Tobias Brandner lebt und arbeitet seit 1996 im Auftrag der Mission 21 in Hongkong als Gefangenenseelsorger und Universitätslehrer. Er hat über die Jahre hinweg einen profunden Einblick in die chinesische Kultur und in das Leben von Christen in China gewonnen. In einem gut geführten Interview mit Thomas Seiterich in der akutellen Ausgabe von Publik-Forum kommt dies zur Sprache:
»Stark und biegsam wie Bambuswälder«
Nirgendwo wächst die Zahl der engagierten Christen so dynamisch wie in China. Das provoziert die Kommunisten. Ein Gespräch mit dem reformierten Theologen Tobias Brandner in Hongkong
Publik-Forum: Wirtschaft, Staat und Gesellschaft der Volksrepublik China entwickeln sich rasch. Welche Chancen bieten sich dabei für das Christentum?
Tobias Brandner: Während der letzten dreißig Jahre wuchs das Christentum in China jährlich um zehn Prozent. Die Zahl der Christen hat sich vervielfacht, trotz der Repression durch die KP und den atheistischen Staat. Und Chinas Kirchen wachsen rapide weiter. 1949, bei Maos Revolution, gab es eine Million Christen. Heute sind es über siebzig Millionen. So eine Dynamik ist einzigartig weltweit. Die jährliche Wachstumsrate der Kirchen entspricht dem jährlichen Wirtschaftswachstum.
Das Christentum ist gegen den Wind gewachsen, trotz der harten Repression.
Brandner: Ja, dies ist erstaunlich. Nach dreißig Mao-Jahren mit Unterdrückung und Christenverfolgung war 1982 die Zahl der Christen in China auf drei Millionen angestiegen. Eine große Zunahme trotz schärfstem Gegenwind. Seither wachsen die Christen schneller als die Bevölkerung. Zehn Jahre Kulturrevolution (1970-1980), das bedeutete: Der Besitz einer Bibel war verboten; die Christen wurden drangsaliert; viele getötet; sämtliche Kirchen waren beschlagnahmt. Und dennoch wuchsen im Untergrund die Kirchen; sie überlebten nicht nur — sie nahmen zu.
Unterscheidet sich die Lage bei Protestanten und Katholiken?
Brandner: Die evangelischen Kirchen wachsen deutlich rascher als die katholische. Der Grund liegt im unterschiedlichen Profil: Anstößig sind nicht die Protestanten mit ihren unauffälligen Gemeinden und Hauskirchen, sondern die Katholiken, weil sie infolge ihrer Treue und Loyalität zum Papst im fernen Rom von der antireligiösen Propaganda leichter als landfremdes, unpatriotisches Pack anzuprangern sind.
Wie unterscheiden sich die Profile der Konfessionen in China?
Brandner: Die Katholiken leiden unter der Wachstumsbremse, dass sie bei der Eucharistie auf ihre zölibatären Priester angewiesen sind — von denen gibt es nur wenige. Der Protestantismus in China ist flexibler und selbstbestimmter. Seine Kirchen hängen nicht von Priestern ab, die für die Polizei leicht identifizierbar sind. Sie sind häufig von Laien geleitet und dynamisch; nichts ist für die Ewigkeit gebaut. Diese biegsame Bambusstruktur macht sie weniger auffällig und greifbar für staatliche Repression. Die Katholiken dagegen leben zumeist in festen Pfarreistrukturen. Diese sind vom Staat leicht störbar.
Wann im Leben wird man in China Christ?
Brandner: Die meisten meiner Theologiestudierenden sind Späteinsteiger. Das ist für China typisch: In dem schnell wachsenden Christentum finden viele Menschen als Erwachsene zur Kirche. Sie tun dies aufgrund einer Entscheidung. Bei den Protestanten kann man dann häufig noch nach einer kurzen Ausbildung Pastor oder Gemeindeleiterin werden, das sind dann die Second Career Pastors. Die meisten evangelischen Geistlichen in China haben — wie Paulus oder Petrus – bereits ein Berufsleben hinter sich. Anders ist die Lage bei den Katholiken, denn der Weg ins Priesteramt setzt Ehelosigkeit und eine langjährige Ausbildung voraus. Diese hohen Hürden schließen die Späteinsteiger de facto aus.
Was ist das Besondere an den Christen in China?
Brandner: Diese gut siebzig Millionen Menschen, die fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind keine lauen Gewohnheits-, sondern bewusste Entscheidungschristen. Viele erlebten wegen ihres Glauben schon Nachteile oder Bedrängnis — dennoch bleiben sie dabei. Hiervon können viele der Laien und Geistlichen beredt erzählen. Christsein setzt im kommunistischen China einen bewussten Akt der Dissidenz voraus. Aufstiegschancen und Vorteile in der roten, autoritär-kapitalistischen Gesellschaft gibt es für die Christen nicht. Wer mitmacht, macht trotzdem mit. Ein Christ im Westen ist zumeist ein Christ und zugleich noch vieles andere. In China dagegen bedeutet der Glaube ein klares Identitätsmerkmal. Chinas Christen sind in der Kirche aktiv und politisch sturmerprobt. Solch einen Schatz an engagiertem, gegen den atheistischen Staat bewährtem Christentum haben die Kirchen auf der Erde in dieser großen Zahl nur einmal — in China.
Doch die Christen sind nur fünf Prozent.
Brandner: In der chinesischen Gesellschaft, die unter Sinnleere und einem entfesselten Materialismus leidet, bedeuten fünf Prozent Christen, die Werte wie Nächstenliebe leben und unbeirrbar den herrschaftskritischen Ein-Gott-Glauben leben, eine Macht. Da nichtchristliche Chinesen den Partei- und Staatschef ähnlich wie einen Gott oder Kaiser verehren, sind die Christen für die Herrscher in Peking unangenehm.
Wie geht die Entwicklung weiter?
Brandner: Es ist spannend, denn aktuell ist das Kirchenwachstum dabei, das Wachstum und die Mitgliederzahl der herrschenden KP zu überholen. Das sorgt für nervöse Unruhe in den Abteilungen der Parteileitung, deren Aufgabe es ist, Christen zu überwachen: Wird nicht von der KP autoritär eingegriffen, überflügelt die Zahl der Christen die Anzahl der kommunistischen Parteimitglieder. Es dämmert den Überwachern der Christen, dass die KP von geringerer motivationaler Qualität ist als das chinesische Christentum. Denn der KP tritt man in der Regel bei auf der Suche nach Profit und Aufstieg. Christ dagegen wird man in China aus Glaubensüberzeugung.
Und die geistige Auseinandersetze zwischen Christen und Kommunisten?
Brandner: Zum Wettbewerb der Zahl tritt der geistige Kampf. Der rote Mythos erscheint vielen Chinesen knapp siebzig Jahre nach der Revolution leer und verbraucht. Der Daseinskampf ist hart. Armut und Verelendung auf dem Land sind bedrückend. Die Einsamkeit im Alter und die Enge in den staatlich befohlenen Ein-Kind-Familien sind weit verbreitet. Konsum tröstet nur wenig. — Die Christen dagegen verfügen über große Erzählungen, die in China völlig unverbraucht sind und leuchten: Zum Beispiel das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder die Bergpredigt in einer erkalteten Welt des Egoismus. Barmherzigkeit und Nächstenliebe wurden in der Kulturrevolution gezielt zerstört.
Gibt es Beispiele für ähnliche Entwicklungen des Christentums wie China?
Brandner: Ja, Südkorea. Auch dort wurde die christliche Mission zeitweise unterdrückt. Aus eigener Kraft — wie in China — wuchsen die koreanischen Kirchen zu einer großen Kraft in der Gesellschaft. Rund dreißig Prozent der Koreaner sind Christen. Umgerechnet auf China wären dies 400 Millionen Christen. In Zukunft könnte China zu dem Land mit den meisten Christen werden. Liberal im westlichen Sinne wird die Mehrzahl dieser Christen nicht sein, sondern eher konservativ. Dies würde dann vermutlich im weltweiten Gespräch unter den Kirchen neue Fragen und Fronten aufwerfen.
Wir sprachen von Wachstum, von Zahlen und Macht — doch wie sieht Mission in China konkret aus?
Brandner: Nehmen wir als Beispiel die südchinesische 10-Millionen-Stadt Wenzhou. Der britische Historiker Niall Ferguson nennt sie »das chinesische Jerusalem«, da es so viele christliche Unternehmer in der Boomtown Wenzhou gebe. Tatsächlich bildet Wenzhou einen christlichen Hotspot, denn etwa 15 Prozent der Bürger bekennen sich als Christen. Die Entrepreneurs, die Unternehmer aus Wenzhou, sind als Schuh- und Konsumwarenproduzenten in ganz China unterwegs. Und nach den Verhandlungen holen viele dieser Unternehmer die Bibel heraus und werben bei ihren Geschäftspartnern für den Glauben. Ich finde diese Mission der Geschäftsreisenden faszinierend. Denn ganz ähnlich wurde das junge Christentum in seinen ersten Jahrhunderten im Imperium Romanum verbreitet.

Und wie reagiert der Staat?
Brandner: Als Ziao Ba Lung, ein Provinzkaiser, der KP-Chef der Provinz Zhejiang, sich über die Kreuze und Kirchen ärgerte, startete er 2013 eine Kampagne gegen Christen. Viele Kreuze wurden demontiert, manche Kirchen abgerissen. Doch es handelt sich um dosierte Gewalt, denn Christen werden nicht verletzt oder getötet. Die KP hat aus Fehlern gelernt. Sie strebt Kontrolle durch Einschüchterung an.
Sie sind reformierter Theologe. Wie sieht das Leben in den evangelischen Gemeinden aus?
Brandner: Die Kirche ist kongregationalistisch, das bedeutet, das Gewicht liegt stark bei den Gemeinden. Die Gemeinde ist »It Za Rén«, die »Familie Gottes«. In einer rasenden Wettbewerbswelt ist die Wärme der Gemeinde für die Leute wichtig. Die Gemeinden sind nach außen eher unpolitisch, doch was sie an Nächstenliebe leben, ist in China höchst politisch. Jesus ist »Jesu Gó«, »der ältere Bruder«. Die vom Staat mit Zwang durchgeführte Ein-Kind-Politik verletzte den starken, familiären Gemeinsinn der Chinesen. Da es in der politischen Realität keinen älteren Bruder geben darf, wird Jesus zum geliebten »älteren Bruder«.
Wer leitet die evangelischen Gemeinden?
Brandner: Meist ältere Mütter und Omas. Es sind wunderbare Frauen, in der Regel über fünfzig, Chinesinnen mit Lebenserfahrung und Warmherzigkeit. Oft sorgen sie für das Enkelkind, während die Eltern in einer fernen Stadt das Geld verdienen. Diese Frauen geben den Glauben weiter. Als Gemeindeleiterin haben sie meist einige freiwillige Mitarbeiterinnen. Die Predigerinnen haben einen dreimonatigen bis dreijährigen theologischen Crashkurs absolviert. Die Seelsorge- und Besuchsarbeit wird zu neun Zehnteln von Frauen geleistet. Auf diese Weise wächst die »Familie Jesu«, die Gemeinde. Drei Viertel aller evangelischen Gemeindeglieder sind Frauen.
Tobias Brandner, geboren 1965 in der Schweiz, arbeitet als reformierter Pfarrer und Gefängnisseelsorger seit 1996 in Hongkong. Er ist Professor für Kirchengeschichte und Missionswissenschaft am Chung Chi College.
Das Gespräch führte Thomas Seiterich.
Quelle: Publik-Forum, Nr. 16, 26. August 2016, 30f.