Karl Barth über den „Humanismus“ (1950): „Nicht der ‚Messianismus Israels‘ ist der Sinn und Grund dieser Freiheit. Gott behüte uns auch vor diesem -ismus! Ich weiß nicht, ob er vielleicht eine Wurzel des Kommunismus ist. Es kann sein. Der Sinn und Grund der christlichen Botschaft und Theologie ist jedenfalls – noch einmal gesagt: jenseits aller Prinzipien und Systeme, aller Weltanschauungen und Moralen nicht der Messianismus, wohl aber der Messias, d. b. der Christus Israels. Wenn das Bekenntnis zu ihm als dem alleinigen Retter der Welt ‚Exklusivität‘ zu nennen war, dann mussten wir uns diesen Vorwurf eben gefallen lassen. Niemand ist zu diesem Bekenntnis gezwungen. Es hat aber auch keinen Sinn, sich als Christ auszugeben, wenn man die Freiheit zu diesem Bekenntnis aus irgendeinem Grund nicht zu haben meint. Es ist übrigens in Wahrheit das inklusive, das grundsätzlich jedem Menschen zugewendete und offene Bekenntnis. Die christliche Kirche kann nicht vom Himmel herab, sondern nur auf Erden und selber irdisch reden.“

Nachdem Karl Barth am 1. September 1949 auf der Genfer Tagung zum Thema „Pour un nouvel humanisme“ seinen Vortrag „Die Aktualität der christlichen Botschaft“ gehalten hatte und der Tagungsband René Grousset (ed.), Pour un nouvel humanisme: textes des conférences et des entretiens organisés par les Rencontres Internationales de Genève, 1949 (Neuchâtel: Éditions de la Baconnière, 1949) veröffentlicht worden war, setzte er sich in seinem Vortrag „Humanismus“ am 1. Februar 1950 in Zürich mit den anderen Beiträgen dieser Tagung auseinander:

„Humanismus“ (1950)

Von Karl Barth

Pour un nouvel humanisme [Für einen neuen Humanismus]“ – so lautete das Thema der im September des vorigen Jahres zum vierten Mal veranstalteten Rencontres Internationales de Genève [Internationale Begegnungen von Genf].[1]

Das Gute, was man von dieser Zusammenkunft sagen kann, ist sicher dies: sie hat einen im qualifizierten Sinne des Wortes „menschlichen“ Verlauf genommen. Die dort nicht nur vor demselben Publikum, sondern wirklich auch unter sich um einen Tisch versammelten Philosophen und Historiker, Orientalisten und Naturwissenschaftler, Theologen und Marxisten aus ganz Europa haben – ein Jeder von seinem besonderen Ort her – offen und deutlich, aber auch verbindlich und wenigstens teilweise nicht ohne Humor, miteinander geredet. Und mehr als das: sie haben, so gut es einem Jeden gegeben war, auch aufeinander zu hören, sich gegenseitig zu verstehen versucht. Wenn unter ,,Humanismus“ auch das zu verstehen sein sollte, dass Derartiges möglich ist und wirklich wird, dann hätten wir uns damals in Genf weder vor Sokrates noch vor Goethe noch vor einem anderen der Großen schämen müssen, die man in der Geschichte als „Humanisten“ zu bezeichnen pflegt. Wie wir denn auch noch am legten Tage den Manen der Madame de Staël im Schloss von Coppet gemeinsam unsere Aufwartung gemacht haben! In einer so unmenschlichen Zeit wie der unsrigen darf das Gelingen eines so menschlichen Zusammenseins immerhin als ein gewisser Erfolg gelten.

Aber man kann die Frage natürlich auch anders und strenger stellen: Was ist bei dieser Zusammenkunft für die Sache eines „neuen Humanismus“ herausgekommen? Ist er in irgendeiner Annäherung sichtbar oder gar in irgendeinem Ergebnis greifbar geworden? Man würde dem so fragenden natürlich entgegenhalten dürfen, dass jedenfalls greifbare Ergebnisse von einer akademischen Veranstaltung dieser Art billigerweise nun einmal nicht zu erwarten seien. Aber die negative Tatsache bleibt übrig: eine nicht kleine und nicht aus den ersten besten zusammengesetzte Versammlung von europäischen Intellektuellen aller Art und Richtung hat die Frage nach einem neuen Humanismus zehn Tage lang studiert und diskutiert, ohne dass es zu mehr als zu allerlei gegenseitiger Belehrung und Anregung gekommen wäre, ohne dass von irgendeiner Seite eine für alle Beteiligten einleuchtende und überzeugende, geschweige denn eine für die heutige Welt spürbar hilfreiche Vision an den Tag gekommen wäre um von praktischen Vorschlägen schon gar nicht zu reden. Über den neuen „Humanismus“ hatte bei dieser Versammlung ungefähr ein Jeder, sofern er überhaupt an einen solchen glaubte, seine eigenen Vorstellungen. Wir waren aber schließlich nicht einmal darin ganz einig, ob ein neuer Humanismus in unserer Zeit zu erwarten und auch nur zu erwünschen sei.

Und nun noch das Schlimmste: Es zeigte sich schon vom ersten Tag an, und es war am zehnten Tag noch deutlicher als am ersten, dass schon der Begriff des Humanismus und seine Definition von größtem Dunkel und Widerspruch umgeben waren. Ging es bei der Frage nach dem neuen Humanismus“ um das „Überleben“ (la survie) und die Rolle des sogenannten „klassischen“, nämlich des klassisch-okzidentalen Humanismus in unserer Zeit, jenes Humanismus, den der Dictionnaire der Académie Française offenbar im Blick auf gewisse Phänomene des 14. und des 16. Jahrhunderts definiert als „une culture d’esprit et d’âme, qui résulte de la familiarité avec les littératures classiques, notamment la grecque et la romaine [eine Kultur des Geistes und der Seele, die aus der Vertrautheit mit den klassischen Literaturen resultiert, insbesondere der griechischen und der römischen].“? Er wäre, von daher gesehen, eine Art von geschichtlicher Erbschaft, die wir zu erwerben hätten, um sie zu besiegen: un idéal de noblesse individuelle, que l’on voudrait voir devenir celui des collectivités [ein Ideal individueller Vornehmheit, von dem man sich wünscht, dass es zum Ideal der Gemeinschaften wird]. Von, selbst wenn man sich auf diesen Boden stellen wollte, blieb die Frage zu entscheiden, ob unter dieser Erbschaft mehr eine gewisse, durch jene Tradition bestimmte Haltung (attitude) oder mehr eine bestimmte philosophische Lehre, eine Anthropologie, zu verstehen sei wobei sich dann die Geister an der Frage: welche ,,klassische“ Anthropologie für uns in Frage kommen möchte die platonischer die aristotelische die stoische? – noch einmal scheiden konnten und deutlich geschieden haben. Mann konnte und wollte aber meistens durchaus nicht auf jenem Boden stehenbleiben. Der neue Humanismus werde mit alten Texten überhaupt nichts mehr zu tun haben, hat man uns zugerufen. Und auch, wo man nicht so weit ging, meinte man mindestens mit der seit dem 16. Jahrhundert eingetretenen Veränderung besonders des naturwissenschaftlichen Weltbildes und Menschenbildes ernstlich rechnen zu müssen und so auch mit der seither in unser europäisches Bewusstsein getretenen Existenz von so und so viel in ihrer Weise wahrhaftig auch respektablen orientalischen Humanismen. Man hat von da aus geradezu gesagt: Humanismus bestehe in der aufgeschlossenen Kenntnisnahme von – anderen Humanismen! Man hat ihn aber auch sonst mit Vorliebe negativ definiert: er bestehe in der Abwesenheit von allen „exklusiven“ Dogmen, in einer grundsätzlichen geistigen Öffnung nach allen Seiten, man hat ihn als das sich in der Geschichte fortwährend wandelnde Selbstverständnis des Menschen beschrieben. Man hat ihn also mit der Freiheit, man hat ihn schlicht mit dem Menschen selbst oder mit dem menschlichen Leben gleichgesetzt. Man hat ihn aber – wo man eben über die wahre Freiheit und eben über das wirkliche menschliche Leben genauer und positiver orientiert zu sein meinte – doch auch einfach im Kommunismus oder – bei milderer Gesinnung in der Genossenschaftsbewegung wiederzuerkennen behauptet. Eine besonders kühne Definition lautete: „l’humanisme c’est ce que l’on met dedans [der Humanismus ist das, was man hineinlegt]“, während eine andere Stimme vorsichtiger vernehmen liess: er sei „une réflexion critique sur l’homme, de l’homme sur soi-même, sur la condition humaine [eine kritische Reflexion über den Menschen, des Menschen über sich selbst, über die menschliche Existenz].“. Es schien offenbar auch im Kreise jener vielfach geschulten und gebildeten und gutwilligen Menschen bei aller Menschlichkeit ihres Austausches nicht möglich zu sein, auch nur gemeinsam zu fixieren, von was man eigentlich reden wollte, wenn man vom „Humanismus“ redete. Wer hatte nun recht: der Mann, der geruhsam erklärte, der Mangel an einer Definition des Humanismus mache ihn durchaus nicht schlaflos oder der andere Mann, der eben in dieser Sorglosigkeit („C’est le drame“) die Tragik der Situation erblicken zu müssen meinte?

Und kann man es den beteiligten Theologen übelnehmen, wenn sie der Auseinandersetzung zwar in aufrichtiger und auch aktiver Beteiligung folgten und nun doch nur in einem gewissen Abstand und Befremden folgen konnten aber lassen Sie mich darauf nachher zurückkommen, scheint mir nämlich am Platz zu sein, ohne zunächst anhand einiger wichtiger Beispiele noch etwas konkreter zu veranschaulichen, was hinsichtlich des Humanismus in Genf ans Licht – und nicht ans Licht – gekommen ist.

Humanismus sei, so wurden wir dort grundlegend belehrt, die aus der Kombination griechischer und römischer, jüdischer und christlicher Mentalität und Überlieferung hervorgegangene Überzeugung vom Wert der menschlichen Person in ihrer Einheit von Herz und Gehirn, Wissen und Gewissen. Seine Grundlage sei der Glaube an den Menschen, sein entscheidendes Anliegen das Recht des Individuums im Rahmen freiheitlicher Institutionen, sein Ideal der Weltbürger im Stil von Leonardo, Erasmus, Leibniz, Goethe. „Oublions pour une seconde, que nous sommes israélites, chrétiens, libres penseurs, libéraux ou marxistes [vergessen wir für eine Sekunde, dass wir Israeliten, Christen, Freidenker, Liberale oder Marxisten sind]“. Dieser Humanismus ist doch unser gemeinsames Erbe. „Libre à chacun de nous d’en rechercher de préférance les origines au Parthénon ou sur une montagne de Galilée! [es steht jedem von uns frei, dessen Ursprünge vorzugsweise im Parthenon oder auf einem Berg in Galiläa zu suchen!]“ Entscheidend nötig sind diesem Humanismus zwei Erweiterungen: dass er sich, dem Vorbild des großen Goethe folgend, die allge­meinen Hypothesen der heutigen Naturwissenschaft integriere und dass er seine mediterrane Enge preisgebe und in Kontakt und Austausch trete mit dem Humanismus des Islam, Indiens, Chinas und Japans und also zum „planetaren Humanismus“ werde. Wobei als Drittes hinzuzufügen wäre: dass er nicht der Humanismus einer privilegierten Elite bleibe, dass also dafür gesorgt werde, es jedem Menschen möglich zu machen, „de se consacrer, quelques instants chaque jour au meilleur de lui-même, pour lui permettre comme diraient les Indiens, de retrouver en lui son propre atman [sich jeden Tag einige Augenblicke dem Besten in sich selbst zu widmen, um ihm zu ermöglichen, wie die Inder sagen würden, in sich sein eigenes Atman wiederzufinden.]“. Das Problem oder die Probleme seien schwierig, meinte René Grousset, sie seien aber nicht unlösbar, aus der Ansicht, dass die Welt verständlich (intelligible) und der Mensch verbesserungsfähig (perfectible) sei, beruhte auch eine zweite uns in Genf vorgetragene Deutung des Humanismus, die dann aber doch sehr viel weniger optimistisch fortfuhr und ausklang als jene Erste. Der Mensch unterscheidet sich nach ihr dadurch vom Tier, dass er nie auf die Länge unter denselben Lebensbedingungen existieren kann. Aus seinem Drang nach Veränderung ergibt sich der kulturelle und zivilisatorische Fortschritt, ergeben sich aber auch viel Leiden, die Trennungen zwischen den Völkern, der Krieg. Nicht der Verstand, sondern allein das Gewissen unterstützt von einer auf schlichter Beobachtung bedachten Anthropologie im Sinne von Lévy-Brühl – kann hier eine gewisse Gerechtigkeit garantieren. Aber das eben ist unser okzidentales Elend, dass Gewissen und Verstand – und das bedeutet dann auch: Treue und Fortschritt, Religion und Metaphysik, Konkretion und Abstraktion bei uns seit Jahrhunderten (entscheidend seit dem 16.) getrennte Wege gegangen sind. Der alte, echte Orient, der auch unsere Heimat ist, weiß noch um ihre Einheit. Auch die Russen, auch die Deutschen (die deutsche Romantik!) kennen sie noch. Während die Franzosen nach Paul Masson-Oursel das am wenigsten „indische“ Volk sind: „logizisiert“, ausgetrocknet durch den cartesianischen Rationalismus – als ob ein Volk von der Formel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ leben könnte! „Nous sommes presque morts, pauvres Français, que nous sommes, d’avoir oublié qu’il est criminel nel de séparer la raison de la vie. [Wir sind beinahe zugrunde gegangen, wir armen Franzosen, weil wir vergessen haben, dass es verbrecherisch ist, die Vernunft vom Leben zu trennen.]“

Aber nun, als dritte eine ganz andere Kunde: Was ist Humanismus; Antwort: der Mensch der freie, der „totale Mensch“ nämlich: er, der Träger aller Werte, er und er allein das wahrhaft reale Wesen, das im Lauf und in der Konsequenz seiner Geschichte die Natur, die Welt und mit Natur und Welt sich selbst verwandelt. Was stört, was hindert ihn? Was entfremdet ihn dem Weg zu seinem Glück, zur Realisierung seiner Möglichkeiten und so sich selber? Was isoliert ihn als Individuum und macht ihn zur unpersönlichen Masse: Was trennt Mann und Frau, Stadt und Land, geistige und körperliche Arbeit, Klasse und Rasse, den Menschen und die Sachen: Eines und nur Eines: das Privateigentum an den Produktionsmitteln! Aber die Geschichte, d. b. der soziale Arbeitsprozess, geht ja weiter und weiter, und seine innere Logik braucht nur verstanden und tätig bejaht zu werden; es braucht sich der totale Mensch als das wahre Subjekt der Geschichte nur zu erfassen und in Marsch zu setzen, um jener tiefsten Ursache aller Entfremdung und damit dieser Entfremdung selbst Herr zu werden, jene Trennungen samt und sonders zu überwinden. Und eben das ist es, was er heute in der Gestalt des proletarischen, des kommunistischen den, des sowjetischen Menschen siegreich zu tun im Begriffe steht. „Le communisme“ – so hat uns Henri Lefèbvre zum Schluß in den Worten von Karl Marx zugerufen – „c’est le retour de l’homme à lui-même en tant qu’homme social, c’est- à-dire l’homme enfin humain, retour complet, conscient, avec toute la richesse du développement antérieur Le communisme coïncide avec l’humanisme. [Der Kommunismus ist die Rückkehr des Menschen zu sich selbst als sozialem Menschen, das heißt des endlich menschlichen Menschen — eine vollständige, bewusste Rückkehr mit all dem Reichtum der vorhergehenden Entwicklung … Der Kommunismus fällt mit dem Humanismus zusammen.]“

Nach den drei Franzosen ein Engländer: J. B. S. Haldane, auch er ein Kommunist, doch lyrischer und auf marxistische Orthodoxie sichtlich weniger bedacht als ein französischer Freund – unermüdlich darin, sich selbst als „biologiste“ vorzu­stellen, aber von imponierender Vertrautheit auch mit dem ,,klassischen“ Humanismus – er (nicht ohne die Merkmale einer gewissen Skurrilität) vielleicht die originellste Figur des Genfer Symposions. Was ist Humanismus: Sich als vernunftbegabtes Wesen im siderischen und tellurischen Universum zuhause, sich selbst als Materie fühlen – stolz darauf sein, ein Tier, ein Säugetier zu sein – ohne Furcht vor Schmerz und Tod teilnehmen an der Eroberung unseres Planeten für das Leben, was für den Menschen bedeutet: denken, und zwar biologisch denken! Denn Biologie – des Menschen nicht nur, sondern der Pflanzen und der Tiere – erkennt die Natur nicht nur, sie erlaubt und gebietet uns nicht nur, sie zu verändern, sie führt auch von selbst zur Moral, zur Forderung einer Gesellschaft, die einem Jeden Lebensrecht gewahrt, auch zu Revolutionen, bei denen es freilich ohne ein wenig „Intoleranz“ nicht abgehen wird. Aber der Protestantismus war ja auch einmal intolerant. Und der Kommunismus wird sicher auch einmal tolerant werden. Entscheidend ist, dass ein Jeder sich selbst in seiner persönlichen Innenwelt als Reflex der größeren, der äußeren Welt verstehe! Sind mystische Erfahrungen möglich, so find sie doch als solche nicht aussprechbar. Gibt es eine übermenschliche Vernunft so ist jedoch der Wissenschaft auch nicht in der kleinsten Spur bemerkbar, so scheint sie jedenfalls mit unseren Angelegenheiten nicht beschäftigt zu sein. Wer sich auf Offenbarungen beruft, der erinnere sich, dass die Weissagungen der Propheten in der Regel nicht eingetroffen sind. Gibt es eine Hierarchie in der Natur, eine Teleologie der Geschichte, eine besondere Berufung des Menschen, so ist das alles jedenfalls nicht nachweisbar und uns zu wissen auch nicht nötig. Mag und muss die Menschheit, wie es auch die Batterien tun, gegen die anderen Elemente des Universums im Kampfe liegen, so wäre es doch ein Mangel an Demut, diesen Kampf – und so auch den Kampf für eine klassenlose Gesellschaft – für den Sinn des Universums zu halten. Wie dem wegen seiner übertriebenen Betonung des individuellen Bewusstseins auch der Existentialismus abzulehnen ist.

Und nun zum Schluss noch die Stimme deutscher Philosophie Was ist der Mensch: Er ist mehr als das, was er von sich selbst wissen kann; er ist nicht nur Objekt, er ist frei. Er ist es, indem er sich, selbst geschenkt ist, in der Transzendenz, die er sich nicht nehmen noch geben kann, die ihm aber auch nie fehlen wird, deren er freilich auch nie sicher sein darf und kann. Der Mensch ist, indem er sich je für sein eigenes Sein entscheidet. So ist er nie total, immer unvollendet und unvollendbar, immer nur im Schritt in eine unbekannte Zukunft hinein, aber eben darum auch nie zur Verzweiflung verurteilt. Er steht heute, im Zeitalter der Technik, in Gefahr, sich selbst zu verlieren, zum Rad an einer Maschine zu werden. Es wird darum gehen müssen, die Technik umgekehrt äußerlich und innerlich in den Dienst des menschlichen Lebens zu stellen. Auch die Politik ist heute skrupellos, mechanisch, schicksalshaft geworden. Es wird darum geben, die Freiheit und die Ordnung gegenüber der Despotie und der Anarchie als überlegene Macht auf den Plan zu führen. Die alte „westliche Welt“, der Gott eines Allen gemeinsamen Glaubens, der Mensch eines für alle gültigen Ideals sind uns heute abhanden gekommen. Was wir nötig haben, ist eine neue doktrinale Basis, ein neues Ganzes von Begriffen und Symbolen an Stelle des für die meisten unannehmbar gewordenen Katholizismus. Wir suchen danach. Wir haben es aber noch nicht gefunden. Unterdessen ist heute die Menschheit als Ganzes bedroht. Überall Zerstörung, überall Schlusspunkte aber eben das ist heute auch unsere besondere Chance. Und wenn wir nichts wissen, so willen wir jedenfalls auch das nicht, dass wir wirklich verloren sind. Uns bleibt doch die so ehrenvolle Tradition des Abendlandes. Man pflege sie und verbinde sie realistisch – aber ohne inhuman zu werden! – mit den sozialen Anforderungen der Gegenwart und mit den geistigen Traditionen des Ostens. Das ihrem Bild entsprechende Individuum hat sich zu allen Zeiten – von Jesaja über Sokrates und Jesus bis zu Spinoza und Kant zu behaupten gewusst und wird es auch fernerhin tun: in seiner freien und doch verantwortlichen, der Fiktion und der Lüge sich doch entziehenden, doch in Kommunikation mit den anderen existierenden und doch in der Transzendenz begründeten Menschlichkeit. Denn die Gottheit, auf die die Philosophie — ohne Auftrag und Autorität nur eben verweisen kann, ist im Unterschied zu dem besonderen Gott besonderer Offenbarung, den die Kirche verkündigen zu müssen meint die zu jedem einzelnen Menschen als solchem sprechende Transzendenz. Die Philosophie kann den Menschen nur auf sie aufmerksam machen. Sie kann ihn nur ordentlich denken lehren. Sie kann ihn nur anleiten zur Befreiung von allen Absolutheiten. Sofern sie das tut, mag sie mit dem Gebet der Offenbarungsgläubigen verglichen werden. Es bleibt aber das menschliche Leben ein dauernder Versuch. Wir folgen einem Stern, der uns doch nur kraft der Klarheit unserer eigenen Entscheidung leiten wird. Wir sagen Ja zum Leben, als ob wir eine Hilfe aus der Tiefe hätten, die uns wenigstens den Trost bedeutet, dass wir, was wir gut gewollt haben, nicht umsonst, sondern in einer Beziehung zum Sein gewollt haben dürften. – So die uns in Genf vorgelegte Summe der Existenzphilosophie von Karl Jaspers.

Ich breche meinen Bericht, der ja nur Beispiele bieten sollte, ab, übergehe also mit einigen anderen auch die beiden theologischen Vorträge, die in Genf – von dem französischen Dominikanerpater Maydieu und von mir selbst gehalten worden sind. Es sei ausdrücklich festgestellt, dass auch wir dort freundlich, aufmerksam und respektvoll angehört worden sind. Einiges von dem, was vom theologischen Ort aus zu dem, was Sie eben suchen. weile gehört haben, zu jagen ist, möchte ich Ihnen hier in Form von einigen freien Reminiszenzen und Reflexionen anzudeuten versuche

1. Mein katholischer Nebenmann und ich waren auffallenderweise – neben wichtigerem –auch darin einig, dass wir den von den anderen Teilnehmern vorgetragenen Konzeptionen nicht etwa die eines „christlichen Humanismus“ an die Seite und gegenüberzustellen hatten. Ich sage: auffallenderweise – weil ich es für wahrscheinlich halte, dass manche anderen Vertreter der römisch-katholischen Kirche eben das getan hätten, was auch Pater Maydieu in Genf unterlassen hat. „Christlicher Humanismus“ ist ein hölzernes Eisen; das hat sich noch bei jedem Versuch in dieser Richtung gezeigt. Man müsste sich dieses Versuchs nur schon darum enthalten, weil die Worte mit der Endung „ismus“ für eine ernsthafte theologische Sprache eigentlich alle unbrauchbar sind. Sie reden von Prinzipien und Systemen. Sie proklamieren eine Weltanschauung oder eine Moral. Sie fündigen die Existenz irgendeiner Front oder Partei an. Das Evangelium ist aber weder Prinzip noch System noch Weltanschauung noch Moral, sondern es ist Geist und Leben, gute Botschaft von Gottes Gegenwart und Werk in Jesus Christus. Und es bildet auch keine Front oder Partei auch nicht zugunsten einer bestimmten Auffassung vom Menschen sondern es baut Gemeinde und diese zum Dienst unter allen Menschen. Zentral um den Menschen geht es freilich auch im Evangelium. Aber was von ihm her vom Menschen, für den Menschen (auch gegen den Menschen!) und zum Menschen zu sagen ist, fängt dort an, wo die verschiedenen Humanismen aufhören; oder es hört dort auf, wo diese anfangen. Man kann von ihm her sie alle verstehen, ein gutes Stück weit bejahen und gelten lassen. Mein katholischer Nachbar bat in Genf – was ich so schön nicht gekonnt hätte – geradezu ein Loblied auf den „schöpferischen Menschen“ angestimmt. Aber man muss vom Evangelium her schließlich auch allen Humanismen widersprechen: eben darum, weil sie Humanismen, abstrakte Programme sind. Die Theologie konkurriert nicht mit ihnen. Sie hat ihnen kein Gleiches oder ähnliches gegenüberzustellen. Sie kann den Begriff des Humanismus wohl aufnehmen, obwohl er ursprünglich ohne sie, ja gegen sie gebildet worden ist. Sie kann aber für seine Definition keine Verantwortung übernehmen. Sie kann nicht verheimlichen, dass sie sich nicht wundern würde, wenn seine Definition sich letztlich als undurchführbar erweisen sollte. Er schmeckt nun einmal zugleich nach ein bisschen Gottlosigkeit und nach ein bisschen Götzendienst. Ich selbst habe in Genf – eben um das Thema der Konferenz aufzunehmen, aber in bewusster Umgebung des historischen und abstrakten Sinnes dieses Begriffes – vom „Humanismus Gottes“ gesprochen, worunter aber gerade eine vom Menschen erdachte und betätigte Menschlichkeit zu verstehen sein sollte, sondern die Menschenfreundlichkeit Gottes als die Quelle und Norm aller Menschenrechte und aller Menschenwürde.

2. Pater Maydieu hat in Genf das Licht seines katholischen, thomistischen Denkens einen Augenblick unter den Scheffel gestellt, und ich denke, dass ich selbst dort ebenso unverhohlen als protestantischer Theologe gesprochen habe. Das Publikum hat den Unterschied wohl bemerkt, und der ,,bösere“ der beiden beteiligten Marxisten hat denn auch nicht verfehlt, ausdrücklich und nicht ohne Schadenfreude darauf aufmerksam zu machen, wobei es den Anschein hatte, als hätte der Protestant – wenigstens als menschlich sympathischer Vertreter einer „pensée qui va jusqu’au bout [konsequent zu Ende gedachter Gedanke]“ – relativ größere Gnade vor seinen Augen gefunden. Aber eigentlich bemerkenswert war in Genf nun doch nicht die Verschiedenheit der konfessionellen, sondern die für diesmal trotz allem nicht zu verkennende Einheit der christlichen, der theologischen Positionen allen anderen gegenüber. Sie ist besonders von Karl Jaspers sehr deutlich empfunden worden, der beim Katholiken wie bei mir — wir mochten uns erklären und nuancieren wie wir wollten – nur denselben ihm schrecklichen Absolutheitsanspruch dessen, was er ,,Offenbarungsreligion“ nennt, zu wittern vermochte. Ich werde auf diese Sache noch zu reden kommen. Es war jedenfalls in der Tat nicht zu übersehen, dass inmitten all der klaffenden Widersprüche der verschiedenen Humanismen die christliche Sicht des Problems – sie konnte sich selbstverständlich nicht durchsetzen – bei aller inneren Differenzierung mindestens den Vorzug einer gewissen Einheitlichkeit hatte. Sie war merkwürdigerweise entschieden auch größer als die, in der sich der Maxismus in seinen beiden Vertretern dort dargestellt hat. Dachte Pater Maydieu mehr von unten nach oben und ich mehr von oben nach unten, so trafen wir doch beide in dem Punkt zusammen, dass das Problem des sogenannten „Humanismus“ in Jesus Christus grundsächlich beantwortet ist und dass aller neue Humanismus“ nur darin bestehen kann, dass der Mensch im Spiegel dieses Einen zugleich das Gesicht des einen wirklichen Gottes und das Gesicht des einen wirklichen Menschen wiedererkennt. Der Vorgang erinnerte an die Erfahrung der Amsterdamer Konferenz von 1948: der christliche Boden ist gewiss auch ein sehr menschlicher Boden. Er hat aber – im Unterschied zu dem der UNO wie zu dem der UNESCO wie zu dem solcher freien Geisteskongresse – die Eigenschaft, dass man auf ihm auch von den bekannten weit abweichenden Standpunkten her nun doch nicht nur menschlich miteinander reden und menschlich aufeinander hören, sondern gerade in den letzten Fragen wirklich ,,Kommunikation“ finden und betätigen und weithin in anderen Worten dasselbe sagen kann. Nicht, weil die Christen und Theologen besonders vortreffliche und kluge, oder auch nur besonders friedfertige Kreaturen waren, wohl aber, weil es auf diesem Boden eine den menschlichen Widersprüchen überlegene Freiheit und Bindung gibt, die unmöglich unsichtbar bleiben kann.

3. Ich nehme an, dass mein Bericht über jene fünf Beispiele auch Ihnen einen Eindruck verschafft hat von der eigentümlichen Amphibolie, Relativität und Zweideutigkeit der Gefühle und Aspekte, zwischen denen man in jenen zehn Tagen in Genf fortwährend hin und hergeworfen war: Optimismus, aber ein etwas müder, kränklicher, weder überzeugter noch überzeugender, sondern sich selbst und seine Behauptungen direkt oder indirekt fortwährend in Frage stellender Optimismus bei den Einen – bei den anderen Pessimismus, aber ein seltsam vornehmer, geistreicher, eleganter – um nicht zu sagen amüsanter – sich selbst offenbar auch nicht ganz ernst nehmender Pessimismus – und oft genug Beides in der gleichen Brüchigkeit in einer und derselben Person, in einem und demselben Vortrag oder Votum! Wie selten die Augenblicke, in denen jener vielberufene ,,Glaube an den Menschen“ wenigstens nach meinem Empfinden zum Beispiel da und dort in den Voten des Kommunisten Lefèbvre – den Eindruck von subjektiv echter Freudigkeit machte! Und wie selten die anderen Augenblicke von gewissem Seufzen, die – wie etwa die von Paul Masson-Oursel über seine rationalistischen Franzosen – wenigstens aus tiefstem Herzen zu kommen schienen! Aber wie sollte man es denn sachlich ernst nehmen, wenn ums Karl Jaspers – dem ich damit gewiss nicht zu nahe treten möchte – zuerst versicherte, dass die heutige Welt ein geradezu infernalisches Chaos geworden sei, um uns nachher doch damit zu trösten: wir wüssten ja auch das nicht sicher, dass wir wirklich verloren seien? Ich frage: ist da der wirkliche Mensch der Mensch von heute, überhaupt in Sicht gewesen? Sollte er nicht etwa in irgendeinem von den Memoirenbüchern aus den letzten zwanzig Jahren ohne philosophische Zutat tatsächlich besser zu sehen sein? Aber konnte er da überhaupt in Sicht kommen, wo einerseits das Problem der Schuld in allen jenen zehn Tagen überhaupt nicht berührt, das Problem des Todes gerade nur ein bisschen hochmütig gestreift wurde – so aber anderseits auch niemand aus einer eigentlichen, tröstlichen Gewissheit und Hoffnung heraus reden konnte: denn die marxistische Gewissheit und Hoffnung von Henri Lefebvre war nun doch wieder zu krampfhaft zu fanatisch, zu untröstlich, als dass sie hier als Ausnahme genannt werden könnte. Merkwürdig genug, dass gerade er die Wirkung meines Vortrages auf ihn mit folgenden Worten beschrieben hat:

J’ai senti passer en moi une espèce de frémissement religieux, le sentiment du péché. Repentez-vous! J’ai senti ce mélange de terreur et d’espérance, qui est, depuis des dizaines de siècles, le fond de l’émotion religieuse. [In mir ging eine Art religiöses Beben vorüber, das Gefühl der Sünde. Bereut! Ich spürte dieses Gemisch aus Schrecken und Hoffnung, das seit Jahrtausenden der Kern des religiösen Empfindens ist.]“

– Ja, depuis des dizaines de siècles [seit Dutzenden von Jahrhunderten], genauer gesagt: seit neunzehnhundert Jahren! Henri Lefèbvre hat natürlich nicht daran gedacht, sich zu ,,bekehren“. Aber er schien doch das Problem wenigstens einen Moment lang wenigstens von ferne gesehen zu haben: das Problem, das diese Tagung belastete, das aber doch wohl alle derartigen heute geführten Diskussionen so ausweglos macht: Wie kann man von dem, was mit dem Stichwort „Humanismus“ gemeint sein möchte, vom wirklichen Menschen der Gegenwart und von seiner Zukunft fruchtbar reden, wenn man davon, dass er effektiv verloren, aber auch effektiv gerettet ist, wenn man von dem eigentlichen Schrecken und der eigentlichen Hoffnung nichts weiß und auch nichts wissen will? Der wirkliche Mensch aller Zeiten ist nun einmal, im Spiegel Jesu Christi erkennbar, der verlorene aber auch gerettete Mensch. Wie kann ein Gespräch über ihn auch nur einen sinnvollen Anfang nehmen, wenn man vor dem christlichen Bekenntnis, das von Gottes Gericht und Gnade redet, bockt wie ein scheues Pferd, wenn man ihm nichts als die sentimentale Klage über seine „Exklusivität“ entgegenzusetzen hat, um sich dann aufs neue in jene Zweideutigkeiten, in jene laukühle Region des halben Ernstes und der halben Beruhigungen zu flüchten, die sich zwischen dem eigentlichen, dem aufrichtig zu fürchtenden Schrecken und der eigentlichen, der zuversichtlich zu ergreifenden Hoffnung irgendwo in der Mitte oder vielmehr unter der Mitte in einer obskuren Tiefe befindet?

4. Ja, die „Exklusivität“ der christlichen Botschaft und Theologie! Sie hat in Genf besonders in der Vorstellung meines verehrter Basler Kollegen Jaspers, aber offenbar auch in der weiter Kreise des dortigen Publikums eine beträchtliche Rolle gespielt. Da half keine thomistische Milde und Weitherzigkeit, mit der Pater Maydieu immer wieder sein Sprüchlein, und da half auch kein, wie es hieß, ,,baslerischer Humor“, in dem ich das meinige sagen wollte. Da waren offenbar Etliche, die trotz allem die größte Angst hatten und nicht loswurden, ihnen könnte an Ort und Stelle das Schicksal Servets bereitet werden: nur weil wir beide am entscheidenden Punkt allerdings nicht verleugnen konnten, sondern wohl oder übel bekennen mussten. Ich kann hier eine allgemeine Erwägung nicht unterdrücken: Es war nun seit etwa 250 Jahren so, dass die Theologen – nicht alle, aber viele Theologen – vor den Philosophen, den Historikern, den Naturwissenschaftern und ein wenig vor dem Liberalismus und Skeptizismus aller übrigen Akademiker wegen der von ihnen zu befürchtenden Kritik Angst, ihnen gegenüber einen richtigen, wenn auch mehr oder weniger verhüllten Minderwertigkeitskomplex, hatten. Diese Angst hat in der Theologie dieser 250 Jahre viel Schaden angerichtet. In Genf nun habe ich dasselbe Phänomen, eine Art Minderwertigkeitskomplex, zum ersten Mal deutlich wiederum nicht bei allen, aber eben bei etlichen auch auf der Gegenseite festgestellt. Sie sind uns mit Ausnahme des wirklich aufklärerischen Engländers Haldane kaum mit einer bemerkenswerten sachlichen Kritik unserer Sätze entgegengetreten. Das 18. und das 19. Jahrhundert lagen in dieser Hinsicht sichtlich hinter ihnen. Sie fürchteten aber von uns – ich weiß nicht, welche Verurteilungen, Verbannungen, Verfluchungen ihres Unglaubens. Sie wollten durchaus nicht bemerken, dass weder Pater Maydieu noch ich, in unseren Vorträgen etwas Derartiges auch nur angedeutet hatten. Sie wollten es uns auch durchaus nicht abnehmen, wenn wir ihnen sagten, dass ein Christ und Theologe mit seinem eigenen Unglauben notwendig viel mehr beschäftigt sei als mit dem der anderen Leute, mit denen er sich in dieser Hinsicht viel mehr nur zu solidarisch wisse. Wir bekamen nur immer wieder zu hören, dass der „Absolutheitsanspruch“ der offen. Offenbarungsreligionen“ eine schreckliche, eine gefährliche, eine unerträgliche Sache sei. Welches Blatt beginnt sich da zu wenden? Soll es in Zukunft zwischen uns Theologen und den anderen so zugeben wie in jener Szene in Mozarts „Zauberflöte“, wo der Vogelfänger Papageno und der Mohr Monostatos mit den Worten „Das ist der Teufel sicher­lich! Hab Mitleid, verschone mich! Hu! Hu! Hu!“ gegenseitig entsetzt voreinander die Flucht ergreifen? Oder wäre es – als Voraussetzung alles Weiteren – nicht an der Zeit, sich auf beiden Seiten einmal gründlich von aller Furcht freizumachen? In Genf also war es – und diesmal gerade bei den würdigen Vertretern des neuzeitlichen Liberalismus – noch nicht so weit. Und was das Schlimmste war: wir Theologen kamen in dieser Hinsicht in den Augen nicht weniger in die unmittelbare Nähe der Kommunisten zu stehen! Ich zitiere wörtlich, was ein Diskussionsredner in diesem Sinne vorgebracht hat:

Depuis le début je me sens pris entre deux mâchoires: d’une part, le professeur Barth et le R. P. Maydieu nous disent: Convertissez-vous et tout sera simple!; d’autre part, Henri Lefèbvre répond: Imitez l’homo sowjeticus, ou tout au moins consultez le secrétaire de cellule et cela ira également très bien! Je me trouve pris dans un dilemme où je reconnais deux fois religieuses … qui, par certains côtés au moins, ont ceci de commun, qu’elles sont le prolongement du messianisme d’Israel. [Seit Anfang an fühle ich mich zwischen zwei Mühlsteinen eingeklemmt: Einerseits sagen uns Professor Barth und Pater Maydieu: Bekehrt euch, und alles wird einfach!; andererseits antwortet Henri Lefèbvre: Imitiert den homo sowjeticus, oder konsultiert zumindest den Zellensekretär, und dann wird ebenfalls alles sehr gut gehen! Ich befinde mich in einem Dilemma, in dem ich zwei religiöse Haltungen wiedererkenne … die, zumindest in mancher Hinsicht, eines gemeinsam haben: dass sie die Fortsetzung des Messianismus Israels darstellen.]“

Es musste in der Tat schrecklich sein, sich so in die Mitte genommen zu sehen: zwischen das drohende Jüngste Gericht und vielleicht den Scheiterhaufen Servets auf der einen und die drohende Diktatur des Proletariats und die Verbannung nach Sibirien auf der anderen Seite – wenn man nämlich das sein und bleiben wollte, als was sich dieser Redner dann ausdrücklich bekannte: ein Humanist, der seine Ehre darein setzt, ein „Agnostiker“ d. b. aber ein Mann zu sein, der sich dahin entschieden hat, sich nicht zu entscheiden, keine präzise Verantwortung zu übernehmen. Der Geist der als ,,Agnostizismus“ vornehm verkleidet Flucht vor Entschei­dung und Verantwortung war vielleicht auch eines von den Geheimmissen der gewissen Stagnation, in der wir in Genf dem Problem des Humanismus und des neuen Humanismus gegenüberstanden. Es ist klar, dass der Dominikaner und ich bei dieser Flucht nicht gut mittun konnten und eben darin – ceteris imparibus – den Kommunisten ein bisschen ähnlich sehen mussten. Denn, was man die „Exlusivität“ der christlichen Botschaft und Theologie nennt, besteht – und das mag sie denn mit dem Kommunismus formal in der Tat gemeinsam haben – von ihr aus gesehen darin, dass sie zur Entscheidung und Verantwortung, zum Glauben und zum Gehorsam aufruft: von Fall zu Fall, aber nicht nur von Fall zu Fall, sondern auch grundsätzlich und auf die Dauer – zu freier, aber zu verbindlicher Entscheidung und Verantwortung zu der Freiheit, die darin am höchsten und wahrhaft Freiheit ist, dass gerade der freie Mensch sich in aller Serenität berufen, eingeordnet, verpflichtet weiß. Nicht der „Messianismus Israels“ ist der Sinn und Grund dieser Freiheit. Gott behüte uns auch vor diesem -ismus! Ich weiß nicht, ob er vielleicht eine Wurzel des Kommunismus ist. Es kann sein. Der Sinn und Grund der christlichen Botschaft und Theologie ist jedenfalls – noch einmal gesagt: jenseits aller Prinzipien und Systeme, aller Weltanschauungen und Moralen nicht der Messianismus, wohl aber der Messias, d. b. der Christus Israels. Wenn das Bekenntnis zu ihm als dem alleinigen Retter der Welt „Exklusivität“ zu nennen war, dann mussten wir uns diesen Vorwurf eben gefallen lassen. Niemand ist zu diesem Bekenntnis gezwungen. Es hat aber auch keinen Sinn, sich als Christ auszugeben, wenn man die Freiheit zu diesem Bekenntnis aus irgendeinem Grund nicht zu haben meint. Es ist übrigens in Wahrheit das inklusive, das grundsätzlich jedem Menschen zugewendete und offene Bekenntnis. Die christliche Kirche kann nicht vom Himmel herab, sondern nur auf Erden und selber irdisch reden. Sie hat aber in der ihr damit gebotenen Bescheidung zum Problem des Humanismus heute wie von jeher nun einmal das zu sagen – exklusiv und inklusiv zugleich das, alles andere inbegriffen darin, alles andere von da aus:
Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria virgine et homo factus est [Und er hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist aus Maria, der Jungfrau, und ist Mensch geworden].

Vortrag gehalten in Zürich am 2. Februar 1950.

Quelle: Karl Barth, Humanismus, Theologische Studien 28, Zollikon-Zürich: EVZ, 1950, S. 13-28.


[1] Die vollständige Wiedergabe der Vorträge und Diskussionen dieser Tagung ist inzwischen unter dem Titel „Pour un nouvel humanisme“ in der Editions de la Baconnière, Neuchâtel, in Buchform erschienen. Der Leser dieses Vortrags hat also die Möglichkeit zu kontrollieren, ob meine Darstellung in Ordnung ist.

Hier der Text als pdf.

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