Ist das Nicänum „ein Sieg der Priester über den Glauben des christlichen Volkes“ (Adolf von Harnack)?

Im zweiten Band seines Lehrbuchs zur Dogmengeschichte (Freiburg i. B.: Mohr, 1888, 274f) resümiert Adolf von Harnack über das Ende des arianischen Streits mit der Einführung des Nicäno-Konstantinopolitanum in der Alten Kirche:

„Die gebildeten Laien im Orient aber haben die orthodoxe Formel mehr als ein nothwendiges Uebel und als ein unerklärliches Geheimniss betrachtet denn als einen Ausdruck ihres Glaubens. Der Sieg des Nicänums war ein Sieg der Priester über den Glauben des christlichen Volkes. Schon die Logoslehre war den Nicht-Theologen unverständlich gewesen. Durch die Aufrichtung der nicänisch-kappadocischen Formel als Grundbekenntniss der Kirche wurde es den katholischen Laien vollends unmöglich gemacht, sich nach Massgabe der Kirchenlehre ein inneres Verständniss des christlichen Glaubens zu erwerben. Der Gedanke, dass das Christenthum die Offenbarung eines Unverständlichen sei, bürgerte sich immer mehr ein. Dieser Gedanke hat zum Avers die Verehrung des Geheimnisses und zum Revers die Indifferenz und die Unterwerfung unter den Mystagogen. Die [275] Priester und Theologen konnten dem Volke freilich nicht mehr geben als sie selbst besassen; aber erschreckend ist es, wie wenig in der kirchlichen Litteratur des 4. Jahrhunderts und der Folgezeit an das christliche Volk gedacht ist. Die Theologen hatten stets nur den Klerus, die Beamten und die gute Gesellschaft im Auge. Das Volk musste einfach an den Glauben glauben.“

Adolf von Harnack trägt hier seine eigenen liberalprotestantischen Vorbehalte als vermeintlich historisches Urteil über das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel ein. Ein Manko der Westkirche ist jedoch, dass das Nicäno-Konstantinopolitanum nicht regulärer Inhalt der Katechese gewesen ist. Auch heute noch legen Theologen fast ausschließlich das Apostolische Glaubensbekenntnis aus. Als Auslegung des Nicäno-Konstantinopolitanum in Buchform ist mir hingegen nur Heinrich Vogel, Das Nicaenische Glaubensbekenntnis. Eine Doxologie (Berlin-Stuttgart: Lettner-Verlag 1963) bekannt. Eine gründliche Auslegung dieses Glaubensbekenntnisses könnte Christen einen Zugang zum Glauben an die Inkarnation des Gottessohnes ermöglichen, der ja im Apostolikum missverständlich angesprochen und nicht wirklich entfaltet ist.

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