Martin Luther, Auslegung zu 5. Mose 6,4–9 (1525): „Wenn er daher sagt: Der HERR, dein Gott, ist ein einiger HERR, so nimmt er alles falsche Vertrauen hinweg. Wenn er sagt: Du sollst den HERRN lieb haben, so regt er an zu einem fröhlichen und freien Dienst gegen Gott. Denn wenn ich Gott liebe, so will ich in Wahrheit alles, was Gott will; so ist mir auch nichts lieber, als das zu hören und zu tun, was Gott will, wie auch die fleischliche Liebe tut gegen den geliebten Gegenstand. So empfangen wir durch die Einheit mit Gott im Glauben alles umsonst von Gott; durch die Liebe tun wir gegen Gott alles umsonst.“

Auslegung zu 5. Mose 6,4–9 (1525)

Von Martin Luther

V. 4. Höre, Israel, der HERR, unser Gott, ist ein einiger HERR.

Du siehst, dass er das erste Gebot selbst in bejahender Weise (affirmative) auslegt, nämlich, dass ein HERR sei. Denn es wird hier der aus vier Buchstaben bestehende Name (Tetragram­maton, das ist JHWH) gesetzt, welcher Gott allein eigen ist. Er handelt aber diese Einheit Gottes im Geiste; das heißt, er hat nicht sowohl das im Auge, dass Gott einer sei, als vielmehr, dass er von uns für einen einigen gehalten werde, da uns ja daraus, dass ein Gott ist, kein Nutzen entspringt. Wenn wir ihn aber für einen und für unsern Gott halten (wie er hier sagt), das ist das Leben und die Seligkeit und die Erfüllung aller Gebote.

So sagt Jakob 1. Mos. 28,21: „Der HERR soll mein Gott sein.“ Wie soll der HERR sein Gott sein? Ist er es denn zuvor nicht gewesen? Dies sagt er mir aus dem Grunde, dass er sich vorsetzte, allein den HERRN als seinen Gott zu haben mit gewissen Zeremonien (ritu) und einer Art der Gottesverehrung. So wird Gott und ändert sich, je nachdem sich unser Herz gegen ihn ändert, wie es Ps. 18,26–27 heißt: „Bei den Heiligen bist du heilig, und bei den Verkehrten bist du verkehrt.“ So erhebt sich der Antichrist über jeden Gott; das heißt, er wird einen eigenen Gottesdienst einsetzen, welchen er über allen wahren und falschen Gottesdienst aller Götter erhöhen wird, weil niemandes Wort mehr gefürchtet und angebetet wird als das seine.

Es ist also die erste Erklärung Moses vom ersten Gebot diese, dass der HERR, unser Gott, für einen HERRN zu halten sei; das heißt, dass er nicht mit immer anderen Gottesdiensten verehrt werden soll, die von uns erfunden sind, sondern allein mit dem, welchen er eingesetzt hat.

V. 5. Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen usw.

Die zweite Erklärung des ersten Gebots; denn die erste, eben gegebene, betrifft den Glauben. Denn niemand kann einen Gott haben, wenn er nicht allein an ihm hängt und ihm allein vertraut; sonst wird er zu mancherlei Werken hingerissen werden und sich verschiedene Götter erdichten. Die zweite, welche aus der ersten folgt, betrifft die Liebe. Denn wenn wir alles Vertrauen auf ihn setzen, an ihm hängen und erkennen, dass alles von ihm herfließe und dass er sich unser sorglich annehme, dann folgt notwendigerweise eine süße Liebe gegen ihn.

Darum gebraucht er die verneinende Redeweise in dem Gebot: „Du sollst nicht andere Götter haben“, als ob er sagen wollte: Es ist vonnöten, dass du dich selbst verleugnest und an dir verzweifelst, damit du nicht viele Götter machest, dass du einen Gott habest; denn die Natur kann nicht anders als Abgötterei treiben.

Wenn er daher sagt: Der HERR, dein Gott, ist ein einiger HERR, so nimmt er alles falsche Vertrauen hinweg. Wenn er sagt: Du sollst den HERRN lieb haben, so regt er an zu einem fröhlichen und freien Dienst gegen Gott. Denn wenn ich Gott liebe, so will ich in Wahrheit alles, was Gott will; so ist mir auch nichts lieber, als das zu hören und zu tun, was Gott will, wie auch die fleischliche Liebe tut gegen den geliebten Gegenstand. So empfangen wir durch die Einheit mit Gott im Glauben alles umsonst von Gott; durch die Liebe tun wir gegen Gott alles umsonst.

Aber dass er hinzufügt: „von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen“, das ist so schwer, dass, wenn nicht Gott vergäbe, es kein Heiliger erfüllen könnte. Ja, wer ist da, der nicht an beiden Stücken Mangel hätte, sowohl in dem, dass er einen Gott haben soll, als auch in dem, dass er ihn lieben soll? Denn es ist niemand, der nicht bisweilen im Glauben wanke und andere Dinge zugleich mit Gott liebe.

Das beweisen die Früchte. Denn wenn ich Gott von ganzem Herzen liebte, so würde mich nichts mehr verletzen, als dass die Gebote Gottes verachtet werden, wie Paulus dies in den Briefen an die Korinther und an die Galater beklagte, da er sah, dass die Ehre Gottes mit Füßen getreten werde. Aber wo sind die Leute, welche beweinen, dass der Name Gottes so in der ganzen Welt mit Füßen getreten wird?

„Von ganzem Herzen“ bedeutet: von Grund des Gemütes und mit ganzem Gemüte; „von ganzer Seele“: mit dem ganzen leiblichen (animalischen) Leben; „von allem Vermögen“, das ist, mit allen Kräften und Gliedern, wovon ich anderswo genug gesagt habe. Nicht dass wir keine anderen Dinge lieben sollten, da alles, was Gott gemacht hat, sehr gut und liebenswert ist, sondern dass man in der Liebe Gottes und den Dingen, die Gottes sind, nichts gleichstellen oder vorziehen soll und die Liebe aller Dinge dahin gedrungen werde, dass die Liebe gegen Gott völlig werde. Hieraus merke, wie verkehrt diejenigen sind, welche ihre Satzungen und Aussprüche so streng erzwingen, aber zulassen, dass Gottes Gebote so vernachlässigt werden.

V. 6–9. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen usw.

Nicht bloß in dem Buche, nicht bloß in Gedanken, sondern im innersten Gemüte, so dass sie dir der höchste Schatz seien; denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein. Es soll also in deinem Herzen nichts regieren als der Glaube und die Liebe gegen Gott. Darüber soll dein Herz Tag und Nacht nachdenken, Ps. 1,2. Denn wenn sie in solcher Weise zuerst im Herzen sind, dann kann die rechte Folge nicht ausbleiben, dass sie auch in deinem Munde seien.

„Und sollst sie deinen Kindern schärfen“, das heißt, täglich sollst du sie wiederholen und einbläuen, damit sie nicht matt und kalt werden und vom Rost verzehrt werden. Dann wird folgen, dass du überall und immer von ihnen redest. Endlich sollst du sie auch als ein Denkmal auf deine Hand binden und vor die Augen. Zuletzt sollst du sie an die Pfosten schreiben.

Siehe die Ordnung, wie man Gottes Wort handeln soll: Erstlich soll man es im Herzen bedenken; zweitens den Kindern treulich und anhaltend mit dem Munde einschärfen; drittens öffentlich und überall reden; viertens zeichnen auf die Hand und vor Augen malen; zum fünften und letzten schreiben, und zwar an die Pfosten und Tore des Hauses, nicht in Bücher, weil Moses selbst sie schon in ein Buch geschrieben hat. Hier übergehe ich diese heimlichen Deutungen, dass das Zeichnen der Gebote auf die Hand und das Stellen derselben vor Augen bedeute, dass man sie im Werke erfülle und sie betrachte. Er will einfach, dass uns diese Worte überall entgegentreten und im Gedächtnis sein sollen.

Du wirst wahrnehmen, dass Moses diese Ermahnung nicht zu den anderen Geboten setzt, sondern nur zu dem ersten und zu seiner Erklärung: dass sie im Herzen sein sollen, dass man sie schärfen, reden, zeichnen und schreiben soll, damit du wissest, dass das erste Gebot das Maß und die Regel für alle anderen sei, denen sie weichen und gehorsam sein müssen. Als: Wenn es dem Glauben und der Liebe gemäß ist, sollst du töten wider das fünfte Gebot, gleichwie Abraham 1. Mos. 14,15 die Könige tötete und der König Ahab sündigte, dass er den König von Syrien nicht tötete, 1. Kön. 20,34ff. So steht es auch mit dem Diebstahl, so mit Hinterlist und Trug wider die Feinde Gottes, so mit dem Raube, Gütern, Weibern, Töchtern, Söhnen, Knechten der Feinde. So sollst du Vater und Mutter hassen, dass du den HERRN liebest.

Kurz: wo irgend etwas wider den Glauben und die Liebe wäre, da sollst du nichts davon wissen wollen, dass es noch irgendein anderes Gebot gebe, weder von Gott noch von Menschen. Wo es aber dem Glauben und der Liebe gemäß wäre, sollst du wissen, dass die Gebote in allen Dingen und überall da sind; denn der Ausspruch steht fest: „Diese Worte sollen in deinem Herzen sein“ – da sollen sie regieren. Ferner: Wenn sie nicht auch im Herzen wären, so könnte sicherlich niemand diese verschiedene Anwendung je nach den Umständen (hanc epiikian) verstehen noch befolgen, noch könnte er jemals der Gesetze heilsamlich und sicher und recht gebrauchen, wie auch Paulus sagt 1. Tim. 1,9: „dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist“, darum, weil (1. Tim. 1,5) die Erfüllung des Gesetzes Liebe aus einem guten Herzen und ungefärbtem Glauben ist, welche des Gesetzes recht gebraucht, indem sie keine Gesetze hat und alle Gesetze hat: keine, weil keine Gesetze binden, wenn sie nicht dem Glauben und der Liebe dienen; alle, weil alle binden, wenn sie dem Glauben und der Liebe dienen.

Es ist also die Meinung Moses an dieser Stelle: Wenn du das erste Gebot recht verstehen willst und in Wahrheit keine anderen Götter haben, so halte dich dermaßen, dass du den einigen Gott glaubest und liebest, dich selbst verleugnest, alles umsonst empfangest und alles umsonst tust.

Aus der Vorlesung über das Deuteronomium (1523/24), abgedruckt in WA 14, 607-612.

Hier der Text als pdf.

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