, bestätigte mein Sohn mir all das, was ich dort in Theresienstadt voraussah!) Das Geschäftliche war in­dessen nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war die Lage mei­nes Sohnes, der aus verantwortlichem Schaffen heraus zum Zwangsarbeiter degradiert war. Wie sehr er darunter leiden würde, konnte ich mir nur zu gut vorstellen. Des weiteren er­fuhr ich, daß auch meine arme Tochter den Betrieb nicht betre­ten durfte, sondern als Arbeiterin für eine Wäscherei verpflich­tet worden war. Wie bitter all dies war, kann sich nur jemand vorstellen, der unsere Verhältnisse kannte und wußte, wie wir drei nach dem Tode des Vaters uns in diesem Werk, dem Er­be unserer Väter, eingesetzt hatten. Und nun? Jetzt saß an mei­nes Sohnes Stelle jemand, der auf den „Endsieg“ hoffte und der seiner ganzen Einstellung nach alles andere als segensreich wirken konnte. Wie verheerend sich das, zumal vor dem zu erwartenden Zusammenbruch, auswirken würde, das sah ich blitzartig vor mir, als ich diese erste Begegnung mit der besag­ten Dame hatte. Da drängte sich die ganze Lage, Zeit und Raum überspringend, in ein deutliches, klares Bild zusammen, und das stand vor mir wie aus der Erde gezaubert.

Es war genau wie damals, als man mich von meinen Kindern fortbrachte, ja, noch schlimmer! Damals war nur ich betroffen; nun traf es meine Kinder an den Lebensnerv, die Existenzmög­lichkeit, wobei ihre Gesundheit und ihr Leben ohnehin schon in Frage gestellt waren. Was leidet da ein zerfleischtes Mutter­herz in solchen Augenblicken! Dazu noch das Getrenntsein und nichts unmittelbar voneinander hören zu können! Gibt es wirk­lich noch Schlimmeres? Könnte die Hölle noch Ärgeres ersinnen? Wahrhaftig — Hitler und seine Trabanten waren Vollstrecker höllischer Befehle; nur als solche konnten sie die Menschen so peinigen, daß sie sie ins Tiefste der Seele trafen. Einmalig war an diesem Abgesandten des Teufels alles, einmalig besonders das Ersinnen von Qualen für ganze Familien. Es war ausge­sprochener Wahnwitz, daß meine Tochter in einem fremden Betriebe arbeiten mußte, während im eigenen Betriebe, wo sie mit an führender Stelle gestanden hatte, alles drunter und drü­ber ging. Aber — es „rast der See und will sein Opfer haben“! Was kümmerte es diese Verbrecher da oben, daß schwer auf­gebaute Existenzen zugrundegingen, — wenn sie nur ihre Pro­grammpunkte erfüllten!

Und da gibt es auch heute noch Menschen in Deutschland, die der Ansicht sind, daß der „Führer nur das Beste gewollt“ hat! Gibt es für solche Menschen noch eine Umkehr, eine echte Besinnung? Hier helfen zehn Nürnberger Prozesse mit all dem erdrückenden Material nichts! Sie bleiben unbelehrbar. (Was wird einmal Gott zu ihnen sagen?) Soll man diese Menschen bedauern, daß sie jetzt die Folgen ihrer Gesinnung und Hand­lungsweise tragen müssen? Ist das nicht eine ausgleichende Gerechtigkeit, die sie jetzt zur Rechenschaft durch Menschen zieht? Wer mit „seinem Führer“ innerlich und äußerlich durch dick und dünn ging und alles guthieß, der soll auch für seinen Führer leiden. Diese Unbelehrbaren müßten jetzt zu ihrer Sa­die stehen und alles willig auf sich nehmen, alle Konsequenzen gern tragen, statt zu jammern und zu winseln und Ausflüchte zu machen, d. h. alles abzuleugnen. —

So stand ich nun mit dem Neuen, mit dem Wissen um das traurige Los meiner Kinder da. Jede Mutter in gleicher Lage wird mir nachfühlen, wie mein Herz blutete. Auch das noch! Und alles durch mich! Ich allein bin die Ursache all dieser Leiden! Mein Sohn ein Strafgefangener, meine Tochter eine unge­lernte Fabrikarbeiterin, der Betrieb in Existenzgefahr — alles durch mich! Ach, wie bitter! Und da soll man seinen Alltag weiterleben, als sei nichts geschehen, seine Arbeit tun und ar­men Menschen dienen — alles mit zerrissenem Herzen, unter fremden Menschen, in fremder Umgebung und unter Verhältnissen, die ohnehin das Höchstmaß an Selbstverleugnung und Selbstentäußerung erfordern! Kann das ein Mensch auf die Dauer tragen? Ist das nicht zum Versinken? Ja, ich versank. Eine bitterböse Krankheit befiel mich … (Doch darüber Nähe­res in anderem Zusammenhang.)

Dänischer Transport

Die Dänen haben, wie schon an anderer Stelle erwähnt, eine Art bevorzugter Stellung eingenommen; sie schienen unter dem besonderen Schutz ihrer Regierung und weiterhin des Roten Kreuzes zu stehen. Das ging schon daraus hervor, daß sie von den schrecklichen Polentransporten verschont blieben und daß sie auch für die Schweiz nicht in Frage kamen, selbst solche nicht, bei denen die Voraussetzungen vorhanden waren, also die Voll- und Glaubensjuden. Die dänischen Lagerinsassen wa­ren auch besser untergebracht als die anderen, wohnten mehr oder weniger „prominent“, d. h. bevorzugt, weil sie nicht mit anderen zusammengewürfelt und deshalb nicht so beengt wa­ren.

Eines Tages, noch längere Zeit vor Kriegsschluß, hieß es, die Dänen würden in Autobussen heimgeholt. Wir alle dachten, daß dies nicht möglich sei, und wiesen diese Nachricht als „Bonke“ zurück. Aber — die Autobusse kamen wirklich und wurden, was fast unglaublich schien, von der arischen Wache in das jüdische Viertel hereingelassen. Die Betreffenden wur­den gesammelt, ihre Papiere geprüft und sie dann ordnungs­mäßig verfrachtet. Es durften nur solche an dem Transport teilnehmen, die wirklich aus Dänemark gekommen waren; Ver­wandte durften nicht mit. Ein Elternpaar wäre gern mit dem von dort gekommenen Sohne fortgefahren. Sie wurden aber nicht angenommen; die Bestimmungen standen dagegen. Lei­der hörten wir später, daß die SS aus Wut über das „vorzeitige“ Verlassen des Ortes auf den Transport außerhalb Theresien­stadt Schüsse abgegeben hätte, und es hätte mehrere Tote ge­geben.

Dies alles deutete darauf hin, daß das Ende des Krieges vor der Tür stand. Es bemächtigte sich da eine ungewöhnliche Un­ruhe aller Insassen. Einige Tollkühne veranstalteten sogar eine Art „Demonstration“ — etwas, was man in Theresienstadt bis­her für ganz unmöglich gehalten hatte. Und — das Erstaunliche daran war, daß es keine schlimmen Folgen gab, keine Erschie­ßungen, keinen Nahrungsentzug oder etwas anderes, wie es sonst dort für das geringste Vergehen an der Tagesordnung war. Der Kommandant selber erschien, rief die Leute zur Ruhe und drohte für den Wiederholungsfall Strafen an. All das zeugte schon von einer Art gebrochener Macht … Aber — mit­ten in diese hoffnungsvolle Stimmung hinein kamen entsetz­liche Nachrichten und Ereignisse. Sie betrafen die sog. „Rück­transporte“ …

Rücktransporte

In den allerletzten Kriegswochen und -tagen kamen „Reste“ (Überlebende) aus verschiedenen Lagern der besetzt gewese­nen Gebiete, so aus Rumänien, Ungarn usw., auch ganz kleine Gruppen der aus Theresienstadt nach Polen Verschickten. Letztere machten natürlich nur einen verschwindenden Bruchteil derjenigen aus, die von Theresienstadt fortgekommen waren. Aber in welchem Zustande kamen diese armen Menschen an! Verseucht, verhungert und verwildert — und zwar in des Wortes wahrster Bedeutung! Als sie kaum ausgeladen waren und gespeist werden sollten, griffen sie das betreuende Personal an und mißhandelten es, rissen die aufgestellten Tische um, zerbrachen das Geschirr, fielen übereinander her und schlugen sich das Essen aus den Händen. Gleich am ersten Tag gab es mehrere Tote! Die mit der Versorgung dieser Armen Betrauten kamen wehklagend und verzweifelt nach Hause; sie konnten mit diesen zu Bestien gewordenen Menschen nichts anfangen. Wie waren diese Menschen zu solchen Wahnsinnigen geworden? Durch systematische Züchtung! Die „menschenfreund­liehen“ Wächter ihrer Lager hatten sich einen Spaß daraus ge­macht, den halbverhungerten Menschen Brocken hinzuwerfen, über die viele dann zwangsläufig herfielen, sich bald gegen­seitig mißhandelten, um in den Besitz dieser „Nahrungsmittel“ zu gelangen. Und das Tag für Tag! — Es ging eine große Em­pörung durch den Ort über solche Unmenschlichkeit. Die Ver­treter des Schweizer Roten Kreuzes, das schon seit Ende März anwesend war, haben mit Schaudern diese Szenen miterlebt, und der Vorsitzende hat dem Kommandanten gegenüber kei­nen Hehl aus seinen Gefühlen und Ansichten gemacht.

Und die anderen? Sie sahen buchstäblich aus, als wenn sie aus dem Grabe erstanden und schon halb in Verwesung überge­gangen wären. Sie konnten sich selbst nicht fortbewegen und mußten auf Tragen aus den Viehwagen geholt werden. Sie konnten auch nichts zu sich nehmen, sondern mußten in der ersten Zeit durch Einflößen von Flüssigkeit am Leben erhalten werden, bis sie dann, nach langer treuer Pflege, imstande wa­ren, feste Nahrung aufzunehmen. Ganz zu schweigen von einer ganzen Anzahl von Menschen, die als Leichen geborgen werden mußten. Sie waren dem Hunger und den Seuchen erlegen; hat­ten sie doch eine wochenlange Fahrt ohne Nahrung und ohne jedes menschliche Nachtlager hinter sich! Ja — so kamen Men­schen hier an, die noch viele Jahre hätten leben und Nützliches schaffen können. Aber „der Führer“ wollte das so … Es bricht einem noch nachträglich das Herz über so viel Greuel und Ver­wüstung, nur aus Wahnsinn angerichtet, um Menschen zu quälen und zu martern. Und man wundert sich, daß man es selbst überstanden hat.

Was haben diese Transporte uns, die wir hiergeblieben waren, gebracht? Nun, nichts Gutes, nämlich Seuchen und Epidemien. Das war wahrscheinlich auch der Zweck der Übung! Denn — jene Menschenfreunde hätten sich ja gar nicht die Mühe zu machen brauchen, diese Elenden wieder nach Theresienstadt zu schaffen; sie hätten sie ja so erledigen können, wie sie es mit Millionen anderer gemacht hatten. Aber auf die wenigen Tausende haben sie soviel Mühe der Ab- und Rücktransportie­rung verwandt, weil sie damit das grausige Ziel einer Infek­tion unseres ganzen Lagers bezweckten. Dies war die Ursache, daß sie jenen Unglücklichen noch rollendes Material zur Ver­fügung stellten. Sie wollten auf diese Weise auch uns noch be­seitigen, nachdem ihnen ihr eigentliches Vorhaben, uns in die Gaskammern zu stecken, mißglückt war. — Die berüchtigten Gaskammern waren auch in Theresienstadt schon im Bau be­griffen. Wir hatten schon oft davon munkeln gehört, konnten aber nichts Bestimmtes darüber erfahren; denn die Eingeweih­ten haben sich wohl gehütet, nähere Angaben darüber zu machen, weil sie es mit dem Leben hätten bezahlen müssen. Hin­terher indessen erfuhren wir: Der Kommandant hätte die Fer­tigstellung dieser Gaskammern hinausgezögert und sein Handeln später dem Vorsitzenden des Schweizerischen Roten Kreu­zes mitgeteilt. Dafür sei ihm von diesem freier Abzug in die Schweiz zugebilligt worden. (So wurde es in Theresienstadt nach Abzug der Deutschen behauptet. Daß den Lagerinsassen also schon einmal der Tod zugedacht war, das erfuhr dabei jeder, der nach Theresienstadt gekommen war.)

Bauschewitz

Wenn man neu in Theresienstadt eingetroffen war und über dieses und jenes klagte, dann hieß es immer: „Was wollen Sie denn? Sie haben doch Bauschewitz nicht erlebt und können deswegen überhaupt nicht mitreden!“

Was ist nun Bauschewitz? Zunächst ein kleiner Ort, wenige Kilometer von Theresienstadt entfernt. Aber für die Theresien-städter war dieser Name ein Begriff der Todesangst und Höllenqualen, der Inbegriff der entsetzlichsten Marter! Es hatte folgende Bewandtnis damit: Eines Sonntags in der Frühe wurden alle Bewohner von Theresienstadt aufgefordert, ihre Unterkunftsstätten sofort zu verlassen und unter Bewachung nach Bauschewitz zu wandern. Kran­ke, Krüppel, Kinder, Kriegsbeschädigte, alle mußten an diesem Marsch teilnehmen; sie durften nichts bei sich führen als eine Kleinigkeit an Nahrung, also etwas Brot. Es war ein bejammernswerter Zug. Viel Wehklagen und Gewimmer derjenigen, die nur unter Qualen mitkonnten, vor allem aber der Mütter, die ihre kleinen Kinder führen oder tragen mußten. Dort angekommen, mußten sie sich in be­stimmter Weise aufstellen und den ganzen Tag über so ste­henbleiben. Alle wußten, daß sie jetzt den Tod zu erwarten hatten, entweder durch Vergasung oder durch Erschießen. Viele brachen zusammen; andere mußten von Kameraden gestützt und gehalten werden. Welche Seelenqualen diese Gemarterten durchmachen mußten, kann wohl jeder ermessen. Von irgend­einer Stelle war, daß wußte man nun, der Befehl zur Hinrich­tung gekommen; aber über die Art gab es wohl noch keine klare Anweisung. Und — diese Anweisung kam auch nicht … Am Abend wurden sie, zu Tode geängstigt und ermattet, wie­der nach Hause geführt. Im letzten Augenblick hatten die be­treffenden Stellen sich eines anderen besonnen. Gott hatte es verhindert. Wie so vieles dort. Man konnte, wenn man darauf achtete, Wunder über Wunder erleben! (Daß dieser entsetz­liche Tag so gnädig abgelaufen war, das gab auch den Ungläu­bigen und Gleichgültigen zu denken.)

Das also war Bauschewitz. Ich glaube, daß alle, die an dem Platz dort versammelt waren, die­sen Namen nur mit Schrecken und Entsetzen werden hören können … Leider, leider haben viele Teilnehmer dieses Marsches später nach Polen ge­mußt. —

So wurden denn, kurz vor Kriegsende, noch Todbringer in Form von Seuchenkranken in unser Lager gebracht. Man ergriff hier zwar sofort die nötigen Vorsichtsmaßnahmen; doch bei dem Mangel an Desinfektionsmitteln und Medikamenten konn­te es nicht verhindert werden, daß sogar eine Anzahl Ärzte und auch Pflegepersonal von den Krankheiten ergriffen wurden. Wir hatten unter ihnen bald Todesfälle zu beklagen. Dann aber kamen auf dem Luftwege entsprechende Desinfektionsmittel aus Amerika, so daß die Ansteckungsgefahr abflaute. Die Kran­ken waren im übrigen streng isoliert worden und auch sonst alle Vorkehrungen getroffen, die Krankheiten auf ihre ur­sprünglichen Herde zu beschränken. So sind wir denn über die uns zugedachte Katastrophe gut hinübergekommen, und wir mußten wieder die Wahrheit des Wortes erleben: „Ihr ge­dachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“

Es muß der inzwischen dort eingezogenen russischen Verwal­tung angerechnet werden, daß sie sich vorbildlich auf dem Gebiete der Hygiene bei uns betätigt hat und nichts unversucht ließ, der Seuchen Herr zu werden. Russische Ärzte und russi­sches Pflegepersonal arbeiteten Schulter an Schulter mit den Juden bei der Bekämpfung der Krankheiten. Und der Erfolg blieb nicht aus: Dank der energischen Abwehr vom ersten Augenblick an, waren verhältnismäßig wenig Verluste an Toten zu beklagen. Trotzdem hat diese letzte schwere Prüfung uns Lagerinsassen große Unruhe und Niedergeschlagenheit bereitet, weil dadurch nämlich die Heimreise in ungewisse Ferne gerückt wurde. Es hieß, nach dem letzten Krankenfall müßte noch eine Zeit der Quarantäne dort verbracht werden, damit die Krankheiten nicht nach ganz Europa verschleppt würden.

Die letzte Zeit in Theresienstadt

Uber das tatsächliche Kriegsende konnten wir nichts Zuver­lässiges in Erfahrung bringen, weil wir ja nach wie vor von der Welt abgeschlossen und nur auf Gerüchte angewiesen waren. So mußte man diesbezügliche Nachrichten allesamt vorsichtig ml nehmen; denn authentisch war keine von ihnen. Einmal wurde gesagt, es wäre schon Waffenstillstand; es kämpften nur noch einzelne Heeresteile, die sich nicht ergeben wollten. Im anderes Mal hörte man, der Krieg sei noch lange nicht zu Ende; Goebbels hätte wieder über den Rundfunk gesprochen und das Volk zum Durchhalten aufgefordert. Wieder andere wollten wissen, der Krieg könne noch den ganzen Sommer wei­tergehen, denn Hitler hätte gesagt, „jeder Busch und jeder Zaun“ müsse verteidigt werden. Nun kann man sich leicht vor­stellen, wie das alles auf unser Gemüt und unsere Verfassung wirkte; wußten wir doch, daß es in Deutschland viele Büsche und viele Zäune gab, die umkämpft werden konnten. Wie und wann sollten wir da nach Hause kommen und mit den Unsern vereint werden? Die Pessimisten und die „Unken“ haben ihr grausames Spiel mit uns getrieben, ohne irgendwelche böse Absicht natürlich, aus ihrer eigenen unglücklichen Stimmung heraus. So wurde man hin- und hergeschleudert zwischen Hof­fen und Verzagen.

Ich persönlich hoffte ganz fest, zum Beerenpflücken wieder zu Hause zu sein, und sprach dies auch wiederholt aus, wurde natürlich von den Miesmachern darob bitter verhöhnt. Beson­ders eine Dame, die mir ganz besonders nahe stand, hatte gar keine Hoffnung mehr. Sie sagte: „Passen Sie auf, zu Weih­nachten sind wir noch immer hier!“ Aber siehe da — die gleiche Dame kam gegen Ende April ganz glückstrahlend zu mir und verkündete: „Nun glaube ich selber, daß der Krieg zu Ende ist und daß wir bald heimkommen. Es ist eben ein Tschechen­auto gekommen, um unsern Hausältesten abzuholen. (Dieser lebte in Mischehe.) Nun muß es doch wohl so weit sein!“ Dar­über war ich natürlich hochbeglückt und hoffte nun Tag für Tag darauf, daß auch ich geholt würde.

Die Leerung der Kleinen Festung

Eine sogenannte „Kleine Festung“ gab es in der Nähe von Theresienstadt, das Schreckgespenst aller Insassen. Jeder, der „nicht gut tat“, kam dahin. Wenn einem mit der „Kleinen Fe­stung“ gedroht wurde, dann wußte man schon, was es ge­schlagen hatte. Es war der Ort der politischen Gefangenen, der „asozialen“ Elemente sowie aller derer, die unbequem waren. Niemand von uns hat sie je zu sehen bekommen, es konnte auch niemand etwas Bestimmtes darüber aussagen. Wir wußten nur, daß dort auch viele „Arier“ untergebracht waren, mei­stens Tschechen, aber ebenso Deutsche. Man sah manchmal von weitem auf der Arischen Straße kümmerliche und jämmerliche Gestalten dahinwanken, eskortiert von SS hinauf zur Kleinen Festung. Einmal kam eine Frau ganz aufgeregt von dem An­blick eines solchen Jammerzuges nach Hause. Sie hatte beob­achtet, daß Gefangene viele ihrer Kameraden auf notdürftigen Tragen (zwei Langhölzern) trugen, weil sie unterwegs zusam­mengebrochen waren, wahrscheinlich infolge Mißhandlung und Aushungerung. Diese Frau konnte sich tagelang nicht darüber beruhigen; das Bild dieses Todeszuges verfolgte sie Tag und Nacht. Von uns soll auch ab und zu jemand dorthingekommen sein, wenn viel Beschwerden gegen ihn vorlagen oder wenn er politisch „unzuverlässig“ war. Jedenfalls kursierten die ver­schiedensten Gerüchte über diese berüchtigte Kleine Festung.

Wie unheimlich es dort zuging, das erfuhren wir genauer erst nach Beendigung des Krieges. Da wurde auch dieser Ort der Qual und der höllischen Folterungen aufgetan. Und was sich den erwartungsvollen Blicken der Betreffenden darbot, war schlimmer, als die wildeste Phantasie es hätte ausmachen kön­nen —: ein buchstäblicher Ort der Verwesung! Was man da auf der Erde kauernd vorfand, waren keine Menschen, sondern lebendig begrabene Skelette mit schwachen Lebenszeichen, zu Tode gehungerte und gemarterte Menschen. Man konnte ihre Körper kaum anfassen, um sie auf Tragen abzutransportieren. Sie kamen alle ins Krankenhaus, wo sie aufs beste gepflegt und sorgfältigste behandelt wurden, um dann, wenn möglich, in ihre Heimat abtransportiert zu werden. Aber viele von ihnen haben die Heimat nie wiedergesehen. Sie erlagen ihren Qualen. Das System der Menschenmarterung haben die Nazis perfekt verstanden, in diesem teuflischen Gewerbe konnten sie wohl von niemand übertroffen werden. Auch das war „ein­malig“! Mit Schaudern denkt man noch an diese Bilder des Todes zurück …

Heim ins Reich

Noch ein Moment war uns Beweis für die Beendigung des teuf­lischen Krieges: das war die überstürzte Flucht der deutschen Besatzung aus der Tschechei. Da sah man von früh bis abends auf der „arischen“ Straße, Richtung Prag—Dresden, motori­siertes Material rollen ohne Aufhören. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Die russischen Heere waren schon so nahe herangekommen, daß jene schleunigst die Flucht ergreifen muß­ten, wollten sie nicht abgeschnitten werden. Daß sie bis zuletzt noch mit dem „Endsieg“ gerechnet hatten, ersahen wir aus der Eile des Abzuges. Und wie stark die Besatzung in der Tschechei gewesen war, konnten wir aus der Masse des rollenden Mate­rials schließen: Lastwagen an Lastwagen, Personenautos aller Marken und Kaliber, ein regelrechter Auszug. Die Insassen von Theresienstadt standen an der Hohen Planke, die sonst bewacht und für uns unzugänglich war, und schauten ruhig und ge­lassen zu. Kein Laut der Schadenfreude oder gar der Beschimp­fung. Nichts als lautloses Staunen — Staunen darüber, daß diese schier unüberwindliche Macht nun ins Wanken geriet. Mit welchem Jubel waren sie ausgezogen! Mit welchem Tri­umphgeschrei und übermütigen Prahlen hatten sie die Welt erfüllt, als sie die wehrlose Tschechei besetzten, nachdem sie ihr Unantastbarkeit zugesichert hatten, weil Hitler ja keine Tsche­chen in seinem Reich haben wollte, nur seine Deutschen aus dem Sudetengau! Er hatte ja bekanntlich „keine territorialen Forderungen mehr“ in Europa, als Sudetenland ins Reich heim­kehrte! Wie war das doch alles bewußt und auf lange Sicht hin­aus erlogen und erschwindelt! Nun mußten diese Welteroberer zurück. Er, Hitler, hatte alles von vornherein einkalkuliert, — nur eins nicht, die Hauptsache: den Lenker der Schlachten, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt, Wagen mit Feuer verbrennt! „Wo der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wo der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst.“

Ob diese Unmenschen später in Nürnberg, wo sie all ihre Taten aufgedeckt und unverhüllt vor sich sahen, wenigstens einen Hauch von diesem gewaltigen Gott verspürten, der sich nicht spotten läßt und dessen Gerichte unausweichlich sind? Welch gewaltige und ewige Gedanken beschlichen einen da an der sonst unnahbaren Planke! Gedanken über die Nichtigkeit des Men­schen, der wie des Grases Blume vergeht oder wie Spreu, die der Wind zerstreut … Welch eine „Wendung durch Gottes Fügung“! Das konnten alle jetzt sagen, die ein Bauschewitz hinter sich hatten und die dem Gastod mit knapper Not ent­gangen waren. Es war eben nicht Gottes Wille, daß Seine ganze Erde durch eine höllische Räuber- und Mörderbande zer­treten wurde; er hat eben nicht Ja gesagt zu dem Rassen­schwindel und Rassenwahn. Vor Ihm ist alles Fleisch gleich. Bei Ihm gilt nur das, was aus Wasser und Geist geboren ist, und nicht die irdische Erbmasse. Nur das Blut Jesu Christi hat ewi­gen Wert und wird am Ende dieser Tage den Sieg behalten, nicht aber sündiges Menschenblut, in Sünden empfangen. Es wird erfreulich sein, zu sehen, wie das deutsche Volk zu sei­nen ewigen Quellen zurückfindet, zur inneren Erneuerung, zur Besinnung auf seine ewige Bestimmung; dann werden diese ungeheuren Opfer an Blut und Gut nicht umsonst gewesen sein … Auch der „Kleine Rest“ der Juden muß bei sich Ein­kehr halten. Sollte Gott dieses furchtbare Gericht umsonst zu­gelassen haben? Hat sein Volk, das Er bis auf den heutigen Tag durchgetragen hat, nicht etwas daraus zu lernen? Hat es nicht den Bund von Sinai schon oft gebrochen; genauso wie damals in der Wüste? Waren ihm nicht schon oft in seiner bewegten und wechselvollen Geschichte die Fleischtöpfe Ägyptens weit voller als der Ort, da seine Ehre wohnte?

Meine letzte gefährliche Erkrankung

Schon öfter war ich dem Tode nahe gewesen; aber der Herr hat mir immer wieder herausgeholfen. Ich bin immer wie durch ein Wunder durchgekommen.

So auch damals bei dem Armbruch. Es war ein wirkliches Wun­der, eine offensichtliche Bewahrung, daß ich mir damals nicht das Genick gebrochen habe. Der Hausälteste und auch meine Zimmerkameradinnen beglückwünschten mich, daß der Arm gebrochen war. Ich war nämlich die ganze Treppe hinunter­gerollt, und unten waren Steinfliesen! Es war, als hätte mich ein Engel gehalten. Das waren die Gebete meiner treuen Kin­der, die mich, wie meine Tochter mir schrieb, jeden Tag und jede Nacht in „Gottes Arme betteten“. Daß alles so gut geheilt ist und ich keine schlimmen Nachwirkungen verspürte und wieder meine Hand bewegen und mit ihr arbeiten konnte, das alles war Gottes Güte und Gnade.

Anfang März überfiel mich die furchtbare „Theresienstädter Krankheit“. Es war bald nachdem ich von dem traurigen Schick­sal gehört hatte, das meinen armen Kindern widerfahren war; schon unmittelbar nach der erhaltenen Nachricht war ich so matt und elend, daß ich kaum laufen konnte. Das ging so einige Zeit, und dann — dann war es vorbei. Ich war außer­stande, meine Beine überhaupt noch zu bewegen; wenn ich mich im Bett herumdrehte, hatte ich so einen stechenden Schmerz, daß ich hätte schreien mögen. Der mich untersuchende Arzt stellte „Osteoporose“ (Knochenerweichung) fest — die typische Theresienstädter Krankheit; sie wurde dort auch „Avitaminose“ (Vitaminarmut) genannt. Diese Krankheit, die langwierig ist, meistens mehrere Wochen dauert, nahm mich seelisch sehr mit. Ich dachte bei mir: Nun hat mich mein Gott so lange durch­getragen, und nun soll ich doch noch in Theresienstadt elend zugrunde gehen! (Es ist einem dabei so zumute, als wenn man nie wieder seine Glieder bewegen könnte.) Was würden meine Kinder sagen, wenn ich trotz ihrer großangelegten Hilfe, trotz des Vielen, was sie sich vom Munde abgespart hatten, nun doch nicht bei denen sein würde, die die Heimat wieder­sahen? Und das so kurz vor Toresschluß! Bei Kriegsende! Es war eine schreckliche Prüfung für mich … Es bedurfte meiner ganzen Energie und Glaubenskraft, um darüber hinwegzukom­men. Da habe ich manche Stunde in Schwäche und Verzagtheit verbracht und habe gefragt: „Warum, mein Gott?“ Aber — der Herr hat mir auch hier durchgeholfen und meinen Klein­glauben beschämt. Ein Vitaminmedikament hat schließlich Wunder an mir getan: Nach einigen Wochen konnte ich wieder normal laufen und auch wieder meine Arbeit tun und durfte mich mit den anderen auf die Heimreise freuen.

Die letzten Wochen in Theresienstadt

Danach hörten wir, der Krieg sei bestimmt zu Ende. Aber Schießereien und Luftangriffe hatten noch immer nicht aufge­hört. Die Leute sagten, es seien Kämpfe um die „Widerstands­nester“ in der Tschechei. So hatten wir eines Morgens einen furchtbaren Luftangriff. Wir dachten, er hätte in Theresien­stadt stattgefunden; denn die Häuser erbebten alle in ihren Grundfesten. Ich war gerade bei einer befreundeten Dame, als ich dort davon überrascht wurde. Wir fürchteten, das Haus fiele ein, und wir hielten uns gegenseitig fest. Als es vorüber war, erfuhren wir, es sei in Leitmeritz gewesen, der nächsten Kreisstadt. Dort haben die Deutschen sich furchtbar gewehrt; sie wollten durchaus das Feld behalten und mußten ihr Unter­fangen mit viel Blut, das unnütz floß, bezahlen. Ebenso haben sie es in Prag gemacht. Die SS hat dort in den letzten Tagen und Stunden furchtbare Zerstörungen an geschichtlichen Stät­ten und Kunststätten angerichtet, was die Empörung der Tsche­chen in höchstem Maße herausforderte. Es soll an den Deut sehen als Vergeltung ein entsetzliches Blutbad angerichtet worden sein. Wie sinnlos waren doch diese letzten Zuckungen, diese letzten Widerstände, als der Ausgang schon deutlich war und an den Tatsachen nichts mehr geändert werden konnte!

Nach dem endgültigen Ende des Krieges kam sofort Rundfunk nach Theresienstadt, und zwar an viele Stellen, wodurch wir über die weiteren Tagesereignisse und über die Lage in Deutschland gut unterrichtet wurden. So hörten wir mit Spannung, wie von diesen Gewaltigen, die die Welt 6 Jahre in Atem gehalten hatten, einer nach dem anderen gefangengenommen wurde. Schon vor dem offiziellen Kriegsende hatten sich viele auf den Heimweg gemacht. Die Tschechen natürlich zuerst. Es wurden dazu alle möglichen Beförderungsmittel gemietet, meist gegen Phantasiesummen, um nur aus dem verhaßten Theresien­stadt herauszukommen. So sah man überall vor den Häusern Menschen mit aufgestapeltem Gepäck stehen, die auf irgend­eine Fahrgelegenheit warteten. Weiterhin traf man auf Last­wagen aller Art (auch zweiter und dritter Güte), die jubelnde Menschen hinausfuhren. Diese saßen nicht in den Wagen, nein, sie standen dichtgedrängt, aneinandergeschmiegt. Alles war bis oben beladen, nein überladen; aber die Parole hieß eben für alle: Nur so bald wie möglich fort! Wir hörten dann auch von Unfällen, zusammengebrochenen Wagen u. dgl.; doch niemand ließ sich davon abschrecken. „Nur fort!“ hieß es immer wieder. „Wir werden schon irgendwie durchkommen.“

Ein buntes Bild boten jetzt die Straßen Theresienstadts. Eine fiebernde, wimmelnde Menschenmenge drängte sich an jedes noch irgendwie verwendbare Rollmaterial. Die Leute schenkten den Kutschern und Chauffeuren ihre eingehandelten goldenen Uhren, ihren letzten Schmuck, den sie bis dahin bewahrt und gehütet hatten, nur um fortzukommen. Sie ließen sich von nichts zurückschrecken, auch nicht von Hungernachrichten, die von überall kamen. „Lieber zu Hause verhungern als hier gut leben!“ hieß es. (Die letzte Zeit, als die Deutschen endlich fort waren, hatten wir in Hülle und Fülle zu essen. Das Brot moch­ten nicht einmal mehr die Pferde; in solchen Mengen wurde es ausgegeben.) Nur keinen Tag länger als durchaus nötig! — das dachten sie alle und handelten danach.

Es wurden Büros eingerichtet, die sich nur mit dem Rücktrans­port befaßten, für die Deutschen, die Tschechen, Rumänen, Österreicher, Polen usw. Jedes Büro betreute seine Landsleute und gab Direktiven für die Heimfahrt. Es wurden zu diesem Zweck u. a. öffentliche Versammlungen abgehalten, in denen die Leute über die Aussichten und Möglichkeiten des Rück­transportes unterrichtet wurden. Die Leitung hatte sich den Rücktransport ursprünglich durch die Bahn gedacht; aber es erwies sich bald, daß kein Zugmaterial zur Verfügung stand und daß, was noch schlimmer war, die Verbindungen und An­schlüsse zerstört waren. Wir erfuhren nach und nach durch den Rundfunk, daß Brücken gesprengt, Schienen zerstört und Tele­fonleitungen zerrissen waren, kurzum, daß einem Abtransport nach Deutschland alle möglichen Hindernisse im Wege lagen. Nun wurde von einigen die Parole ausgegeben: „Sauve qui peut!“ Welch ein Wirrwar dadurch entstand, kann man sich leicht vorstellen. Zudem hatte man seit Monaten nichts von seinen Angehörigen gehört. Die letzten Nachrichten stammten vom Dezember; denn was danach hereinkam, hatte die SS vernichtet. Wochenlang waren auf der Kommandantur Karten verbrannt wurden, die von uns geschrieben oder an uns ein­gegangen waren. Das haben die dort reinmachenden Frauen sel­ber gesehen. Wußte also jetzt noch jemand von uns, ob er seine Angehörigen überhaupt vorfand? Ob er noch ein Dach über dem Haupt haben würde? Das war fürwahr der letzte Triumph der deutschen Besatzung in Theresienstadt, daß sie uns und unsere Angehörigen daheim ohne Nachricht ließen — und das vier Monate lang! Was konnte in der letzten bewegten Zeit alles geschehen sein! Welche Seelenqualen, welche Ängste und Nöte bemächtigten sich unser! Es wurden die waghalsigsten Sachen gemacht, um ja hier herauszukommen. Wie es weiter­gehen würde, wurde gar nicht überlegt. „Nur heraus aus There­sienstadt!“ sagte sich jeder.

So versuchten manche mit irgendeinem Fahrzeug wenigstens bis an die deutsche Grenze zu gelangen. „Wenn wir erst in Bodenbach sind, werden wir schon weiterkommen“, so mein­ten sie, und sie verrechneten sich dabei gründlich. Es wimmelte unterwegs von Theresienstädter Flüchtlingen, die nicht weiter­konnten oder erst nach Tagen des Hungers und der Mühseligkeiten bis nach Dresden gelangten, wo sie dann aus Mangel an Verbindungsmöglichkeiten liegenblieben. So erzählte uns ein junges Mädchen, das später in unserem Autobus die Heimfahrt mitmachte, sie sei schon vor Wochen von Theresienstadt fortgegangen, sei bis Dresden gelangt und dann, da sie dort absolut nicht weiterkonnte, nach unsäglichen Strapazen wieder zurück nach Theresienstadt gekommen. Sie war heilfroh, die Zinnen des nun „friedlichen und gastlichen“ Theresienstadt wieder zu erblicken — nach all dem, was sie auf ihrer Flucht hatte durch­machen müssen … Ich bin heute noch Gott dankbar, daß er mich vor solchen Abenteuerfahrten bewahrt hat; bei meinem Körperzustand hätte ich das gar nicht überstanden. Denn — wie man später hörte, sollen sich überdies gräßliche Szenen abge­spielt haben, besonders unter denen, die da glaubten, dem Ziele der Heimkehr ganz nahegerückt zu sein, und die dann die traurige Feststellung machen mußten, daß sie Betrügern zum Opfer gefallen waren, Leuten, die ihnen für viel Geld und Gut alles Mögliche vorgegaukelt hatten, um sie dann auf offener Straße hoffnungslos sitzenzulassen!

Um die allgemeine Erregung und die bis aufs höchste gestie­gene Ungeduld der Lagerinsassen zu besänftigen, ließ der Vor­sitzende der deutschen Organisation seine Landsleute zusam­menkommen, um ihnen die unendlichen Schwierigkeiten, vor denen gerade die Deutschen standen, auseinanderzusetzen. Er teilte dabei mit, er sei deswegen schon in Prag gewesen, wo er jedoch manches Unangenehme und Widrige habe einstecken müssen. Es sei ihm zwar gelungen, zu verhandeln, aber ergeb­nislos; die Tschechen wollten keine Züge nach Deutschland zur Verfügung stellen. Auch sei es sehr schwierig, mit Deutschland in Verbindung zu treten, weil es dieses als „Ganzes“, mit dem man Verhandlungen hätte führen können, inzwischen über­haupt nicht mehr gab. In Rumänien, Ungarn, Polen, Öster­reich usw. gab es bevollmächtigte Regierungen; in Deutschland fehlte jetzt eine solche Zentralstelle, es gab nur einzelne Ge­meinden, die man anrufen konnte, bestenfalls Provinzstellen. Wie „ermunternd“ diese Aus­führungen auf uns wirkten, kann sich jeder vorstellen, der bedenkt, welch brennendes Verlan­gen man hatte, endlich mit den Seinen in Verbindung zu kom­men. (Daß die Tschechen nichts mit Deutschland zu tun haben wollten, darüber brauchte man sich nicht zu wundem; nach all den dort verübten Grausamkeiten war das sehr erklärlich.) Aber — kindliche Liebe ist erfinderisch. So kamen in der Hei­mat viele auf den Gedanken, ihre Angehörigen selbst zu holen. Eines Tages, noch vor Morgengrauen, kam ein junger Mann aus Plauen mit seinem Motorrad, todmüde von der langen nächtlichen Fahrt, um nach seiner Mutter zu suchen. Er fand sie auf einem Boden einquartiert, und Augenzeugen erzählten unter Tränen von dem ersten Treffen von Mutter und Sohn, von dieser leidenschaftlichen ersten Begrüßung … Dieser junge Mann wurde natürlich belagert und ausgefragt: Wie es in Deutschland aussähe und vor allen Dingen, wann Züge kämen, uns abzuholen. Über diesen letzten Punkt, das Ziel unserer brennenden Sehnsucht, konnten wir leider keine günstige In­formation bekommen. Im Gegenteil — er riet uns, dafür zu sorgen, „irgendwie“ nach Hause zu kommen; denn eine plan­volle Verständigung hierüber sei wegen des Fehlens jeglicher Verbindungsmöglichkeit praktisch unmöglich. Wir konnten uns das kaum vorstellen, mußten es aber glauben und waren ver­ständlicherweise sehr betrübt darüber.

Nach und nach sah man vor der Magdeburger Kaserne, dem Verwaltungsgebäude, noch andere Fahrzeuge stehen, deren In­haber auf der Suche nach ihren Angehörigen waren. Ihre Auf­schrift „Military Government“ berührte einen fast heimatlich; waren doch Engländer und Amerikaner nicht unsere „Feind­mächte“, sondern unsere Freunde und Befreier! Im übrigen war natürlich tagtäglich alles auf den Beinen, um Fahrgelegen­heiten ausfindig zu machen. Es kamen indessen hauptsächlich immer mehr Personenwagen, um Angehörige und Freunde der Besitzer zu holen. Wie trostlos und verzagt war man da, wenn niemand erschien! — daß mei­ne Kinder nicht auftauchen, konnte ich einfach nicht begreifen, auch meine Freunde nicht, die auch wußten mit welcher rührenden Liebe und Opferbereitschaft sie mich versorgt hatten. Das gab mir zu den schlimmsten Be­fürchtungen Anlaß. Sollte … Ich wagte den Gedanken kaum auszudenken; denn tief in meinem Inneren lebte doch die Hoff­nung, ja Gewißheit, daß meine Kinder lebten. In schlaflosen, kummervollen Nächten hatte ich mich zu dieser Gewißheit durchgerungen. Und wenn aller Anschein dagegen sprach, wenn mein Verstand mir auch oft etwas anderes vorgaukeln wollte, ich blieb dabei. Doch schwer war es. Der Verstand sagte: „War­um kommen sie nicht? Sie haben doch 2 Wagen, und dein punge fährt doch selber. Auch habt ihr andere, die fahren können. Wie soll das zugehen, daß gerade ich nicht geholt werde?“ Aber — ich blieb immer wieder bei meiner Gewißheit: sie leben. Alles andere war ja gleichgültig; ob Wohnhaus und Fabrik noch standen war ganz sekundärer Natur. Wenn nur die Kinder da waren! Ich würde ihnen schon helfen, in unserem Gartenhäuschen eine vorläufige Blei­be herzurichten. Hatte ich es ja in Theresienstadt gelernt, auf engstem Raum zu leben und zu existieren! Vielleicht mußte ich dahin, um mir dort diese Kenntnisse für meine Kinder anzueignen … Solcher Natur waren meine Reflexionen, wenn mich die Verzagtheit, ja die Verzweiflung packen wollte. Jeden Tag mußte ich den Kampf gegen mich selbst aufnehmen, und es bedurfte all meines Glau­bens und des Anklammerns an göttliche Verheißungen, um nicht zu versinken.

Dazu kamen noch andere Nöte: Wie bereits vorher erwähnt, hatte ich im November 1944 die Stelle einer Betreuerin im Blin­denheim angenommen. Anfangs ging alles gut; die Oberschwe­ster versicherte mir unaufgefordert ihre Zufriedenheit mit mei­ner Arbeit. Aber ein unglücklicher Umstand wollte es, daß sie sich eines Tages in ihrer natürlichen Eitelkeit verletzt fühlte und, da sie nach ihrer Veranlagung so etwas nicht vergeben konnte, sich seitdem bemühte, mir Schwierigkeiten zu bereiten. Meine Pfleglinge wunderten sich, daß ich solche Ungerechtig­keiten und Ungehörigkeiten widerspruchslos einsteckte. Der Grund hierfür war aber: ich woll­te aushalten! Auch diese letzte Schule wollte ich auf mich nehmen, um mich ja zu bewähren und würdig gefunden zu werden, meine heißgeliebten Kinder wiederzusehen.

Und Gott hat sich zu mir bekannt. Ich durfte alles wiederfinden, wie ich es vor anderthalb Jahren verlassen hatte!

Eines Morgens nun kam einer meiner Blinden und erzählte mir, er hätte im Waschraum gehört, ein Thüringer Autobus wäre da, um die Thüringer zu holen. Ich beendete meine Arbeit im schnellsten Tempo und begab mich zu den „Magdeburgern“. Richtig — da stand ein Autobus aus Jena! Nach Rücksprache mit der Leiterin des Transportes stellte sich indessen heraus, daß man nur ganz wenig Gepäck mitnehmen konnte, weil bei der großen Zahl der Beteiligten nicht viel Raum dafür zur Ver­fügung stand; ich hätte also die meisten Sachen dort lassen müssen. Die Jenaer meinten, ich sollte das ruhig tun; wir wür­den bei unserer Rückkehr mit allem ausgestattet werden. Daß dies ein Trugschluß war, mußten die Mitfahrenden bei ihrer Heimkehr erfahren, und ich war später froh, daß ich mich fürs Bleiben entschieden hatte. Und wie gut war das auch sonst! Eine innere Stimme sagte mir, nicht mitzufahren. Wäre ich damals mitgekommen, so wäre ich nämlich in Jena hängen­geblieben und hätte vielleicht erst nach Tagen unter unsäg­lichen Mühen heimkommen können. So hat Gottes Güte mich davor bewahrt und mir später einen besseren Weg gezeigt.

Gottes Engel

Daß Gott oft Engel in Menschengestalt benutzt, um uns dienst­bar zu sein, wird jeder erfahren haben, der auf Gottes Fuß­spuren achtet. Bei meiner Heimreise mußte ich dies buchstäb­lich erleben … Nachdem der Jenaer Wagen mich nicht mitge­nommen hatte, ging das Reisepläneschmieden von neuem los. Darüber vergingen wieder drei Wochen, aber obwohl die Sehn­sucht nach meinen Kindern schier übermächtig wurde, habe ich meinen Entschluß, den Jenaer Autobus ausgeschlagen zu haben, doch nicht bereut. Ich war in meinem Inneren ruhig. Ich hatte die Gewißheit, das Richtige getan zu haben.

Da kam eines Nachmittags eine mir sehr nahestehende Dame und erzählte mir, sie hätte soe­ben einen Plauener Autobus daste­hen sehen. Ich machte mich sofort auf den Weg und verhandelte gleich mit dem Fahrer. Dieser meinte, es wäre noch Platz vorhanden, und ich könnte mit meiner Greizer Kameradin mit­kommen. Alsbald, am gleichen Nachmittag, fing ich an, die vor­geschriebenen Formalitäten zu erfüllen. Dazu gehörte folgendes: eine ärztliche Untersuchung, sowie die Bestätigung des Hausältesten, daß in meinem Zimmer kein Typhusfall in den letzten 14 Tagen vorgekommen war. Die laufende Eßkarte mußte auf einem hierfür eingerichteten Büro ausgehändigt werden. Mit der Bescheinigung hierüber hatte man sich auf dem Ausreise­büro eine Ausreisegenehmigung zu beschaffen, eine rote Karte, die dann auf der Kommandantur abgestempelt wurde. — Meine voraufgegangenen Enttäuschungen und mein vergebliches War­ten hatten mich aber in einen so erregten Seelenzustand ver­setzt, daß ich trotz alledem immer noch meinte, es könnte sich im letzten Augenblick zerschlagen, obwohl die „rote Karte“ Ga­rantie für meine Abreise war. Ich ging deshalb wieder auf das Reisebüro und sprach nochmals mit dem Leiter des Transportes wie mit der zuständigen Behörde, mich ja nicht im Stich zu las­sen. Erst auf die neuerliche Zusicherung, daß alles richtig ab­liefe, wurde ich ruhig und glaubte an meine Abreise. Meine Sachen waren ja schon seit der beabsichtigten Jenaer Fahrt ge­packt; ich hatte nur das Allernotwendigste draußen gelassen. Natürlich brachte ich eine schlaflose Nacht zu. Bei Morgengrauen packte ich mein Bettzeug und den letzten Rest meiner Habselig­keiten und brachte alles mit Hilfe eines meiner Blinden an den Bus. Als ich drin saß — natürlich viele Stunden vor der fest­gesetzten Abfahrt — war ich endgültig sicher, daß ich mich auf der Heimreise befand. Meine Kameradin und ich sahen uns fast ungläubig an und fragten uns mit den Augen: „Ist es wirklich so weit?“ Ja — es war so weit. Welche Gedanken und Gefühle bestürmten mich! Wie hatte Gott doch alles so herrlich hinausgeführt! Ich hatte glücklich alle meine Krankheiten und alle die beabsichtigten Demütigungen ohne körperlichen und seelischen Dauerschaden überstanden und war nun tatsächlich auf der Heimfahrt. Die Wochen und Monate ungewissen und langen Wartens lagen hinter mir. Dem Tode, der so nahe war, noch vor Toresschluß bin ich entgangen … Und nun saß ich im Autobus. Nun sprang der Motor an, nun setzte er sich in Bewegung. „Wir sind in voller Fahrt — heimwärts!“ Welch be­glückendes Gefühl! Frei von Angst und Hunger und Ungeziefer und quälenden Menschen: welch herrliches Gefühl! Seit andert­halb Jahren, nein, seit über 12 Jahren endlich wieder frei! Kein Untermensch, kein diffamierter, kein gedrückter, bewachter, kein geknebelter, sondern ein wirklicher Mensch wie andere Menschen! Ich durfte frei kaufen und verkaufen; brauchte mich nicht mit jedem Wort vor Spitzeln und Häschern in acht zu nehmen. „Ist das überhaupt Wirklichkeit? Hat es denn schon früher so etwas gegeben? Und ist das jetzt wieder so?“ Kaum glaubhaft. Alles mutete mich an wie ein schöner Traum. Ach, wie oft war ich in den anderthalb Jahren im Traum daheim, habe meine Kinder um mich gehabt, habe sie befühlt und … O weh, wenn ich wach wurde, war alles nur ein Traum gewesen, und ich steckte immer noch in dem Unerträglichen in Theresien­stadt, in seinen tausend Nöten und Ärgernissen! „Sollte es jetzt wirklich anders sein? Werde ich nicht wieder zur grauen Wirk­lichkeit, dem ewigen Dahintrotten ohne Zweck und Ziel er­wachen? Oder werde ich jetzt wieder einen echten Wirkungs­kreis bekommen? Eine Arbeit, die mich befriedigt, das Sorgen und Schaffen für meine Kinder —?“

Unterwegs hatten wir noch manche Überraschung. So konnten wir bei Chemnitz nicht weiter, weil die Amerikaner das Gebiet inzwischen an die Russen abgetreten hatten, so daß wir ein Stück Weges zurückfahren mußten. Dadurch wurde es später, und wir mußten unterwegs im Autobus übernachten. Erst am nächsten Morgen konnten wir weiter. Nach einer halben Stun­de Fahrt war dann endlich das Ziel erreicht … Wie erwartungsvoll besah ich mir die Gegend! Die Stadt! Es war fast nichts zerstört. Gott hatte seine gnädige Hand darüber gehalten, wie ich ihn oft darum angefleht hatte. In unmittelbarer Nähe unserer Fabrik waren zwei Fabriken durch Artilleriebeschuß arg beschädigt worden; über unserem Grundstück aber hatte Er seine allmächtigen Flügel schützend gebreitet. Ach, wie oft hatte ich auf meinem Lager zu meinem Herrn geschrien, die Schwelle und die Pfosten mit Seinem Blut zu bestreichen. Und wie treu war Er! Wie konnte ich loben und danken, danken und loben! Beide Kinder am Leben und der Besitz einigermaßen erhalten, wenn auch stark verwahrlost während der Abwesenheit meines Soh­nes! Aber — was sind äußere Verluste in Anbetracht dessen, was andere hergeben mußten! (Total ausgebombt, als Flücht­ling im fremden Ort.) Mein Sohn hatte sich in seiner Schnellig­keit schon auf Friedensproduktion umgestellt. Ob mit Gewinn oder Verlust gearbeitet wurde, war fürs erste gleichgültig. Die Hauptsache war: der Betrieb lief, und die große Mehrheit unse­rer Leute hatte wieder ihr Brot. Meine Kinder waren zwar kör­perlich und seelisch ziemlich mitgenommen; aber sie erholten sich nach und nach wieder, nicht zuletzt durch die Freude der Wiedervereinigung.

Warum sie mich nicht geholt hatten? Ja, das war ihr großer Kummer. Sie hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, das zu tun, und waren fast verzweifelt darüber gewesen, daß der Ortskommandant die Ausreisegenehmigung für unseren Wa­gen absolut nicht erteilen wollte …

Schlußgedanken

Schon an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang habe ich aufzuweisen versucht, wie verschieden die Juden in ihrer äußeren und inneren Art waren, je nachdem welchem Lande sie entstammten — so verschieden, daß man Mühe hat, sie als ein Volk anzusprechen. Ihrer Denkungsart und ihrer inneren Hal­tung nach waren sie eben Glieder ihrer Wirtsvölker; sie nannten sich auch nach diesen. Besonders stark trat dies Moment bei den Tschechen hervor. So teilten sie auch die Abneigung der arischen Tschechen gegen die Deutschen — kein Wunder nach all dem Vorgefallenen der letzten 12 Jahre des Naziregimes! Im großen und ganzen waren sie aber nicht haßerfüllt und rach­süchtig, trotz allen schweren Erlebens. — In einem Punkt waren wir Juden uns allerdings alle einig: Wir konnten es nicht fassen, daß Hitler im deutschen Vol­ke so hatte Fuß fas­sen können, und noch weniger, daß ihm seine Generale bis zuletzt die Treue hielten, obwohl sie zweierlei wußten: einmal, daß dieser Krieg seit Stalingrad unfehlbar verloren war, zum anderen, daß sie diese unerhörten Verbrechen in diesem teuf­lischen Krieg indirekt mitmachten.

Wir versuchten, den Ursachen dieses Rätsels nachzuspüren, und kamen zu dem Schluß, daß es im deutschen Charakter, noch mehr aber in der Erziehung der Deutschen begründet sein muß­te. Tatsache ist, daß die Deutschen den Krieg wohl nicht so verabscheuen wie andere Kulturvölker, die Franzosen etwa oder die Engländer. Wer mit diesen Völkern zu tun hatte, weiß, wie sehr sie den Krieg fürchten und lieber allerlei einstecken, als zu diesem barbarischen Entscheidungsmittel zu greifen. Ich muß dabei unwillkürlich an meine letzte Frankreichreise im Jahre 1932 denken, die ich mit meinem Manne gemeinsam machte. Unsere Geschäftspartner nahmen uns dort immer freundlich auf und beteuerten bei jeder Gelegenheit ihren Frie­dens­willen. Ein lieber alter Kunde in Lyon konnte sich darin nicht genug tun. Beim Abschied schärfte er uns noch nachdrück­lich ein: „Dites en Allemagne, que nous autres, nous ne vou­lons pas la guerre. Nous voulons nous entendre avec vous et désirons traiter des affaires avec vous. Malheuresement les Allemends sont un peuple guerrier.“ Dieser brave Mann hat, glaube ich, den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Deutschen sind von Natur kriegerisch und finden es „heldisch“, auf dem Felde der Ehre zu fallen. Das liegt aber auch an der Erziehung in den Schulen. Die Jugend wurde durch den Geschichtsunter­richt mehr oder weniger für den Krieg begeistert; wenigstens wurde die Kehrseite der Medaille, das Elend der entsetzlichen Folgeerscheinungen, verschwiegen. Die Vaterslandsliebe wurde, überspitzt und übersteigert, fast zur Religion erhoben — eine Folge der unglückseligen Verkoppelung von „Thron“ und „Altar“. Die Gefolgschaft für den jeweiligen Herrscher war eine ernste Gewissens- und beinahe Glaubenssache.

Nur so kann man es überhaupt verstehen, daß viele ernste Christen zu Hitlers Untaten ja sagten und sich geradezu zu versündigen glaubten, wenn sie nicht hinter ihrem „Führer“‘ standen. Und das ist eben die deutsche Schuld! Und wenn sie zehnmal aus Veranlagung und Erziehung herzuleiten ist, — diese Schuld ist da und bleibt Schuld! Pfarrer Niemöller hat es ganz richtig erkannt, wenn er erklärte: „Wenn die Deutschen ihre Schuld nicht ‚anfassen‘, d. h. sie nicht zugeben und be­kennen, so bleibt die Schuld auf dem Volke liegen und kann von Gott und Menschen nicht vergeben werden.“ Aber, aber — wieviel Widerspruch und Anfeindungen mußte sich dieser ein­zigartige Mann von seinen Volksgenossen gefallen lassen! Es ist schon so, wie die Siegermächte sagen: Es muß eine ganze Generation vergehen, ehe das deutsche Volk umlernt. Das Volk als ganzes! Ausnahmen sind Gott sei dank genug vorhanden. Man denke bloß an viele führende Männer der evangelischen und katholischen Kirche in Vergangenheit und Gegenwart! Die­se haben Herrliches geleistet und tun es auch heute noch. Und wenn die Kirchen der übrigen Welt ihre Bruderhand jetzt nach Deutschland hinüberstrecken, dann ist es diesen klarsehenden und christlich handelnden Männern mit zu verdanken, daß das deutsche Volk endlich zur Einsicht kommt.

Es ist schon so: Die große Masse muß umlernen, umdenken. Erst dann können die Menschen sich in die neue Zeit und die neuen Verhältnisse hineinfinden. Die Kirche und die Schule haben da wichtige Erziehungsarbeit zu leisten. Es muß jetzt in der Schule heißen, wie damals schon bei der Taufe des Merowingerkönigs: „Bete an, was du zerstört hast, und zerstöre, was du angebetet hast.“ Das heißt hier heute: „Achte die anderen Völker und Rassen als dir gleich und überhebe dich nicht über sie! Dann kommst du in ein richtiges Verhältnis zu ihnen.“ Die Legende von der „Herrenrasse“ muß endgültig zu Grabe getragen werden, wenn der neue deutsche Mensch entstehen soll; ebenso die vom „deutschen Wesen“, an dem „die Welt ge­nesen“ soll. Es muß da viel, sehr viel Schutt an Selbstüber­hebung und Selbstbeweihräucherung abgetragen werden, ehe der Neuaufbau Deutschlands wirklich erfolgreich beginnen kann — und zwar von den Deutschen selbst, nicht von den „Feindbundmächten“. Aus echter innerer Erkenntnis muß das herauswachsen; nur dann kann es fruchtbringend sein. Äußere Zwangsmaßnahmen sind nicht wirksam, zeitigen oft sogar das Gegenteil, weil sie Märtyrer schaffen. In den Hirnen und Her­zen der Deutschen selbst muß der Umschwung erfolgen, und dabei muß das Steuer ganz herumgeworfen werden! Dabei läßt man freilich Haare; es ist aber eine heilsame Operation. „Per aspera ad astral“ heißt es auch hier. Dann, aber nur dann wird der Sturz in die Tiefe, werden die vielen Opfer an Gut und Blut nicht vergeblich gewesen sein —: „Es war mir zum Heil, er riß mich nach oben.“

Gott schenke uns einen gesegneten Wiederanfang und Wiederaufstieg!

Hier der Text als pdf.

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