Helmuth James Graf von Moltke im Brief an die Ehefrau Freya (Januar 1945): „Der entscheidende Satz jener Verhandlung war: ‚Herr Graf, eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten ge­meinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Men­schen.‘ Ob er sich klar war, was er damit gesagt hat? Dann wird Dein Wirt ausersehen, als Protestant vor allem wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert und ver­urteilt zu werden, und dadurch steht er vor Freisler nicht als Protestant, nicht als Großrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher – das alles ist ausdrücklich in der Hauptverhandlung ausgeschlossen, sondern als Christ und als gar nichts anderes.“

Nun kann mir nichts mehr geschehen (Brief an die Ehefrau Freya)

Von Helmuth James Graf von Moltke

Tegel, den 10.1.1945

Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, dass das hysterisch klingt: Ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die 2 Tage so fest und klar geführt: Der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es im Jesaja 43,2 heißt: Und so Du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen und die Flam­me soll dich nicht versengen. – Nämlich Deine Seele. Mir war, als ich zum Schlusswort aufgerufen wurde, so zu Mute, dass ich beinahe gesagt hätte: Ich habe nur eines zu meiner Verteidigung anzu­führen: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fah­ren dahin, sie haben’s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben. Aber das hätte doch die anderen noch belastet. So sagte ich nur: Ich habe nicht die Absicht [noch etwas?] zu sagen, Herr Präsident.

Was haben wir gestern Schönes gelesen. „Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwengliche Kraft sei Gottes und nicht von uns. Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht. Uns ist bange, aber wir ver­zagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht ver­lassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Und tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf dass auch das Leben des Herrn Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ Dank, mein Herz, vor allem dem Herrn, dank, mein Herz, Dir für Deine Fürbitte, Dank allen anderen, die für uns und für mich gebeten haben. Dein Wirt, Dein schwa­cher, feiger, „komplizierter“, sehr durchschnittlicher Wirt, der hat das erleben dürfen. Wenn ich jetzt gerettet werden würde – was ja bei Gott nicht wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist als vor einer Woche so muss ich sagen, dass ich erst ein Mal mich wieder zurechtfinden müsste, so ungeheuer war die De­monstration von Gottes Gegenwart und Allmacht. Er vermag sie eben auch zu demonstrieren, und zwar ganz unmissverständlich zu demonstrieren, wenn er genau das tut, was einem nicht passt. Alles andere ist Quatsch.

Darum kann ich nur eines sagen, mein liebes Herz: Möge Gott dir so gnädig sein wie mir, dann macht selbst der tote Ehewirt gar nichts. Seine Allmacht vermag er eben auch zu de­monstrieren, wenn Du Eierkuchen für die Söhnchen machst.

Ich kann Dir nur eines sagen: Wenn Du das Gefühl absolu­ter Geborgenheit erhältst, wenn der Herr es Dir schenkt, was Du ohne diese Zeit und ihren Abschluss nicht hättest, so hinterlasse ich Dir einen nicht konfiszierbaren Schatz, demgegenüber selbst mein Leben nicht wiegt. Diese Römer, diese armseligen Kreatu­ren von Schulze und Freisler und wie das Pack alles heißen mag: Nicht ein Mal begreifen würden sie, wie wenig sie neh­men können!

[…] Der entscheidende Satz jener Verhandlung war: „Herr Graf, eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten ge­meinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Men­schen.“ Ob er sich klar war, was er damit gesagt hat? […]

Dann wird Dein Wirt ausersehen, als Protestant vor allem wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert und ver­urteilt zu werden, und dadurch steht er vor Freisler nicht als Protestant, nicht als Großrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher – das alles ist ausdrücklich in der Hauptverhandlung ausgeschlossen, so z.B. Sperr: „Ich dachte, was für ein erstaunlicher Preuße“ –, sondern als Christ und als gar nichts anderes. […]

Und nun, mein Herz, komme ich zu Dir. Ich habe Dich nir­gends aufgezählt, weil Du, mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst als alle die anderen. Du bist nämlich nicht ein Mit­tel Gottes, um mich zu dem zu machen, der ich bin, du bist viel­mehr ich selbst. Du bist mein 13tes Kapitel des ersten Korin­therbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. Ohne Dich hätte ich mir Liebe schenken lassen, ich habe sie z.B. von Mami angenommen, dankbar, glücklich, dankbar wie man ist für die Sonne, die einen wärmt. Aber ohne Dich, mein Herz, hätte ich „der Liebe nicht“. Ich sage garnicht, dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, dass mir das fehlt; denn hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, mein liebes Herz, so hätte ich vieles nicht tun kön­nen, so wäre mir so manche Konsequenz unmöglich gewesen, so hätte ich dem Leiden, das ich ja sehen musste, nicht so zu­schauen können und vieles andere. Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor einigen Tagen symbolisch schrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Da­rum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tat­sache, die haben wir schließlich auch noch durch unser gemein­sames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.

Ich habe ein wenig geweint, eben, nicht traurig, nicht weh­mütig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor Dank­barkeit und Erschütterung über diese Dokumentation Gottes. Uns ist es nicht gegeben, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, aber wir müssen sehr erschüttert sein, wenn wir plötzlich erkennen, dass er ein ganzes Leben hindurch am Tage als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und dass er uns erlaubt, das plötzlich, in einem Augenblick, zu sehen. Nun kann nichts mehr geschehen.

Quelle: Helmuth James Graf von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, hrsg. v. Beate Ruhm von Oppen, München: C. H. Beck 32006, S. 619ff.

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