
Gerechtigkeit wird mittels Adjektive unterschiedlich durchdekliniert, wenn von austeilender bzw. distributiver, formaler, sozialer, kommutativer oder ausgleichender Gerechtigkeit die Rede ist. Eine Unterscheidung verdient für Christen eine besondere Beachtung, die zwischen retributiver (vergeltender) und restaurativer (wiederherstellender) Gerechtigkeit. Diese Unterscheidung ist von mennonitischer Seite, insbesondere von Howard Zehr ausgearbeitet worden. Und sie, die restorative justice, ist es, die auf das Evangelium hinweist. Denn die göttliche Gerechtigkeit, von der in Römer 3,21-28 die Rede ist, nimmt sich ja im Sühnetod Christi dem Sünder „restaurativ“ bzw. versöhnlich an und erweist sich darin als wirkliche „Gemeinschaftstreue“ (Gerhard von Rad). Das höchst lesenswerte Buch von Howard Zehr, Fairsöhnt. Restaurative Gerechtigkeit – Wie Opfer und Täter heil werden können (Schwarzenfeld: Neufeld Verlag 2010) entfaltet, was eine restaurative Gerechtigkeit für die Strafjustiz bedeuten kann. Im Buchanhang findet sich folgende thetische Zusammenfassung:
Grundlegende Prinzipien der restaurativen Gerechtigkeit
Von Howard Zehr und Harry Mika
1.0 Verbrechen sind grundsätzlich eine Verletzung von Menschen und von zwischenmenschlichen Beziehungen.
1.1 Opfer und die Gemeinschaft sind geschädigt worden und benötigen Wiederherstellung.
1.1.1 Die primären Opfer sind die unmittelbar von einer Straftat Betroffenen, doch gehören dazu zum Beispiel auch Familienmitglieder der Opfer und Täter, Zeugen und Mitglieder der beeinträchtigten Gemeinschaft.
1.1.2 Die durch das Verbrechen beeinträchtigten (und entstandenen) Beziehungen müssen angesprochen werden.
1.1.3 Wiederherstellung erwächst aus kontinuierlichen ineinander greifenden Reaktionen auf die ganze Bandbreite der Bedürfnisse und Schäden, die Opfer, Täter und die Gemeinschaft erfahren haben.
1.2 Opfer, Täter und die beeinträchtigte Gemeinschaft sind die wichtigsten Interessenvertreter im Rechtsverfahren.
1.2.1 Ein Prozess der restaurativen Gerechtigkeit erweitert den Einfluss und die Beteiligung dieser Parteien – besonders die der primären Opfer wie auch der Täter – bei ihrer Suche nach Wiederherstellung, Heilung, Verantwortung und Prävention.
1.2.2 Je nach Art des Verbrechens werden die Rollenfunktionen dieser Parteien unterschiedlich sein, ebenso ihre Belastbarkeit und Präferenzen.
1.2.3 Der Staat hat genau definierte Rollenfunktionen, zum Beispiel die Untersuchung der Fakten als Voraussetzung für den Prozess, doch der Staat ist nicht in erster Linie Opfer.
2.0 Verletzungen schaffen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten.
2.1 Täter sind verpflichtet, die Dinge so weit wie möglich wiedergutzumachen.
2.1.1 Da die Verpflichtung zuerst gegenüber den Opfern besteht, stärkt ein Prozess der restaurativen Gerechtigkeit die Opfer, damit sie sich an der Erarbeitung von Verpflichtungen wirksam beteiligen können.
2.1.2 Den Tätern wird Gelegenheit gegeben, den angerichteten Schaden ihrer Opfer und der Gemeinschaft zu verstehen, und es wird ihnen geholfen, Vorgehensweisen für eine angemessene Verantwortungsübernahme zu entwickeln.
2.1.3 Die Chancen auf eine freiwillige Teilnahme von Tätern werden vergrößert; Zwang und Ausgrenzung verringern sich. Doch kann durchaus von Tätern verlangt werden, dass sie ihre Verpflichtungen annehmen, wenn sie es nicht von selbst tun.
2.1.4 Verpflichtungen, die durch den zugefügten Schaden entstehen, sollten auf Wiedergutmachung ausgerichtet sein.
2.1.5 Verpflichtungen können sehr wohl als schwierig und sogar schmerzhaft empfunden werden, doch ist ihre Intention nicht Schmerz, Strafe oder Rache.
2.1.6 Verpflichtungen gegenüber den Opfern, wie zum Beispiel Schadensersatz, haben Priorität vor anderen Sanktionen und Verpflichtungen gegenüber dem Staat, wie zum Beispiel Bußgeldern.
2.1.7 Täter sind verpflichtet, aktiv teilzunehmen und ihre eigenen Bedürfnisse anzusprechen.
2.2 Die Verpflichtungen der Gemeinschaft bestehen gegenüber Opfern und Tätern sowie dem allgemeinen Wohl ihrer Mitglieder.
2.2.1 Die Gemeinschaft hat die Verantwortung, Opfer von Verbrechen zu unterstützen und zu helfen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
2.2.2 Die Gemeinschaft trägt Verantwortung für das Wohl ihrer Mitglieder sowie für die sozialen Verhältnisse und Beziehungen, die Verbrechen oder Frieden fördern.
2.2.3 Die Gemeinschaft ist verantwortlich dafür, alle Bemühungen zu unterstützen, Täter in das Gemeinwesen zu integrieren. Sie hat sich bei der Erarbeitung der Verpflichtungen für Täter aktiv zu engagieren und Möglichkeiten zu ihrer Besserung zu gewährleisten.
3.0 Bei restaurativer Gerechtigkeit geht es darum, zu heilen und Unrecht wiedergutzumachen.
3.1 Die Bedürfnisse der Opfer nach Information, Bestätigung, Zeugenaussagen, Strafe, Wiederherstellung, Sicherheit und Unterstützung sind die Ausgangspunkte der Gerechtigkeit.
3.1.1 Die Sicherheit der Opfer hat unmittelbare Priorität.
3.1.2 Der Rahmen des strafrechtlichen Verfahrens fördert die Bemühungen um Erholung und Heilung des Opfers – was letztlich immer dem betreffenden Opfer vorbehalten bleibt.
3.1.3 Opfer werden gestärkt durch die Erweiterung ihres Einflusses und ihre Teilnahme an der Feststellung von Bedürfnissen und dem Weg zu Lösungen.
3.1.4 Täter sind so weit wie möglich an der Wiedergutmachung des Schadens beteiligt.
3.2 Das strafrechtliche Verfahren schafft Gelegenheiten für den Austausch von Informationen, zur Beteiligung, zum Dialog und zu gegenseitigem Einvernehmen.
3.2.1 Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind in einigen Fällen angemessen, während sich in anderen alternative Formen des Austausches besser eignen.
3.2.2 Opfer spielen die Hauptrolle, wenn es darum geht, die Bedingungen eines Austauschs zu definieren und zu regeln.
3.2.3 Gegenseitiges Einverständnis hat Vorrang vor auferlegten Ergebnissen.
3.2.4 Es wird Gelegenheit geboten für Reue, Vergebung und Versöhnung.
3.3 Bedürfnisse und Befugnisse der Täter werden benannt.
3.3.1 In der Erkenntnis, dass Täter selbst oft Verletzte sind, werden deren Heilung und Integration in die Gemeinschaft betont.
3.3.2 Täter werden unterstützt und im Rechtsprozess mit Respekt behandelt.
3.3.3 Entfernung aus der Gemeinschaft und strenge Auflagen für Täter werden auf das notwendige Mindestmaß beschränkt.
3.3.4 Gerechtigkeit schätzt persönliche Veränderung höher als angepasstes Verhalten.
3.4 Das strafrechtliche Verfahren ist Sache der Gemeinschaft.
3.4.1 Mitglieder der Gemeinschaft wirken mit, um den Beteiligten und Umständen gerecht zu werden.
3.4.2 Das strafrechtliche Verfahren hängt von den Möglichkeiten der Gemeinschaft ab und trägt im Gegenzug zum Aufbau und zur Stärkung der Gemeinschaft bei.
3.4.3 Das strafrechtliche Verfahren soll Veränderungen innerhalb der Gemeinschaft fördern, die zum einen verhindern, dass Ähnliches erneut geschieht, und zum anderen eine frühzeitige Intervention ermöglichen, um den Bedürfnissen der Opfer und der Rechenschaft der Täter Rechnung zu tragen.
3.5 Gerechtigkeit bedenkt die beabsichtigten oder unbeabsichtigten Auswirkungen eines Verfahrens im Blick auf Verbrechen und Viktimisierung (zum Opfer werden).
3.5.1 Gerechtigkeit verfolgt das Einhalten von Vereinbarungen und ermutigt dazu, weil auf diese Weise die Chancen auf Heilung, Erholung, Rechenschaft und Veränderung steigen.
3.5.2 Fairness wird zugesichert, nicht durch Uniformität der Ergebnisse, sondern indem alle Parteien die notwendige Unterstützung und Chancen erhalten und indem jegliche Diskriminierung aufgrund von Volkszugehörigkeit, Klasse oder Geschlecht vermieden wird.
3.5.3 Schlussfolgerungen, die hauptsächlich abschreckend oder disqualifizierend sind, sollten als letztes Mittel verwandt werden. Dagegen sollten die am wenigsten restriktiven Interventionen gewählt und gleichzeitig die Wiederherstellung aller beteiligten Parteien gesucht werden.
3.5.4 Unbeabsichtigten Folgen wie der Nutzung restaurativer Prozesse zum Zweck von Zwangs- und Strafmaßnahmen, ungebührender Täterorientierung oder der Erweiterung sozialer Kontrolle wird entgegen gewirkt.
Ursprünglich auf Englisch erschienen als: Howard Zehr and Harry Mika, Fundamental Principles of Restorative Justice, The Contemporary Justice Review, Vol. 1, No. 1 (1998), S. 47-55.