Double bind und die Schizophrenie Gottes. Eine pathologische Interpretation von Luthers „De servo arbitrio“: „Der diagnostizierten Schizophrenie Gottes ist mit theologischerseits weder mit Dialektik noch Systematik beizukommen, sie bleibt für den Menschen nicht therapiefähig. Aber sie kann gegenwärtig im Licht der Gnade (lumen gratiae) bzw. im Glauben ertragen werden.“

Double bind und die Schizophrenie Gottes. Eine pathologische Interpretation von Luthers „De servo arbitrio“

1. Das soteriologische Paradox

Paradoxien haben ihre Verufenheit verloren, seitdem man erkannt hat, dass sie bei bestimmten Reflexionsformen unvermeidlich sind1. Sie werden nicht mehr nur der mathematischen Logik oder der Philosophie vorbehalten, sondern kunstvoll in ihrem ganzen Facettenreichtum zelebriert2. Die Theologie hat schon immer ein besonderes Verhältnis zu Paradoxien gehabt, sind doch ihre Lehrsätze von Anfang an mit Paradoxien kontaminiert worden. Von besonderer Bedeutung sind dabei die trinitari-[93]schen und christologischen Paradoxien, wie sie im Nicaeno-Constantinopolitanum und im Chalcedonense formuliert worden sind. Die Unterscheidung von Glaube und Vernunft hat sie freilich für die Theologie erträglich gemacht. Als geoffenbarte Glaubenswahrheiten lassen sie sich einer rationalen Rekonstruktion verschließen. Im übrigen konnten diese Paradoxien als Erkenntnisprobleme auf der Seite Gottes eingelagert werden. Im Gegensatz dazu ist der Mensch mit seiner ganzen Person in das soteriologische Paradox involviert: Treffe die heilsrelevante Entscheidung (bzw. handle gottgefällig), die du nicht treffen kannst (was du nicht tun kannst). Seitdem Augustin im pelagianischen Streit dieses Paradox in seiner Tiefenschärfe wahrgenommen hat, hat es die abendländische Theologie in Mitleidenschaft gezogen. Mit Sünden-, Gnaden- und Prädestinationslehre sind unterschiedlich akzentuierte Entparadoxierungsprogramme formuliert worden, die dieses Paradox für die kirchliche Praxis zu relativieren vermochten, ohne jedoch einen Ausweg daraus aufzuzeigen.

Religionssoziologisch lässt sich das soteriologische Paradox als Folge des Schemas Heil/Verdammnis, mit dem der Typus einer Erlösungsreligion operiert, rekonstruieren. Dieses binäre Schema garantiert dem Religionssystem Universalität und formuliert zugleich hinsichtlich der Gesellschaft einen Anspruch auf Inklusion, wie dies Cyprian von Kathargo für die katholische Kirche formuliert hat: „Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche (salus extra ecclesiam non est).“ Wo mit dem Inklusionsanspruch eine Entscheidung gefordert wird, stellt sich zugleich die Frage, wie diese Entscheidung konditioniert ist bzw. wem sie zugeschrieben werden kann, ohne dass damit für das Religionssystem die Transformation von Verdammnis in Heil externalisiert wird. Der Eintritt in die Heilssphäre muß daher durch eine Erwählung, gnadenhalber und nicht aus freien Stücken motiviert sein. Da jedoch offenkundig der Eintritt kein Automatismus ist, sonst gäbe es keine außenstehende, verlorene Masse (massa perditionis), kann auf eine kontingente Entscheidung als Eintrittsbilett doch nicht verzichtet werden.

Die religionssoziologische Rekonstruktion eröffnet einen Ausweg aus dem soteriologischen Paradox, nämlich die Preisgabe eines universalen und zugleich exklusiven Heilsanspruches der Religion. Wenn die Theologie diesen Therapievorschlag nicht übernehmen kann, dann darf sie sich jedoch nicht davor scheuen, denjenigen mit dem Paradox zu behaften, der in ihren Augen dafür allein verantwortlich zu machen ist, Gott natürlich. Ihre Aufgabe ist es, das soteriologische Paradox auf Gott selbst zu durchdenken, wie dies Luther in seiner Schrift „De servo arbitrio“ getan hat. Indem Luther das Gottesverhältnis des Menschen als Kommunikationsver-[94]hältnis begreift, nimmt er das soteriologische Paradox als double bind-Situation wahr.

2. Die double bind-Situation

Gregory Bateson, at home in Ben Lomond, California, 1975
Gregory Bateson (1904-1980)

Der double bind-Begriff stammt von Gregory Bateson und ist ursprünglich Bestandteil einer Ursachenlehre der Schizophrenie. Bateson hat jedoch diesen Theorieansatz zu einer „Ätiologie transkontextueller Syndrome“ generalisiert und versucht, ihn damit auch auf andere Phänomen- bzw. Wissenschaftsbereiche anzuwenden3. Der Ausgangspunkt der double bind-Theorie ist die menschliche Kommunikationssituation. Innerhalb der Kommunikation wird eine Mitteilung durch den jeweiligen Kontext (als Metamitteilung) klassifiziert. „Zwischen Kontext und Mitteilung (oder zwischen Metamitteilung und Mitteilung) liegt eine Kluft, die ihrer Natur nach dieselbe ist, wie eine Kluft zwischen einem Ding und dem Wort oder Zeichen, das für es steht, oder zwischen den Elementen einer Klasse und dem Namen der Klasse“4. Da jedoch Kommunikationsweisen wechseln können, ist es für einen Menschen notwendig, die jeweiligen Kommunikationsmodi innerhalb des eigenen Selbst oder zwischem dem Selbst und anderen zu unterscheiden. Hierfür ist nach Bateson die „Ich-Funktion“ wesentlich5. Der Schizophrene hat Schwächen, sowohl Mitteilungen anderer Personen als auch eigene Mitteilungen, Gedanken, Sinneseindrücke und Wahrnehmungsgegenstände dem richtigen Kommunikationsmodus zuzuweisen (274). Er lebt damit in einem eigenen Universum, „in dem die Abfolgen von Ereignissen so aufgebaut sind, dass seine unkonventionellen Kommunikationsgewohnheiten in gewissem Sinne angemessen sein werden.“(275f) Was für einen schizophrenen Patienten selbst [95] stimmig zu sein scheint, zeigt sich jedoch für Außenstehende als dessen innerer Konflikt in der logischen Typisierung von Kommunikationsmodi. Als Ursache hierfür sieht Bateson bei der betreffenden Person eine unauflösbare Sequenz äußerer Erfahrungen, die er als „double bind-Situation“ charakterisiert.

Als notwendige Bestandteile einer double-bind-Situation nennt Bateson (276f):

(1) „Zwei oder mehr Personen“, wobei eine davon das „Opfer“ ist.

(2) „Wiederholte Erfahrung“, so dass „die double bind-Struktur zur habituellen Erwartung wird“.

(3) „Ein primär negatives Gebot“ in Verbindung mit einer Strafandrohung.

(4) „Ein sekundäres Gebot, das mit dem ersten auf einer abstrakteren Ebene in Konflikt steht und wie das erste durch Strafen oder Signale verstärkt wird, die das Überleben bedrohen.“ Beispiele für eine Verbalisierung des sekundären Gebotes sind: „Betrachte dies nicht als Strafe“; „Betrachte mich nicht als die Strafinstanz“; „Unterwirf dich nicht meinen Verboten“; „Denk nicht an das, was du nicht tun darfst“; „Stelle nicht meine Liebe in Frage, für die das primäre Verbot ein Beispiel ist (oder nicht ist)“.

(5) „Ein tertiäres negatives Gebot, das dem Opfer verbietet, den Schauplatz zu fliehen“.

Die double-bind-Situation selbst charakterisiert Bateson mit folgenden Punkten:

„(1) Das Individuum steckt in einer intensiven Beziehung, das heißt, in einer Beziehung, in der es als lebenswichtig empfindet, ganz genau zu unterscheiden, welche Art von Mitteilung ihm kommuniziert wird, damit es angemessen reagieren kann.

(2) Das Individuum ist in einer Situation gefangen, in der sein Gegenüber zwei Arten von Mitteilungen ausdrückt und eine davon die andere leugnet.

(3) Und das Individuum ist unfähig, sich mit den geäußerten Mitteilungen auseinanderzusetzen, um zu unterscheiden, auf welche Art der Mitteilung es reagieren soll, d.h. es kann keine metakommunikative Aussage machen.“(278f)

Manifest wird die double-bind-Situation als Familiensituation, in der ein Elternteil in seiner eigenen Verhaltensambivalenz gegenüber einem Kind doppeldeutig kommuniziert und eine metakommunikative Ausdeutung für das Kind beziehungsgefährdend ist. Innerhalb einer solchen double bind-Situation kommuniziert das Kind als Opfer metaphorisch bzw. depersonalisiert sich.

„Für das Opfer eines double bind ist es nicht nur sicherer, auf eine metaphorische Art der Mitteilung auszuweichen, sondern in einer unmöglichen Situation ist es auch besser, sich zu entziehen und ein anderer zu werden, oder sich zu entziehen und darauf zu beharren, anderswo zu sein. Dann verfehlt [96] der double bind seinen Zugriff auf das Opfer, weil dieses ja gar nicht es selbst und außerdem an einem anderen Ort ist. (…) Pathologisch wird dieses Verhalten, wenn das Opfer selbst entweder nicht weiß, dass seine Reaktionen metaphorisch sind, oder dies nicht sagen kann. Um zu erkennen, dass es sich metaphorisch ausdrückt, müßte es sich bewusst sein, dass es sich verteidigt und somit vor dem anderen Angst hat. Für das Opfer wäre dieses Bewusstsein eine Verurteilung der anderen Person und würde daher eine Katastrophe provozieren.“(281)

3. Das Gottesverhältnis des Menschen in Luthers „De servo arbitrio“

De_servo_arbitrio

Zwischen der verhängnisvollen double bind-Situation, wie sie Bateson der Schizophrenie zugrunde legt, und dem Gottesverhältnis des Menschen, wie es Luther in „De servo arbitrio“6 beschreibt, lässt sich eine Übereinstimmung aufzeigen. Allerdings findet Luther einen Ausweg für das Opfer, der seine personale Integrität ermöglicht. Die schizophrenogene Situation lässt sich für den Menschen durch die richtige Unterscheidung Gottes einfach umkehren.

Das Gottesverhältnis des Menschen ist für Luther so bestimmt, dass sich der Mensch weder wissentlich noch willentlich in ein Verhältnis zu Gott setzen kann. Ursache dieses Unverhältnisses ist der unveränderliche, ewige und unfehlbare Wille Gottes (190,22f/615), dem ein ewiges, unveränderliches Vorherwissen Gottes korrespondiert: „Wenn er wollend etwas vorherweiß, ist der Wille ewiglich und unerschütterlich, da von Natur aus; wenn er etwas vorherwissend will, ist das Wissen ewiglich und unerschütterlich, da von Natur aus“7. Hinsichtlich des göttlichen Willens ereignet sich alles irdische Geschehen und insbesondere das menschliche Tun unveränderlich und daher notwendig (191,3-5/615). Für Luther kann es somit keine menschliche Willkürfreiheit (liberum arbitrium) geben, die Willkürfreiheit ist allein ein Gottesprädikat (209,4ff/636). Nur im Hinblick auf die inferioren Dinge, d.h. hinsichtlich der geschöpflichen Wirklichkeit mag Luther dem Menschen eine relative Willkürfreiheit zugestehen; genauer betrachtet handelt es sich jedoch nur um das Scheinwissen [97] einer menschenmöglichen Macht, entsprechend einer Willkürfreiheit zu handeln und entscheiden. Tatsächlich wird der Mensch auch dort allein durch die göttliche Willkürfreiheit geleitet (210,4-9/638).

Wird die grundlegende personale Unterscheidung zwischen Gott und Mensch übersehen, könnte man in „De servo arbitrio“ eine deterministische Metaphysik vermuten. Eine solche Metaphysik würde die Definition eines heilvollen Gottesverhältnisses des Menschen ermöglichen, wie sich bei Spinoza in seiner „Ethik“ sehen lässt. Indem der Mensch alles als notwendig in Gott gegründet erkennt und sich in den von Gott bestimmten Lauf der Welt einfügt, kann er trotz seines unfreien Willens die wahre, kognitive Freiheit in der intellektuellen Gottesliebe (amor Dei intellectualis) erreichen. Luther hingegen sieht keine Möglichkeit des Menschen, sich kognitiv in ein richtiges Gottesverhältnis zu setzen. Gott als Person bleibt wegen seines unerforschlichen und unerkennbaren Willens (voluntas imperscrutabilis et incognoscibilis) dem Menschen unnahbar. Aus der Distanz zu Gott muß der Mensch die Auswirkungen des göttlichen Willens, die ihn selbst bestimmen, wahrnehmen. Schließlich ist die Erkenntnis der Allwirksamkeit Gottes und seines unfehlbaren Vorherwissen dem Menschen ins Herz geschrieben (287,22-288,5/719). Da zwischen Gott und Mensch ein personales Kommunikationsverhältnis besteht, ist dieses Gottesverhältnis nicht fatalistisch. Der Mensch wird von Gott nicht unbewusst manipuliert, sondern durch das Wort (verbum) bewusst angesprochen (vgl. 263,23-36/695).

4. Die double bind-Situation im Gottesverhältnis des Menschen

In dem Anspruch des Gotteswortes (verbum Dei) verfängt sich der Mensch in der klassischen double bind-Situation. Er steht in einem kommunikativen Verhältnis zu Gott, das für ihn heilsentscheidend ist und kann sich wegen der Allwirksamkeit Gottes diesem Verhältnis nicht entziehen. Gott formuliert von sich aus einen universalen Heilszuspruch: „Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.“(Ez 33,11, zitiert in 250,30f/682) Gott will, „dass allen Menschen geholfen werde„(1 Tim 2,4, zitiert in 254,11/686). Da das heilschaffende Gotteswort nicht selbstwirksam ist, bleibt seine Wirkung im Menschen an die Gegenwart des Heiligen Geistes gebunden (263,25-28/695). Dieser Geistempfang ist jedoch für den Menschen kontingent, so als auch anders möglich. Dem ausgesprochenen, universalen Heilswillen Gottes steht zugleich dessen willkürlicher Heilsvorbehalt gegenüber.

Diese double bind-Situation lässt sich nicht durch eine Unterscheidung [98] der Kommunikationsmodi Gesetzesworte (verba legis) und Verheißungsworte (verba promissionis) sprengen. Mit der theologischen Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium kann Luther nur die Integrität des Gotteswortes, das in der Spannung zwischen bedingungsloser Heilszusage und unerfüllbarer Forderung steht, wahren. Die Gesetzesworte werden dabei in einer diagnostischen Funktion auf das Gnadenwort (verbum gratiae) hin relativiert. Sie überführen den Menschen seiner Verderbtheit (corruptio) und bewirken damit den Zustand der Verzweiflung (desperatio) über die eigene Sünde, der ihn für die verheißene Barmherzigkeit Gottes präpariert (252,7-253,3/683f). Eine Entscheidung über eine Empfänglichkeit des Menschen für das Gotteswortes bleibt jedoch dem verborgenen und furchtbaren Willen Gottes vorbehalten (253,3-11/684). Luther beschreibt die double bind-Situation mit folgenden Worten:

„Dies verletzt freilich jenen Gemeinsinn bzw. die natürliche Vernunft am meisten, dass Gott aus reiner Willkür Menschen im Stich lässt, verhärtet und verdammt, als wenn er von den Sünden und den so starken und ewigen Qualen der Elenden erfreut wäre, er, der einer so großen Barmherzigkeit und Güte usw. gepriesen wird. Dieses ungerechte, dieses grausame, dieses unerträgliche Bild ist von Gott wahrzunehmen, an dem auch so viele und so bedeutende Männer so vieler Generationen Anstoß genommen haben. Und wer würde nicht Anstoß daran nehmen? Ich selbst habe nicht nur einmal Anstoß daran genommen bis an den Abgrund und die Hölle der Verzweiflung, dass ich wünschte, niemals ein menschliches Geschöpf geworden zu sein, bis ich wusste, wie heilvoll jene Verzweiflung war und wie nahe sie der Gnade war“8.

Der menschliche Zustand in einer double bind-Situation gegenüber Gott ist nach Luther die Verzweiflung, wie er sie auch selbst erlebt hat. In dieser double bind-Situation sind alle Ausweichmanöver des Menschen zum Scheitern verurteilt:

  • Scholastischen Unterscheidungen zwischen einem geordneten und einem absoluten Gotteswillen (voluntas Dei ordinata et absoluta) bzw. zwischen einer hypothetischen und einer absoluten Notwendigkeit (necessitas consequentiae et conse-[99]quentis) erweisen sich gegenüber dem göttlichen Willen und seinem Vorherwissen als hilflose Metaphorik (287,18-22; vgl. 191,19-192,20/616f und 207,10-18/634).
  • Die Alternative einer vernunftgemäßen Korrektur des Gottesbildes, „dass Gott nach menschlichem Recht handle und das mache, was einem selbst als richtig erscheint“9, stellt sich für Luther nicht, da ein um die Tugend und Weisheit des Auswählens (virtus et sapientia eligendi) gebrachter Gott nur noch ein Schicksalsvorstellung (idolum fortunae) wäre, „in dessen Walten alles zufällig geschehen würde“10. Gott wäre damit seiner Personalität beraubt und nicht mehr für den Menschen ansprechbar. Ein Gotteslob der menschlichen Vernunft kann daher nichts anderes als ein projektives Selbstlob sein (299,13-16/731).
  • Eine anthropologische Differenzierung zwischen den niederen und rohen Affekten (inferiores, crassioresque affectus) einerseits und der Vernuft bzw. dem Willen als den höchsten und vortrefflichsten Fähigkeiten (summae et praestantissimae vires – 330,19f/761) andererseits, die die Vernunft in eine positive Gottesbeziehung zu setzen sucht, ist nicht möglich, da der Anspruch des Gotteswortes den ganzen Menschen umfasst und dieser vor Gott eine „fleischliche“ (carnalis) Identität aufweist (307,19-313,10/739-745).
  • Obwohl Luther den menschlichen Willen mit einem Lasttier vergleichen kann, das entweder von Gott oder dem Satan geritten wird (208,2-7/635; vgl. 238,41-239,7/670), verbietet sich eine Therapie durch den Teufel. Zwischen Gott und Teufel kann es letztlich kein dualistisches Verhältnis geben, das den Menschen von der Allwirksamkeit Gottes entlastet. „Weil also Gott alles in allem bewegt und treibt, bewegt und treibt er auch mit Notwendigkeit im Satan und im Ungläubigen“11.

5. Die Schizophrenie Gottes

Wolkenbild Schizophrenie

Die Lösung aus der double bind-Situation ist die ungeheuerliche Diagnose des Glaubens: Gott handelt nicht nur paradox, „solange Gott belebt, wirkt er dies durch Töten, solange er rechtfertigt, wirkt er dies durch Anklage, solange er in den Himmel bringt, wirkt er dies durch Abfuhr in die Hölle“12, sondern ist in sich selbst gespalten, zwiespältig. Der Mensch entkommt der eigenen Verzweiflung, indem er Gott selbst als schizophren bezeichnet. Er unterscheidet also nicht nur die Kommunikationsmodi Gesetz und Evangelium, sondern muß um der Wahrheit des Gotteswortes [100] willen eine metakommunikative Unterscheidung Gottes treffen. In der Unterscheidung zwischen dem verborgenen Gott (Deus absconditus) bzw. Gott selbst (Deus ipse) auf der einen Seite und dem gepredigten Gott (Deus praedicatus) bzw. dem Gotteswort (verbum Dei) auf der anderen Seite ist Gott mit sich selbst uneins. Dadurch wird er für den Menschen erträglich.

Dem verborgenen Gott kann der Mensch all das zu schreiben, was ihm selbst zu schaffen macht: „Im übrigen beklagt der verborgene Gott in seiner Erhabenheit weder den Tod noch beendet ihn, sondern wirkt Leben, Tod und alles in allem. Denn er hat sich ferner nicht in seinem Wort begrenzt, sondern sich die Freiheit über alles behalten“13. Luther unterstellt dem verborgenen Gott, der in seiner kognitiven Unbestimmtheit nur gefürchtet und verehrt werden kann, den göttlichen Willen und seine ewigen Affekte gegenüber den Menschen (292,38-293,20/724f). Der göttliche Wille wirkt sich sowohl in der generellen Verderbnis der menschlichen Natur durch die Zulassung des adamitischen Sündenfalls als auch in der Verdammung des einzelnen Menschen unheilvoll aus (281,11ff/712). Dem gegenüber steht der gepredigte bzw. fleischgewordene Gott (Deus incarnatus), den Luther mit dem gekreuzigten Jesus identifiziert. „Gott, ich betone, der fleischgewordene, ist dazu gesandt, dass er wolle, rede, wirke, leide und allen alles darbiete, was zum Heil notwendig ist“14. „Dies nämlich wirkt der gepredigte Gott, dass wir durch die Beraubung von Sünde und Tod heil werden mögen“15. Die Paradoxie des göttlichen Willens löst sich in der Unterscheidung von Gott selbst und dem Gotteswort auf: „So will er nicht den Tod des Sünders, nach dem Wort freilich, er will aber jenen in seinem unerforschlichem Willen“(254,2f/685)16. Die Zwiespältigkeit Gottes ermöglicht dem Menschen die Gottesgemeinschaft (commercium – 253,22/685), da er sich ganz auf das Gotteswort einlassen kann. Damit ist zugleich die Aufforderung verbunden, sich nur dem Gotteswort, nicht aber dem verborgenen Gott und dessen Willen zuzuwenden (254,3-9/685f).

Der diagnostizierten Schizophrenie Gottes ist mit theologischerseits weder [101] mit Dialektik noch Systematik beizukommen, sie bleibt für den Menschen nicht therapiefähig. Aber sie kann gegenwärtig im Licht der Gnade (lumen gratiae) bzw. im Glauben (206,14-29/633) ertragen werden. Darüber hinaus lässt sich die Auflösung der ihr zugrundeliegenden double bind-Situation prognostizieren. Am Ende der Zeit, im Licht der Herrlichkeit (lumen gloriae), wird Gott selbst sich mit dem Erscheinen des Menschensohnes als vollkommen gerecht offenbaren und damit seine Zwiespältigkeit gegenüber dem Menschen preisgeben (352,4-354,11/784f; vgl. 299,13-24/731).

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, 469ff.
  2. So z.B. Nicholas Falletta, Paradoxon. Widersprüchliche Streitfragen, zweifelhafte Rätsel, unmögliche Erläuterungen, 2. A., München 1987.
  3. Vgl. Gregory Bateson „double bind, 1969“, in: ders., Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (ÖdG), Frankfurt 1985, 353-361.
  4. Bateson, Minimalanforderungen für eine Theorie der Schizophrenie, in: ÖdG, 321-352, hier 325. Dieses Prinzip der Diskontinuität hat bereits Russell mit seiner Typentheorie zur Vermeidung mengentheoretischer Paradoxa formuliert. Vgl. Betrand Russell, Mathematische Logik auf der Basis der Typentheorie (1908), in: ders., Die Philosophie des Logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie, München 1979, 23-65.
  5. Bateson, Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: ÖdG, 270-301, hier 274. Die folgenden Seitenzahlen im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Schrift.
  6. Luthers Schrift „De servo arbitrio“ wird nach der Studienausgabe, hrsg. v. H.-U. Delius, Bd. 3, Berlin 1983 mit deren Konjekturen zitiert. Im folgenden wird bei Zitaten und Quellenverweisen im fortlaufenden Text in Klammern die jeweilige Seitenzahl der Studienausgabe mit Zeilennummerierung, sowie die Seitenzahlen aus der Weimarer Ausgabe, Bd. 18 angegeben.
  7. „Si volens praescit, aeterna est et immobilis (quia natura) voluntas, si praesciens vult, aeterna est et immobilis (quia natura) scientia.“(191,1f/615)
  8. „Scilicet hoc offendit quam maxime sensum illum communem seu rationem naturalem, quod Deus mera voluntate sua homines deserat, induret, damnet, quasi delectetur peccatis et cruciatibus miserorum tantis et aeternis, qui praedicatur tantae misericordiae et bonitatis etcetera. Hoc iniquum, hoc crudele, hoc intolerabile visum est de Deo sentire, quo offensi sunt etiam tot et tanti viri, tot soeculis. Et quis non offenderetur? Ego ipse non semel offensus sum usque ad profundum et abyssum desperationis, ut optarem nunquam esse me creatum hominem, antequam scirem, quam salutaris illa esset desperatio et quam gratiae propinqua.“ (287,10-18/719; vgl. 205,31-206,13/632f)
  9. „ut Deus agat iure humano, et faciat quod ipsis rectum videtur“(298,3f/729)
  10. „cuius numine omnia temere fiunt (274,43f/706)“.
  11. „Quando ergo Deus omnia in omnibus movet et agit, necessario movet etiam et agit in Satana et impio“(278,10f/709).
  12. „Sic Deus dum vivificat, facit illud occidendo, dum iustificat, facit illud reos faciendo, dum in coelum vehit, facit id ad in infernum ducendo“(206,16-18/633)
  13. „Caeterum Deus absconditus in maiestate, neque deplorat neque tollit mortem, sed operatur vitam, mortem, et omnia in omnibus.Neque enim tuo verbo suo definiuit sese, sed liberum sese reservavit super omnia.“(253,32f/685)
  14. „Deus, inquam, incarnatus in hoc missus est, ut velit, loquatur, faciat, patiatur, offerat omnibus omnia, quae sunt ad salutem necessaria“(257,29f/689).
  15. „Hoc enim agit Deus praedicatus, ut ablato peccato et morte, salvi simus.“(253,29f/685)
  16. „Sic non vult mortem peccatoris, verbo scilicet, Vult autem illam voluntate illa imperscrutabili.“(254,2f/685)

Quelle: Luther. Zeitschrift der Luther Gesellschaft, 73. Jahrgang, Heft 2, 2002, 92-101.

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