Karl Barth, Der Sinn des kirchlichen Fortschritts (1939): „Weil auch das wahr ist, dass wir zwar Zeit haben, aber bald keine Zeit mehr haben werden, darum muss es in der Kirche mitten in der Evo­lution immer auch Revolutionen geben, genauer ge­sagt: Reformationen, d. h. Erneuerungen, Wieder­herstellungen von Grund aus, Rückgriffe, bzw. Vor­griffe auf den Grund und das Ziel der Kirche in Jesus Christus, radikale Besinnungen auf jenes Eine, im Wechsel der Zeiten Beharrende, das nun doch so einfach, wie Vinzenz von Lerinum es sich ge­dacht hat, der Kirche nicht zur Verfügung steht, das vielmehr nach einem Worte Calvins in ‚vielen Auferstehungen‘ der Kirche neu geschenkt, aber auch von der Kirche selbst immer neu erbetet, erkannt, erobert werden muss.“

Der Sinn des kirchlichen Fortschritts (1939)

Von Karl Barth

Als ich eingeladen wurde, in diesem Winter einen Bernoullianums-Vortrag zu halten, da habe ich, ohne lange zu wählen, nach dem Begriff „Kirchlicher Fort­schritt“ gegriffen, weil er gerade hier in Basel wohl jeder­mann gelegentlich in der Zeitung begegnet, weil sich wohl manche schon gefragt haben, was wohl darunter zu ver­stehen sein mochte, und weil es Sache des Theologen sein dürfte, sich selbst und anderen über die mögliche Beant­wortung einer solchen deutlich mit der Kirche zusammen­hängenden Frage Rechenschaft abzulegen.

Die Sorge soll laut oder doch halblaut geworden sein, ich könnte es mir einfallen lassen, diesen heiligen Raum und diese Veranstaltung zu entweihen durch eine Aus­einandersetzung mit der kirchlichen Gruppe oder Richtung, die den Begriff des „kirchlichen Fortschritts“ im beson­deren auf ihre Fahne geschrieben hat. Ich beeile mich, zu erklären, daß diese Sorge ganz unnötig ist. Der Be­griff des „kirchlichen Fortschritts“ ist auch abgesehen von dem, was er auf jener Fahne bedeuten mag — ich ge­denke dem hier gerade nicht nachzugehen — eine inter­essante Angelegenheit, der in aller Ruhe und ohne alle Polemik einige Nachforschung zu widmen sich wohl lohnen dürfte.

Der moderne Begriff des „Fortschritts“ hat seinen Inhalt zunächst in anderen Sphären gewonnen als gerade in der der Kirche. Er enthält aber auch in seiner Anwendung auf Vorgänge in diesen anderen Sphären — wenn man etwa von politischem, wirtschaftlichem, technischem, moralischem Fortschritt redet — in seinem deutschen Wortlaut noch deutlicher als im Franzö­sischen oder Englischen einen Doppelsinn. „Fortschritt“ kann bedeuten: Fortfahren in der Bewegung des Schreitens, Vorwärtsschreiten. „Fortschritt“ kann aber auch bedeuten: Auf etwas zu und damit von etwas im Verlauf dieser Bewegung Zurückbleibendem fort schreiten, weggehen. Das eine kann nicht ohne das andere sein, und doch ergibt sich ein sehr ver­schiedener Aspekt derselben Sache, je nachdem man das erste oder das zweite betont. Betont man das erste, dann ist die Bewegung gesehen in der Konti­nuität, in der das eine, das sich bewegt, anders wird, ohne doch aufzuhören, das eine zu sein, um sich ge­rade in diesem Anderswerden als das eine zu be­tätigen und zu bestätigen. Betont man das zweite, dann ist die Bewegung gesehen als ein Abbrechen und Neuanfangen, als ein Opfern und Verlieren des Vergangenen und als ein wagendes Ergreifen des Zukünftigen. Der Sinn des Begriffs „Fortschritt“ in jenem allgemeinen Sinn hat also so etwas wie eine konservative und eine revolutionäre Seite. — Gibt es nun so etwas wie kirchlichen Fortschritt, so wird Zu fragen sein: ob und inwiefern auch er in diesem doppelten Sinn zu verstehen ist?

Und es enthält der moderne Begriff des Fort­schritts in seiner Anwendung auf Vorgänge in jenen anderen Sphären weiter eine Frage. Die Frage ist die, ob das so oder so zu verstehende Fortschreiten ein Fortschreiten vom Schlechten zum Bessern in sich schließe? Eben in seinem modernen Gebrauch schien der Begriff des Fortschritts als solcher dies lange Zeit als selbstverständlich in sich schließen zu wollen. Wir verstehen es heute wieder bester, daß ein Jere­mias Gotthelf und ähnliche Geister sich schon tief im vorigen Jahrhundert eben dieser hochgemuten Selbst­verständlichkeit widersetzen zu müssen glaubten. Es dürfte heute Einverständnis darüber herrschen, daß man nicht gut an den Fortschritt als solchen glauben kann, daß vielmehr jeder Fortschritt auf allen jenen Gebieten hinsichtlich dessen, ob er ein Fortschritt zum Besseren ist, grundsätzlich diskutabel ist und praktisch von Fall zu Fall diskutiert werden muß. — Gibt es nun auch einen kirchlichen Fortschritt, so wird auszu­machen sein: ob und inwiefern auch zu seinem Sinn diese Frage, die Frage nach dem Fortschritt zum Besseren, gehört?

Es enthält aber der moderne Begriff des Fort­schritts in seiner allgemeinen Anwendung endlich die wenigstens vordergründlich kaum in Frage ge­stellte Voraussetzung, daß das Subjekt des konser­vativen oder revolutionären, des vielleicht (vielleicht auch nicht) vom Schlechten zum Besseren gehenden Fortschritts der Mensch ist: das Menschengeschlecht in der Folge seiner Generationen, in der dann auch der einzelne Mensch an jenem Fortschreiten empfangend (oder auch leidend) und mitwirkend seinen größeren oder kleineren Anteil hat. Wir sehen dem Fortschritt nicht bloß zu, sondern wir selbst schreiten vor oder fort. Das ist es, was die Sache lebenswichtig und zugleich verantwortlich macht. — Gibt es auch einen kirchlichen Fortschritt, so ist zu fragen: ob und inwie­fern es auch in seinem Sinne liegt, daß der Mensch, das Menschengeschlecht und in seiner Mitte die ein­zelnen Menschen als Subjekt und Träger des Fort­schritts anzusprechen sind.

Das sind die Fragen nach dem Sinn des kirchlichen Fortschritts, auf die ich kurz Antwort zu geben ver­suchen möchte.

I.

Es dürfte zur Beantwortung der Frage nach dem konservativen und revolutionären Moment des kirch­lichen Fortschritts wichtig sein, sich über die Zeit klar zu sein, innerhalb derer der hier in Betracht kom­mende Fortschritt Ereignis ist. Die Zeit der Kirche ist nicht identisch mit der vermeintlich oder wirklich unendlichen Zeit im allgemeinen. Sie ist auch nicht irgendeine Zeit innerhalb dieser Zeit. Sondern wer der Kirche nicht unwissend, sondern wissend angehört, der weiß auch dies: daß er nicht nur Zeitgenosse im allgemeinen und irgendeiner, z. B. der heutigen Zeit, sondern Genosse der besonderen Zeit der Kirche ist. Deren Besonderheit begründet sich aber auf die be­sondere Art, in der sie begonnen hat und in der sie abgeschlossen werden wird. Sie besteht in ihrer Be­sonderheit als Zwischenzeit zwischen jenem Anfang und diesem Abschluß. Es ist aber der Anfang der Zeit der Kirche die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in seiner Auferstehung von den Toten Er­eignis wurde. Ohne dieses geschehene Ereignis und anders als im dankbaren Rückblick auf dieses Er­eignis hat es nie Kirche gegeben und wird es nie Kirche geben. Und es ist der Abschluß der Zeit der Kirche wieder die Offenbarung Gottes in demselben Jesus Christus, wie sie in seiner Wiederkunft Er­eignis werden wird. Ohne dieses künftige Ereignis und anders als im hoffenden Ausblick darauf war nie Kirche und wird Kirche nie sein können. Sie lebt und webt darin, daß sie die Zeit erkennt und nützt als Zwischenzeit zwischen diesen beiden Ereig­nissen.

Und nun ist es einerseits so, daß sie in dieser Zwischenzeit, von jenem Anfang her zu diesem Ende hin, zwischen der Auferstehung Jesu Christi und seiner Wiederkunft wie zwischen den beiden unbeweglichen Säulen der göttlichen Geduld ihre begrenzte Zeit ha­ben darf: Zeit, das zu sein, was sie nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, sein muß; Zeit, dem Worte Gottes, durch das sie ins Dasein gerufen ist, Glau­ben zu schenken; Zeit, es denen, die es noch nicht gehört haben, zu verkündigen; Zeit, in diesem doppelten Werk fortzuschreiten, nämlich vorwärts zu schreiten, in immer neuen Zeitteilen und also immer wieder anders dasselbe eine zu sein und zu tun, wozu sie berufen und geschaffen ist. In diesem Sinn redet schon das Neue Testament zwar stark (besonders in den Pastoralbriefen) von einem Festhalten und Be­wahren, aber ebenso stark und offenbar nicht im Widerspruch damit auch von einem „Fortschreiten“ (prokóptein), noch lieber und häufiger freilich von einem „Wachsen“ (auxánein) der Gemeinde und der einzelnen Christen: von einem Wachsen in der Er­kenntnis (Kol. 1,10), im Glauben (1. Thess. 1, 3), in der Gnade (2. Petr. 3, 18), in den „Früchten der Gerechtigkeit“ (2. Kor. 9, 10) oder kurzum: „in allen Stücken“ (Eph. 4, 15), von einem „Wachsen“ des Wortes Gottes selbst sogar (Apostelgesch. 6, 7; 12, 24; 19, 20), worunter vermutlich doch nicht nur die quan­titative Zunahme seiner Hörer zu verstehen ist. In diesem Sinn hat im 5. Jahrhundert der südgallische Mönch Vinzenz von Lerinum in seinem „Merkbuch“ von einem notwendigen profectus religionis ge­redet, in welchem es geschehen müsse, daß sowohl der einzelne wie die ganze Kirche je in ihrem Alter oder Jahrhundert in Erkenntnis, Wissenschaft und Weis­heit wirklich weiterkäme, und zwar weit und lebhaft weiterkäme (multum vehementerque proficiat): nämlich in dem einen, in der einen durch die Offen­barung ein für allemal gegebenen Meinung und Richtung. Könne es sich um Neuerung nie handeln, so müsse es sich doch immer wieder handeln um Er­neuerung: um neue Erklärung, Anwendung, Vertei­digung des der Kirche anvertrauten Glaubensgutes. Wir haben es hier offenbar mit der Kontinuität, mit dem konservativen Sinn des kirchlichen Fort­schritts zu tun: mit der Seite dieses Vorgangs, nach der ihn Vinzenz (im Blick auf den biblischen Begriff des Wachsens mit Recht) der Entfaltung einer in der notwendigen Veränderung notwendig sich selbst gleichbleibenden Pflanze verglichen hat. Welche Kon­tinuität irgendeines anderen Fortschritts wäre so ge­sichert, wie es die des kirchlichen Fortschritts ist? Unter den Zeichen der göttlichen Geduld am Anfang und Ende ihres Weges, geleitet durch die Dankbar­keit, in der hier rückwärts, und durch die Hoffnung, in der hier vorwärts geblickt wird, mutz der Fort­schritt in der Kirche bestimmt immer auch diesen Sinn haben. Sofern die Kirche, unter jenen Zeichen stehend, ihre begrenzte Zeit haben darf, wird der kirchliche Fortschritt immer auch schlicht darin be­stehen, daß in immer neuen Variationen eines und dasselbe geschieht, geglaubt und verkündigt wird, nicht in der Beharrlichkeit menschlicher Trägheit, sondern in der Beschwingtheit, aber auch in der Treue, die in der Ordnung der Zeit, in welcher die Kirche Kirche ist, ihren Grund, ihre Möglichkeit und ihre Orien­tierung hat. Kirchlicher Fortschritt, der nicht unter allen Umständen auch diesen konservativen Sinn hätte, würde kirchlicher Fortschritt zu heißen nicht wohl beanspruchen können.

Aber die Sache hat eine andere Seite. Daß die Kirche in jener Zwischenzeit lebt, das bedeutet nun doch auch dies: daß ihre Zeit eine begrenzte Zeit ist. Geht es um Gottes Offenbarung am Anfang und Ende ihres Weges, ist also das Leben der Kirche auf diesem ihrem Wege ein Schreiten von Offenbarung zu Offenbarung, dann bedeutet das, daß etwas, was anders ist als alle Zeit und als alles, was in der Zeit ist, nahe herbeigekommen ist, die auf jenem Wege Schreitenden zur Aufmerksamkeit nötigt und in Anspruch nimmt, ihrem Schreiten, ihrem Fort­schritt nun doch auch den Sinn eines Fort-Schreitens aus einer zurückbleibenden Weltzeit hinein in die schon gekommene und wiederkommende Gotteszeit gibt. Was also unter dem einen Aspekt unbedingt ein kontinuierliches Wachsen sein muß, das muß unter dem anderen ebenso unbedingt ein vielfaches Ab­brechen und Neuanfangen sein. Unter dem Gesichts­punkt, daß in Christus das Alte vergangen, alles neu geworden ist (2. Kor. 5,17), unter dem Gesichtspunkt, daß die beiden Zeichen am Anfang und Ende des Weges der Kirche nicht mehr und nicht weniger als das Ende aller Dinge, den Anbruch eines neuen Him­mels und einer neuen Erde anzeigen, — unter diesem Gesichtspunkt wird dasselbe Neue Testament, das den Fortschritt als Wachstum verkündigt, auf einmal eilig, dringlich, um nicht zu sagen drohend: jetzt heißt es daß wir darum nicht müde werden, weil „ob unser äußerer Mensch verdirbt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert“ (2. Kor. 4, 16). Jetzt wird aber auch gefordert: „Ziehet den alten Menschen mit seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Eben­bild dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol. 3, 9f.; Eph. 4, 22 f.). Weil auch das wahr ist, daß wir zwar Zeit haben, aber bald keine Zeit mehr haben werden, darum muß es in der Kirche mitten in der Evo­lution immer auch Revolutionen geben, genauer ge­sagt: Reformationen, d. h. Erneuerungen, Wieder­herstellungen von Grund aus, Rückgriffe, bzw. Vor­griffe auf den Grund und das Ziel der Kirche in Jesus Christus, radikale Besinnungen auf jenes Eine, im Wechsel der Zeiten Beharrende, das nun doch so einfach, wie Vinzenz von Lerinum es sich ge­dacht hat, der Kirche nicht zur Verfügung steht, das vielmehr nach einem Worte Calvins in „vielen Auferstehungen“ der Kirche neu geschenkt, aber auch von der Kirche selbst immer neu erbetet, erkannt, erobert werden muß. Geleitet durch die Dankbarkeit und die Hoffnung, wird der kirchliche Fortschritt — welcher andere Fortschritt könnte so grundsätzlich revolutio­när sein wie er? — notwendig immer von solchen Reformationen herkommen, noch mehr: solchen Re­formationen entgegengehen. Immer in diesem Her­kommen und Entgegengehen, immer in den damit verbundenen Opfern und Verlusten, aber auch Trö­stungen und Siegen, immer in solchem vorläufigen Neuwerden — im Ausblick auf das schon geschehene und noch kommende ewige Neuwerden aller Dinge — lebt die Kirche. Kirchlicher Fortschritt muß, um zu sein, was er heißt, auf alle Fälle auch diesen refor­matorischen Sinn haben.

II.

Unsere zweite Frage lautete: ob und inwiefern das Problem des Fortschritts zum Besseren auch zum Sinn des kirchlichen Fortschritts gehören möchte? ob und inwiefern wir also dieses Problem auch hier grundsätzlich offen lassen müssen, nur von Fall zu Fall diskutieren können? — Wenn ich hier die Ant­wort gleich vorwegnehme und sage, daß dem hier nicht so ist, daß kirchlicher Fortschritt grundsätzlich auf alle Fälle und also fraglos ein Fortschritt zum Besseren ist, dann muß ich freilich auch sofort dar­über Auskunft geben, an welchem Maßstab messend man zu dieser Einsicht kommen kann und muß. Das Gute, um das es in der Kirche geht, und Las in der Kirche der Maßstab des Besseren und Schlechteren ist, ist nicht das Gute einer Idee der Kirche: der Idee einer innerlich und äußerlich vollkommenen, einer in ihrer Lehre reinen und überzeugenden, in ihrer Or­ganisation wirkungsvollen, in ihren Gliedern muster­haften, in ihrer Tätigkeit nach außen erfolgreichen (z. B. in der Verbesserung der Welt erfolgreichen!) Kirche — einer Idee, der sich dann der kirchliche Fort­schritt anzunähern hätte, um Fortschritt zum Bes­seren zu sein. Würden wir mit diesem Maßstab messen, dann wäre es allerdings allzu kühn, zu be­haupten, daß der kirchliche Fortschritt notwendig Fort­schritt zum Besseren ist. Wir müssen vielmehr nüch­tern damit rechnen, daß die Kirche, gemessen an diesem Maßstab, nicht nur nicht im Fortschritt, sondern im Rückschritt begriffen ist. Ihr ist von Anfang an ge­sagt, daß ihr viele, und zwar zunehmende innere und äußere Niederlagen, Verwirrungen, Beschämungen, verdiente und unverdiente Anfeindungen und Ab­fälle, Reinigungen radikalster und schmerzlichster Art, die, an jenem Maßstab gemessen, nur wie lauter Ka­tastrophen erscheinen können, bevorstehen. Und wie könnten wir uns die Augen davor verschließen, wie das wahr geworden ist und wie es immer neu wahr wird. Wir können und dürfen aber nicht mit diesem Maßstab messen, wenn wir nach dem kirchlichen Fort­schritt fragen. Denn daß das Gute, um das es in der Kirche geht, das Gute jener Idee sei, das ist ihr nun gerade nicht gesagt. Sondern die Kirche steht als Ganzes und in allen ihren Gliedern unter dem Wort Johannes des Täufers: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen“ (Joh. 3, 30). Ihr ist gesagt, daß es in ihr um den guten, aber auch verborgenen Willen und Weg Gottes geht, dem sie zu dienen hat, indem sie darauf gefaßt ist, die Ehre ihres eigenen Willens und Weges immer wieder, ja sogar immer mehr verlieren und also immer wieder und immer mehr verzichten zu müssen, wohlverstanden: um nun gerade so rechte, vollkommene Kirche zu sein. Ihr ist gesagt, daß es in ihr um den Glauben, um das Wort und um die Werke des Glaubens geht, in denen sie nun einmal wohl gehorsam, wohl getreu, wohl streng und eifrig sein muß, mit denen sie aber gerade keine Idee realisieren wollen kann, damit sie eben in diesem Verzicht den Glauben ganz allein und eben damit den Willen und Weg Gottes verkündige, bis es diesem gefällt, seine Herrlichkeit wieder zu offenbaren, wie sie schon offenbart worden ist. Und ihr ist gesagt, daß sie der Leib Jesu Christi auf Erden ist und also ihr Haupt und damit ihre Heiligkeit. Gerechtigkeit und Weisheit, damit ihr Leben, ihre Kraft und ihren Sieg im Himmel und also ihr Existenzrecht auf Erden nur darin hat, eben den auf dieser Erde von den Juden Verworfenen als Israels Messias und eben den auf dieser Erde von den Heiden Gekreuzigten als den Heiland der Welt zu bezeugen: ohne den Anspruch, daß dabei für sie selbst etwas anderes herauskomme als dies, daß sie vor Juden und Heiden in großer Blöße und Verachtung dastehen muß, um eben da­mit jetzt schon herrlich zu sein in ihm, weil er ja eben das, als was sie ihn bezeugt, wirklich ist. Das ist das Gute, um das es in der Kirche geht, und daran will der kirchliche Fortschritt gemessen sein.

Weil dem so ist, darum ist zu sagen, daß der kirch­liche Fortschritt auf alle Fälle und unter allen Um­ständen ein Fortschritt — genau genommen geradezu der Fortschritt — zum Besseren ist. Wir verstehen jetzt unter kirchlichem Fortschritt das, was wir vor­hin als das Wachsen der Kirche in dem einen, das sie begründet und erhält, und als die Erneuerungen, die Reformationen, in denen sie auf dieses eine zu­rückgreift und vorgreift, kennen gelernt haben. Selbst­verständlich geschah und geschieht in der Kirche vieles — auch an vielleicht sehr sichtbaren und eindrucksvollen Bewegungen und Veränderungen —, was wie Fort­schritt aussieht, was vielleicht den Charakter von allerlei kulturellem und technischem Fortschritt auf kirchlichem Gebiet auch tatsächlich hat, was aber mit kirchlichem Fortschritt, mit jenem Wachsen, mit jenen Erneuerungen nichts zu tun hat. Und wo kirchlicher Fortschritt gar nicht ist, da kann selbstverständlich auch von einem Fortschritt zum Besseren nur so, nur in jener grundsätzlichen Fragwürdigkeit die Rede sein, in der man allerhand sonstigen Fortschritt als Fort­schritt zum Besseren bezeichnen kann. Wo aber jenes Wachsen, wo jenes Sicherneuern stattfindet, wo die Bewegungen und Veränderungen in der Kirche vor dem Kriterium standhalten, daß der gute Wille und Weg Gottes in ihnen geehrt, daß das Wort und Werk des Glaubens in ihnen getan, daß Jesus Christus in ihnen bezeugt wird — gerade in jenem Verzicht auf die Realisierung der Idee einer vollkommenen Kirche —, da ist der kirchliche Fortschritt eindeutig und un­zweifelhaft ein Fortschritt vom Schlechteren zum Bes­seren. Da bedeutet jeder Schritt vorwärts als solcher auch einen Schritt aufwärts. Man wird streng ge­nommen nie sagen können, daß mit einem solchen kirchlichen Fortschritt irgend etwas gut geworden wäre oder werden könnte. Man wird dies darum nicht sagen können, weil das Gute, um das es in der Kirche geht, immer jenes Verborgene, jenes von der Kirche als solcher nicht zu Realisierende, jenes Himmlische ist, weil es immer Jesus Christus selber ist. Man wird aber, ganz streng genommen, sagen müßen, daß mit jedem solchen kirchlichen Fortschritt etwas besser geworden ist. Es gibt in der Zeit zwischen Christi Auferstehung und Wiederkunft das, was Lu­ther im Untertitel seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ als „des christlichen Standes Besserung“ bezeichnet hat. — Und nun darf und muß man das geradezu als Kriterium ansehen gegenüber allem, was sich als kirchlicher Fortschritt ausgibt: Lebt und denkt und redet und handelt man da — nicht nur in der Meinung, nicht nur in der vagen Hoffnung und Vermutung, sondern in der Gewißheit, nicht nur irgendeinen allgemeinen und darum fragwürdigen, sondern in dem beschriebenen Sinne einen Fortschritt zum Besseren zu vollziehen? Hat man dabei die Zuversicht — eine vorbehaltlose, nicht irrezumachende Zuversicht, damit des christlichen Stan­des Besserung zu dienen? Und kann man es in dieser Zuversicht ertragen, unterdessen in jeder an­deren Hinsicht des Stillstandes, ja des Rückschrittes sich beschuldigen lassen zu müssen und eine direkte Recht­fertigung dieser Anklage gegenüber nicht einmal zur Hand zu haben? Kann man es in dieser Zuversicht ertragen, allein durch den Glauben gerechtfertigt zu sein in seinem Denken, Reden und Tun? Dann trägt die Sache ihren guten Namen nicht umsonst. Dann ist da kirchlicher Fortschritt. Wo dem nicht so ist, wo die Gewißheit des Denkens, Redens und Tuns von Wenn und Aber umgeben und also keine Gewißheit ist, wo man zwar kann, aber im Grunde auch anders könnte, weil man des Besseren, das man zu tun vor­gibt, als des real Besseren doch nicht sicher ist, — da soll man von kirchlichen Bewegungen und Verände­rungen, da soll man aber lieber nicht von kirchlichem Fortschritt reden. Kirchlicher Fortschritt muß, um zu sein, was er heißt, bestimmt auch diesen Sinn: den Sinn des Fortschritts zum Besseren haben, und für diesen Sinn muß man, wo es um kirchlichen Fortschritt geht, einstehen und sich verantworten können.

III.

Unsere dritte Frage gilt dem Subjekt und Träger des kirchlichen Fortschritts. Kann man auch von ihm sagen, daß der Mensch, die Menschheit und die Men­schen es sind, die den Fortschritt vollziehen? — Man kann auf diese Frage darum nicht mit Za oder Nein antworten, weil die Bibel, an die wir uns in dieser ganzen Sache wohl oder übel halten müssen, den Be­griff eines in sich abgeschlossenen Menschen, der an sich und für sich Subjekt und Träger von allerlei Prädi­katen und so auch des kirchlichen Fortschritts sein könnte, überhaupt nicht kennt. Es gibt in der Bibel weder ein Volk Israel mit israelitischen Menschen, abgesehen davon, daß Gott dieses Volk erwählt und sich selbst mit ihm verbündet hat, noch auch eine Kirche mit christlichen Menschen, abgesehen davon, daß sie die Versammlung derer ist, die nach 1. Petr. 1, 3 durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten wieder­geboren sind zu einer lebendigen Hoffnung, also ab­gesehen davon, daß Gott ihr Vater ist, sie seine Kin­der sind. Es gilt in weiterem Sinn sogar von den Heiden außerhalb Israels und der Kirche, daß auch sie nur im Bereich der Verheißungen und Drohungen und jedenfalls unter der Herrschaft Gottes existieren. Es gibt wohl eine biblische Anthropologie, aber keine sozusagen in sich selbst begründete biblische Anthro­pologie. Wenn die Weihnachtsbotschaft, die nicht nur die Mitte, sondern das Geheimnis der ganzen Bibel bildet, dahin lautet, daß das Wort Gottes Fleisch wurde, so bedeutet das, daß eben die schon geschehene und noch zu erwartende Offenbarung Gottes darin besteht, daß wir nicht allein sein sollen, sondern daß nach jenem jesajanischen Worte „Gott mit uns“ ist: Immanuel! Aber eben: das ist Gottes am Anfang geschehene und am Ende zu erwartende Offenbarung, das ist Jesus Christus. Das ist also nicht die in der Zwischenzeit lebende Kirche, das find auch nicht die in der Kirche lebenden Menschen an sich und als solche. Wenn sie es auch sind, dann find sie es darauf hin, daß Jesus Christus es ist. Sie sind es dann da­mit, daß sie an ihn glauben. Sie sind es dann nach den neutestamentlichen Ausdrücken „durch ihn“ oder „mit ihm“ oder noch stärker „in ihm“. Unter den beiden Zeichen der Geduld, aber auch des Eifers Got­tes hat ja die Kirche, haben ja die Menschen in der Kirche ihre Zeit. Und so haben sie ihr Leben in dem, der ihre Zeit in seinen Händen hält.

So verstanden können und müssen wir wohl sa­gen, daß der Mensch Subjekt und Träger auch des kirchlichen Fortschritts ist. Der Mensch: das ist zu­nächst der Mensch in der Kirche als der Versammlung derer, die den Ruf der Offenbarung vom Anfang und vom Ende her schon gehört haben, die zur Dankbar­keit und zur Hoffnung schon erwacht sind. Hier, in der Kirche, findet jenes Wachsen, finden jene Er­neuerungen statt, hier jenes Schreiten vom Schlechten zum Besseren. Aber nun hört ja die Kirche diesen Ruf nicht nur, sondern sie nimmt ihn auf und wieder­holt ihn, sie richtet ihn an alle Menschen. Sind in dieser Zuwendung und Erwartung nicht alle Men­schen schon einbezogen auch in den kirchlichen Fort­schritt? Gehört er nicht mit zu der großen Freude, die allem Volke widerfahren soll? Geschieht nicht jetzt schon aller kirchliche Fortschritt auch für die, die als dessen direkte Subjekte und Träger jetzt noch nicht anzusprechen sind? Aber wie man dieses Verhält­nis auch interpretieren möge, das ist sicher, daß jenes Wachsen und Sicherneuern, daß die Teilnahme an dem guten Willen und Werk Gottes, daß der Glaube, daß das Gliedsein am Leibe Christi, daß das reale Gehen vom Schlechteren zum Besseren und also das Vollbringen des kirchlichen Fortschritts im Neuen Testament ganz ungescheut wirklichen lebendigen und an sich gar nicht außerordentlichen Menschen — nicht Engeln, nicht irgendwelchen Übermenschen — son­dern gewöhnlichen Menschen allen Ernstes zugespro­chen wird. Man wird schon daran festhalten müssen, daß hier wirkliche Menschen in wirklichem Fortschritt begriffen sind und daß damit jedenfalls die Verhei­ßung wirklichen Fortschritts auch dem ganzen Men­schengeschlecht gegeben ist. Man kann wohl sagen: viel selbstverständlicher, viel bestimmter wird hier der Mensch als Subjekt und Träger des Fortschritts in Anspruch genommen, viel wichtiger wird es ihm hier gemacht, an ihm beteiligt zu sein, viel verant­wortlicher wird er hier für diese Teilnahme in An­spruch genommen als in jedem anderen allgemeinen Fortschrittsbegriff, wo es bei aller vordergründlichen Selbstverständlichkeit, mit der vom Menschen die Rede ist, im Hintergründe manchmal doch dunkel so zu sein scheint, daß eigentlich nicht der wirkliche Mensch, son­dern nun doch nur so etwas wie eine Idee des Men­schen, der Geist der Menschheit oder dergleichen es sei, dem der Fortschritt zuzuschreiben ist.

Die Kraft der Inanspruchnahme des wirklichen Menschen für den kirchlichen Fortschritt liegt aber ge­rade darin, daß das Leben dieses wirklichen Men­schen hier durch Christus, mit Christus, in Christus als unter die Geltung des „Gott mit uns“ gestellt, verstanden wird. Eben der wirkliche Mensch lebt nicht für sich, um dann im letzten Augenblick zu einer Idee des Menschen oder zu einem Geist der Menschheit seine Zuflucht nehmen, d. h. aber in Wirklichkeit doch allein sein zu müssen. Der wirkliche Mensch ist das laut der Weihnachtsbotschaft Fleisch gewordene, das Gott vor allen Menschen und alle Menschen vor Gott ver­tretende ewige Wort und in diesem Wort jeder, der es hört und annimmt, im voraus jeder, der es Horen und annehmen wird. Dieser wirkliche Mensch: Jesus Christus mit Einschluß aller Seinigen, mit Einschluß aller derer, die von der in ihm erschienenen freien Gnade leben wollen, mit Einschluß aller derer, die durch ihn, den Sohn, sich rufen lassen, Gottes Kinder zu sein, Jesus Christus als das Haupt im Himmel mit Einschluß der Kirche als seines Leibes auf Erden — dieser wirkliche Mensch ist das Subjekt und der Träger des kirchlichen Fortschritts. Er wächst. Er erneuert sich von Tag zu Tage. Er schreitet vom Schlechteren zum Besseren. „Er wächst“, wie es Ko­losser 2, 19 in merkwürdigem Ausdruck heißt, „das Wachstum Gottes“ (αὔξει τὴν αὔξησιν τοῦ θεοῦ). Wie sollte es anders sein? Welches andere Wachstum sollte hier in Betracht kommen? Aber er, der wirk­liche Mensch, wächst. Wir wachsen. Jeder in der Kirche darf sagen: Ich wachse. Jeder, der sich zur Kirche rufen lasten wird, wird sagen dürfen: Ich wachse. Als Kirche Jesu Christi wächst tatsächlich die Kirche selbst: so wie sie wächst und also in jener Verborgen­heit, in jener Knechtsgestalt, in jenen Beschämungen, Niederlagen und Bedrängnissen, die, mit jenen an­deren Maßstäben gemessen, ihr Abnehmen, ihren Untergang bedeuten müßten, aber sie selbst wächst, im Ganzen und in allen ihren Gliedern. Wir finden das in einem jener unheimlich geladenen Sätze des Epheserbriefs (4, 15 f.) beschrieben mit den Worten: „Lastet uns, die Wahrheit in Liebe festhaltend, in allen Stücken Hinanwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus. Und von ihm her vollbringt der ganze Leib durch alle sich unterstützenden Gelenke zusammen­gefügt und zusammengehalten nach der jedem ein­zelnen Gliede zugemessenen Wirksamkeit sein Wachs­tum zu seiner eigenen Auferbauung in der Liebe.“ Darum, um die Erneuerung in Christus, um die Be­tätigung der Teilnahme an seiner Auferstehung, die die Teilnahme auch an seiner Wiederkunft begründet — darum geht es auch immer, wenn es um jene Er­neuerungen, jene Reformationen der Kirche geht. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ (2. Kor. 5, 17). In diesem und nur in diesem Sinn haben z.B. die Reformatoren des 16. Jahrhunderts geopfert, was sie geopfert und gewagt, was sie ge­wagt haben. — Und das dürfte das dritte und ent­scheidende Kriterium alles dessen sein, was sich im Großen oder Kleinen für kirchlichen Fortschritt hält: Kann und wird es sich verantworten, bezeugen und bewähren als ein Stück dieses Wachstums, als ein Beispiel solcher Erneuerung? Man wird es nicht jedem angeblichen Fortschritt auf den ersten Blick an­sehen, ob er kirchlicher Fortschritt in diesem Sinn ist oder nicht ist. Aber er wird so oder so Früchte brin­gen, und an diesen Früchten wird man ihn erkennen. Er wird nämlich Jesus Christus in seiner Kirche und damit auch in der Welt größer und kleiner ma­chen. Er wird die Menschen um Christus sammeln oder von Christus weg zerstreuen. Er wird sie zur Dankbarkeit gegen ihn und zur Hoffnung auf ihn aufwecken oder er wird sie zu allerlei anderer Dank­barkeit und Hoffnung schlafen legen. Er wird sie ent­weder ihre Zeit verstehen lehren als seine Zeit oder er wird sie dazu anleiten, mit ihrer Zeit umzugehen, als ob sie ihnen gehörte. In der Anfechtung der Kirche wird es an den Tag kommen, ob sie wirklich oder nur scheinbar im Fortschritt begriffen ist. Das ist sicher, daß der kirchliche Fortschritt zuletzt und zuhöchst eben diesen Sinn hat, das Werk des in Jesus Christus wirklichen, wirklich gewordenen und wieder wirklich werdenden Menschen zu sein.

Vortrag, gehalten im Bernoullianum in Basel am 18. Dezember 1938.

Quelle: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 95. Jg., Nr. 4, 16. Februar 1939, S. 51-53 u. Nr. 5, 2. März 1939, S. 65-68.

Hier der Text als pdf.

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