Rolf Wischnath, Grüne Zweige und die Sehnsucht. Warum sind die grünen Zweige in der Kirche grün?: „Und die abgerissenen Zweige und die ausgehauenen Bäume haben mithin ihren Sinn: Die ge­schlagenen und gescheiterten Menschen, die Armen und Schwachen, die Opfer und Verlierer, die am Boden liegen – manche denken: kaputte Typen, der letzte Dreck, nur noch für die Mülltonne. Auch hier ist es wie mit den geschlagenen Bäumen und den grünen Zweigen: Wenn man sie ins Licht holt und ihnen gibt, was sie zum Leben brauchen, schmücken sie. Wie sie haben auch die versehrten Menschen Glanz und unzerstörbare Würde – und eine Sehn­sucht im Leib.“

GRÜNE ZWEIGE UND DIE SEHNSUCHT. WARUM SIND DIE GRÜNEN ZWEIGE IN DER KIRCHE GRÜN?

Von Rolf Wischnath

Weihnachten muss sein. Wer kann sich diesem Fest entziehen? Es wird in der Welt verschie­den gefeiert – sehr verschieden. Und doch gehören überall die grünen Zweige in die gute Stu­be. In Deutschland sind es Weihnachtsbäume: Tannen oder Kiefern als weihnachtliche Leitkul­tur. Aber warum müssen es eigentlich immer und überall grüne Zweige sein?

Schon hundertfünfzig Jahre vor Christi Geburt sind in der Heimat Jesu, in Israel, die grünen Zweige der Palmen Zeichen jüdischer Freiheits- und Gerechtigkeitshoffnung. Die Brisanz die­ser grünen Zweige belegt die Geschichte einer Münze:

Sie zeigt ursprünglich das Bild des Königs Herodes, Statthalter von Roms Gnaden über das be­setzte Galiläa. Für jeden Juden ist dieses Tyrannenbild ein Gräuel. Während des jüdischen Freiheitsaufstandes, der 66 nach CHRISTUS begann, überprägen sie darum das Gesicht des Herodes auf den Münzen mit den grünen Zweigen ihrer Sehnsucht: mit einer Palme aus acht Wedeln. Sie tun es wohl drei Jahre lang. Der römische Kaiser Titus, der den Aufstand blutig niederschlägt, zieht dann dieses Geld wieder aus dem Verkehr. Und statt III. Jahr der Wieder­geburt Israels steht auf seinen Münzen nun das schmähliche Juda besetzt. Und das Gesicht des neuen Unterdrückers, das Christen und Juden nur als Fratze der Unmenschlichkeit anse­hen konnten, ersetzt die grünen Zweige.

Durch die Jahrhunderte hindurch hat sich der Brauch der grünen Zweige aus Anlass der Weih­nacht als des Geburtstagsfestes des Juden JESUS erhalten – multikulturell. Christen glauben, dass seine Geburt die Zeitenwende ist. Denn der ewige Gott höchst selbst kommt in ihm zur Welt. Der menschgewordene Gott ist unsere Hoffnung. Und die grünen Zweige sind Ausdruck unserer Sehnsucht:

Denn wegen dieses JESUS aus Bethlehem lassen wir uns die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Überwindung der Armut und nach politischen und sozialen Bedingungen für ein Leben in Würde für alle nicht ausreden. Um Gottes Willen gibt es hier keine Ausrede!

Und dafür stehen die grünen Zweige: Jeder Mensch ist Mensch, nicht der eine mehr, der an­dere weniger, nicht der eine wertvoll, der andere unwert. Wie bei den grünen Zweigen in aller Welt, mag es unterschiedliche Grüntöne und Pflanzenarten geben. Aber jeder Zweig ist grüner Zweig. Und jeder Mensch ist Mensch. Er hat nicht nur einen Wert, sondern unantastbare Würde.

Und die abgerissenen Zweige und die ausgehauenen Bäume haben mithin ihren Sinn: Die ge­schlagenen und gescheiterten Menschen, die Armen und Schwachen, die Opfer und Verlierer, die am Boden liegen – manche denken: kaputte Typen, der letzte Dreck, nur noch für die Mülltonne. Auch hier ist es wie mit den geschlagenen Bäumen und den grünen Zweigen: Wenn man sie ins Licht holt und ihnen gibt, was sie zum Leben brauchen, schmücken sie. Wie sie haben auch die versehrten Menschen Glanz und unzerstörbare Würde – und eine Sehn­sucht im Leib.

Oft fällt es schwer die Adventszeit und Weihnachten zu feiern, – sehr schwer. Muss ich die Länder aufzählen, in denen Krieg und Ungerechtigkeit, Verletzungen und Hunger, Katastro­phen und Unglück regieren? Das muss ich nicht. Wir alle kennen die Namen der Elendsorte. Und es wäre schon zynisch, wenn ich diese Namen nur herholte, um meine Adventspredigt zu gestalten. Aber ich weise hin auf ein düsteres Kapitel hierzulande:

Es ist der immer mehr wachsende Rechtsextremismus und das immer verderblicher werdende Gift gegen die Flüchtlinge. Die Freiheit und die Einheit unseres Landes steht auf dem Spiel. Eben auch in Deutschland, wo es eigentlich mit der sozialen Situation und dem Wohlstand im Weltmaßstab am ehesten glimpflich und gut steht, wird immer mehr rechtsradikal gewählt. Ja, es gibt viel Niedergeschlagenheit und Depression. Angesichts persönlicher Niederlagen und der Erfahrungen des Ärmer-Werdens in den Sozialbereichen, angesichts von Gewalt, Rechts­extremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ost und West ist für nicht wenige Deutsche die Visi­on von der umfassenden Befriedung und Wohlfahrt der Menschen, die Hoffnung auf Brüder­lichkeit und Solidarität zwischen Nahen und Fernen, zwischen Farbigen und Weißen, zwischen Ost und West geschwunden. Manche meinen gar, alle Zukunftsvisionen seien endgültig über Bord zu werfen.

Aber genau gegen dieses sich Abfinden, gegen diese Resignation feiern wir Weihnachten mit den grünen Zweigen mitten im kalten Winter. Sie sind öffentlicher Widerspruch gegen die angepasste und denkfaule Bequemlichkeit, es sei nun einmal das je Vorhandene und Unzu­längliche eben für uns das Ganze und Endgültige. Ja, jeder grüne Zweig und Baum ist Symbol des Widerstands gegen alle Resignation und Zeichen der tätigen Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden. Darum feiern wir Weihnachten, weil wir uns die Vision von der gleichen Würde für alle Menschen unter Gottes Himmel bewahren wollen. Denn Gott hat die Würde jedes Menschen selbst in Geltung gesetzt in seiner Menschwerdung in dem Juden JESUS von Naza­reth:

Zu Recht heißt es im berühmten deutschen Weihnachtslied: O Tannenbaum, o Tannenbaum, dein Kleid will mich was lehren: Die Hoffnung und Beständigkeit gibt Mut und Kraft zu jeder Zeit! Es ist die Hoffnung auf die Treue Gottes und die Beständigkeit seiner menschenfreundli­chen Zuwendung, die immer wieder Mut und Kraft gibt.

Wir sollten daran denken, wenn wir in diesen Advents- und Weihnachtstagen den grünen Baum schmücken oder grüne Zweige in die gute Stube rücken und wenn wir dann wieder die Lichter auf ihnen anzünden: Alles beginnt mit der Sehnsucht, sagt die deutsch-jüdische Dichte­rin Nelly Sachs [1891 in Berlin geboren und 1970 im schwedischen Exil gestorben]. Und wo die Sehnsucht bleibt, da bleibt nichts, wie es ist.

Quelle: Rolf Wischnath, Stückwerk ist unser Erkennen. Elementares, Gütersloh 2024, S. 84f.

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