Helmut Tacke im Brief an Christian Möller vom 30. Juni 1980
Ich bin davon überzeugt, daß die Seelsorge auf eine hermeneutische Vermittlung der Rechtfertigungslehre angewiesen ist, damit wir zu neuen Paul-Gerhardt-Texten kommen, weil wir wohl doch neue Lieder brauchen, um das aussagen zu können, was sich in den Kategorien unserer Erfahrung kaum noch findet. Z.B. der ›Tausch‹. Sehr reformatorisch, aber für uns kaum noch erreichbar. Mir scheint, daß der Vorgang solch eines personellen Tausches für uns wie ein Betrug aussieht. Der Begriff der Stellvertretung reicht auch nicht aus. Vielleicht – als Rheinländer, der ich nicht bin – könnte der Karneval zur Anschauung werden. Maske, Kostüm, Rolle, Tausch. Sind wir nicht alle ›Existentialisten‹ geworden nach der Devise: Ich bin der ich bin? Hat uns nicht Kierkegaard gerade mit seinen Meditationen zur Nachfolge auf uns selbst und nur auf uns selbst festgelegt? Mußte nicht folgerichtig bei Bultmann und anderen die eigene Entscheidung zum Maßstab werden, bei der eben alles Entscheidende von mir ausgeht? Ich werde das Gefühl nicht los, daß die Dolmetscher der Rechtfertigung ausgestorben sind. Daß etwa unsere Predigten mit der Nachricht des ›Für uns‹ ihre Schwäche darin haben, daß die Hörer in sich selbst so stark sind und unter allen Umständen bei sich selbst bleiben und mit sich identisch sein wollen? Es ist wie in einem Uhrwerk, in dem ein Rad aus der Mitte herausgebrochen wurde. Das Motiv bewegt nicht mehr die Zeiger. Die Rechtfertigung in ihrer seelsorgerlichen Brisanz zu entdecken – das wäre vielleicht eine Verständigungsbrücke sogar mit Herrn Stollberg, der mir an dieser Stelle zumindest ein Ohr zu haben scheint.
Quelle: Helmut Tacke, Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden. Beiträge zu einer bibelorientierten Seelsorge, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1989, S. 20f.