Über die Spiritualität der Tränen: „Se­lig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. In dieser Form öffnet sich vielleicht neu der Zugang zur al­ten Weisheit vom Wert des Weinens.“ (Gottfried Griesl)

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Dass Tränen durchaus ein geistliches Thema sein können, zeigt folgender Artikel aus dem (vergriffenen) Praktischen Lexikon der Spiritualität:

Tränen

Von Gottfried Griesl

In der asketischen Tradition fällt die unverhältnismäßig große Bedeutung auf, die man der „Tränengabe“ bis zum Hochmittelalter beimaß, so daß die „petitio lacrimarum“ vor anderen Charismen in das Missale Romanum Aufnahme fand. Bekannt ist die Rolle und Wertung dieser Gabe bei Ignatius von Loyola. In seinem geistlichen Ta­gebuch erwähnt er vom 2. Februar bis 12. März 1544 allein 165 Tränenausbrüche, und in den letzten neun Mona­ten beschränkt er sich überhaupt nur mehr auf den täglichen Vermerk der Tränen oder „keine Tränen“. In späte­ren Jahren gesteht Ignatius einem Ver­trauten, er habe sich früher für unge­tröstet gehalten, wenn er nicht dreimal während der Messe weinen konnte. Der Arzt habe ihn dann angewiesen, nicht zu weinen, und er habe sich aus Gehorsam gefügt. An einigen Stellen zeigt der Heilige wohl einige Zurück­haltung gegenüber dem Weinen, doch hat er die Tränen offensichtlich immer als einen Gradmesser besonderer Gnadenerweise geschätzt. Das Weinen kann aber nicht nur durch starke Af­fekte (Trauer, Seligkeit, Zorn), son­dern auch durch phy­sische Reize (Kälte, Tränengas, Zwiebeln) hervor­gerufen werden. Insofern kommt den Tränen an sich kein spiritueller Stel­lenwert zu, sondern nur den ethischen, religiösen und mystischen Inhalten, von denen der Weinende ergriffen ist. Die Bibel stellt den leidenden Men­schen dar, der sich von Tränenbrot nährt (Ps 80,6), ohne einen Tröster zu finden (Koh 4,1), und deckt die tiefste Ursache des Leidens auf, den Abfall von Gott. In den Klageliedern rufen die Pro­pheten zur Buße auf, die das Mitleid Gottes beschwört: „Herr, sammle meine Tränen in die­nem Krug“ (Ps 56,9). Jesus selber legiti­miert irdische Trauertränen durch [1291] seine Er­schüt­terung am Grab des Freundes (Joh 11,33-38). „Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte“ (Hebr 5,7). Alle Trä­nen der Menschheit sind in dieses Ge­bet aufgenommen, und er ist erhört worden. In der Gewißheit der Aufer­stehung schenkt Jesus seinen Erlösten seine eigene Freude (Joh 17,13; 20,20). „Gott wird jede Träne von ihren Au­gen abwischen“ (Offb 7,17; 21,4).

Wenn auch Tränen Ausdruck von Freude und Glück sein können, so ist hier doch zunächst an negative Affekte zu denken („Weinen“ leitet sich von Weh ab): Reue über das eigene Versa­gen, Schmerz über die Sünde der Welt, Mitleiden mit dem Erlöser und seiner Mutter. In einer säkularisierten Lei­stungsgesellschaft kann daher wenig Verständnis für diese Gabe erwartet werden; dazu kommt die Erfahrung mit ihrer krankhaften Perversion: Trä­nen als Zeichen von Wehleidigkeit, Selbstmitleid, mangelndem Lebens­willen, als Waffe einer infantilen Fixie­rung oder eines hysterischen Charak­ters, der von Mitmenschen Leistungen erpreßt, die er ihnen selbst versagt. Trotzdem kommt der Fähigkeit zu wei­nen gerade aktuell wieder Bedeutung für die personale Entfaltung des Men­schen zu. Die Leistungsideologie führt zu einem mitleidlo­sen „Kampf ums Dasein“, auf den schon eine verbrei­tete Fehlerziehung vorbereitet („ein Bub weint nicht“). Trauer und Schmerz dürfen und können dann nicht mehr emotional mitgeteilt wer­den. Gemütswerte, die in der Spiritua­lität tragen sollen, kommen zu kurz. Auf die Ver­drängung angewiesen, weicht schon das Kind auf neurotische Störungen aus.

Wir unterscheiden also zwei Gestalten des Weinens: die eine als Re-aktion, unbewußt-trieb­haft begründet und ab­laufend; die andere als Ausdruck einer inneren Erschütterung, hervorge­rufen durch eine kathartische Einsicht und [1292] hinzielend auf eine personale Umstel­lung. Auch hier steht eine Negation im Vordergrund, aber im dialektischen Sinn: das Nein gilt nicht dem Leben, sondern seiner Störung; es steht im Dienst des Ja zu einem neuen Lebenszusam­menhang, das den Abschied von einem bisherigen unhaltbaren System ermöglicht und not­wendig macht.

Diese anthropologische Unterschei­dung deckt sich auffällig mit der theo­logischen in 2 Kor 7,10: „Die gottge­wollte Traurigkeit verursacht nämlich Sinnesänderung zum Heil, die nicht bereut zu werden braucht; die weltli­che Traurigkeit aber führt zum Tod.“ Unüberbietbar for­muliert Lukas 6,21 die Worte Jesu an die Weinenden: „Se­lig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“ In dieser Form öffnet sich vielleicht neu der Zugang zur al­ten Weisheit vom Wert des Weinens.

LITERATUR: I. Hausherr, Penthos (Regensburg 1944); Ignatius von Loyola, Das geistliche Tagebuch, hrsg. von A. Haas u. P. Knauer (Freiburg 1961); F. Marxer, Die inneren geistlichen Sinne (Freiburg 1964).

Quelle: Christian Schütz (Hg.), Praktisches Lexikon de Spiritualität, Freiburg 1992, Sp. 1290-1292.

Hier der Text als pdf.

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