Helmut Schmidt, Regierungserklärung zur Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Dr. Hanns-Martin Schleyer durch Terroristen (September 1977): „Wir werden entschlossen den inneren Frieden und die politische Stabilität der Bundesrepublik be­wahren. Wir brauchen dazu in diesen Tagen viel an innerer, selbstauferlegter Disziplin, sogar Gelas­senheit. Ich weiß, dass dies für viele schwer ist. Für mich selbst ist es auch schwer. Aber diese Selbstbe­herrschung ist ein notwendiger Ausdruck unserer Gesinnung und unserer Verantwortung.“

Regierungserklärung zur Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Dr. Hanns-Martin Schleyer durch Terroristen (1977)

Von Helmut Schmidt, Bundeskanzler

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Weder die Bürger unseres Staa­tes noch ihre gewählten Repräsentanten im Deut­schen Bundestag erwarten heute, daß ich Auskunft über Schritte gebe, die wir für sinnvoll und geboten halten, um für Hanns Martin Schleyer die Freiheit zurückzugewinnen. Aber jedermann hat einen An­spruch auf ein verantwortliches Wort des Bundes­kanzlers.

Dabei respektiere ich den Wunsch der Opposition, bei meiner Erklärung die für heute vorgesehen ge­wesenen Themen der Außenpolitik, des Wachstums und der Beschäftigung auszuklammern, wenngleich es sich dabei um Fragen von entscheidender Be­deutung für unser Gemeinwesen handelt.

Ich beschränke mich auf die unmittelbare Not­lage. Dabei will ich auf Ursachen und Hintergründe des Terrorismus, auf dessen Bekämpfung, auf die Vorbeugung, auf die notwendige geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus jetzt nicht eingehen. Ich will heute morgen keinerlei Anlaß zur Kontroverse bieten.

Mir liegt am Herzen, zunächst Millionen Deut­scher zu danken, die in diesen Tagen an Hanns Mar­tin Schleyer und an seine Familie denken, insbeson­dere auch denjenigen zu danken, die das Handeln des Staates mit Vertrauen begleiten und die ihren gewählten Abgeordneten und den staatlichen Re­präsentanten mündlich und brieflich ihr Vertrauen ausgedrückt und ihren Rat angeboten haben.

Ich schließe in diesen Dank auch die Redaktionen in den Medien ein, von denen ein hohes Maß an Zurückhaltung und Kooperationsbereitschaft erwar­tet, aber in den meisten Fällen auch tatsächlich ge­leistet worden ist.

Besonderer Dank gilt den Angehörigen der Poli­zei, der Justiz und der anderen für unsere Sicherheit tätigen Organe. Diese in gefährlichen Berufen Täti­gen haben unser Vertrauen und unsere Solidarität.

Ich erwähne in diesem Zusammenhang aber auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden, die Mitglie­der des Deutschen Bundestages, die — ob Opposition oder Koalition — in diesen Tagen der Bundesregie­rung und den betroffenen Landesregierungen mit Ratschlag und mit Entschußkraft zur Seite stehen.

Die betroffenen Ministerpräsidenten, ihre Landes­minister und die Bundesregierung haben bisher, alles in allem, ein heute über zehn Tage andauerndes hohes Maß an enger Abstimmung miteinander erreicht. Ich vertraue darauf, daß diese allseitige Zusammenarbeit bis zur Lösung der schlimmen Zwangslage andauern wird, in die uns das terrori­stische Verbrechen gebracht hat.

Die Mordanschläge und die Entführung richten sich gegen ihre unmittelbaren Opfer, richten sich aber zugleich auch — darin ist dem Präsidenten des Bundestages beizupflichten, der dies heute vor einer Woche in der Trauerbekundung des Deutschen Bun­destages so gesagt hat — gegen unsere freiheitliche Ordnung im Ganzen, gegen jede menschliche Ord­nung überhaupt, und sie richten sich damit gegen jeden einzelnen von uns.

Deshalb stehen wir auch tatsächlich zusammen. Die Bundesregierung und die vier Ministerpräsiden­ten konnten sich bei allem, was in den letzten zehn Tagen zu entscheiden, zu tun oder zu unterlassen war, jeweils auf die einmütige Meinung derjenigen stützen, die uns in dieser Sache regelmäßig ihren Rat leihen.

Dies geschieht übrigens nicht, um Verantwortung zu verwischen; das wäre ein Mißverständnis. Es handelt sich nicht darum, die notwendigen Entschei­dungen auf so viele Schultern zu verteilen, daß nachträglich die Verantwortlichkeit nicht mehr er­kennbar wäre. Vielmehr finden wir es angesichts des schweren Verbrechens und angesichts der Be­deutung des Lebens des einzelnen selbstverständlich, gemeinsam nachzudenken, gemeinsam zu beraten — unabhängig von unserer persönlichen Zugehörig­keit zu verschiedenen Verfassungs- und Staatsorga­nen, zu verschiedenen Parteien und verschiedenen Bundestagsfraktionen. Das haben wir zur Zeit der Entführung unseres Kollegen Lorenz so gehalten, das haben wir im Falle des Anschlages auf unsere Stockholmer Botschaft so gehalten, und dies ist auch heute und morgen so der Fall.

Die eben erwähnten früheren Geiselnahmen — wie auch z. B. die Geiselnahme durch ausländische Terroristen zur Zeit der Olympiade in München — geschahen alle unter jeweils verschiedenen Umstän­den. Wir haben inzwischen rund 70 Fälle von Gei­selnahme in anderen Staaten der Welt sorgsam ana­lysiert, die mit Nötigung oder Erpressung gegen die jeweilige Regierung verbunden gewesen sind. Aus den gewonnenen Erkenntnissen ergibt sich, daß — von einer Ausnahme abgesehen — Regierungen nicht im Vorwege Regeln für ihr Verhalten aufstel­len oder gar veröffentlichen können, sondern daß sie sich in jedem einzelnen Falle verantwortlich ent­scheiden müssen. Diese Verantwortung heißt: nichts zu versäumen und nichts zu verschulden.

Nicht immer lassen sich diese beiden Maximen miteinander vereinbaren. Aber sie gelten sowohl für die Bundesregierung als auch für die Landesregie­rungen; sie gelten für Journalisten genauso wie für Politiker; sie gelten ebenso für jeden Bürger: nichts zu versäumen und nichts zu verschulden.

Die Erregung über die Morde in Karlsruhe, im Taunus, in Köln und über die Entführung des Herrn Schleyer ist allenthalben in unserem Volk, sie ist ebenso im Auslande zu spüren. Zu jeder Stunde ist uns am Beratungstisch gegenwärtig, was unsere Mit­bürger empfinden. Wir sind selbst tief erregt. Es braucht sich deshalb niemand zu sorgen, daß wir in unseren Überlegungen vernachlässigen könnten, was außerhalb unserer Beratungen gedacht und empfun­den wird. Buchstäblich niemand braucht sich darum zu sorgen. All unser Sinnen und Planen ist darauf gerichtet, eine Lösung und ein Ergebnis zu erreichen, die mit unseren sittlichen und rechtlichen Grundüber­zeugungen und mit unserem Glauben an die Grund­werte einer freiheitlichen Gesellschaft übereinstim­men. Wir werden an dieser Linie festhalten.

Vor zwei Jahren habe ich bei einem ähnlichen Verbrechen gesagt, wir seien bereit, bis an die Gren­zen dessen zu gehen, was uns der Rechtsstaat er­laubt und was er uns gebietet. Es entspringt dieser Bereitschaft, daß wir in der gegenwärtigen Lage nicht nur die wegen terroristischer Gewalttaten rechtskräftig Verurteilten, sondern auch die solcher Aktivitäten dringend Verdächtigen, also Strafge­fangene ebenso wie Untersuchungsgefangene — und wessen Urteil noch nicht rechtskräftig ist, ist auch noch Untersuchungsgefangener —, während dieser Tage auch von dem Verkehr mit ihren Verteidigern abgeschnitten haben. Mehrere Gerichte haben dies gutgeheißen. Ein anderes Gericht hat an der Recht­fertigung dieser durch Landes- und Bundesbehörden verfügten Maßnahme gezweifelt. Uns erscheint die­ser Schritt zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für Menschenleben als eine im Augenblick unab­weisbare Notwendigkeit.

Uns erreichen vielerlei Ratschläge, die über solche Maßnahmen weit hinausgehen wollen, bis hin zu dem Vorschlag von Repressionen und Repressalien, die sich gegen das Leben einsitzender Terroristen richten. Ich will dem Bundestag dazu meine Über­zeugung nicht verhehlen: Androhen kann man nur, was man auch tatsächlich ausführen will und was man tatsächlich ausführen darf.

Drohungen mit Schritten, die unsere Verfassung brechen würden, sind deshalb untauglich. Die Mit­glieder der Bundesregierung und auch ich selbst haben vor dem Bundestag geschworen, das Grund­gesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen. Ich habe den festen Willen, diesem Eid zu gehorchen.

Gleichzeitig will ich ebenso deutlich erklären, daß ich zur Erörterung jedes ernsthaften Rechtsgedankens, der uns in bezug auf zukünftige Gesetzge­bung vorgetragen wird, bereit bin. Es ist klar, daß solche Erörterungen einerseits nur in Verantwor­tung für das Ganze und nur auf dem Fundament der tragenden Eckpfeiler unseres Grundgesetzes möglich sind; es ist andererseits klar, daß sie auch streitig geführt werden können, wenn der Zeitpunkt für solche Erörterungen gekommen sein wird.

Wir alle werden dabei den Staat nicht auf den Weg zu jenem Ende drängen lassen, welches die Terroristen unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung zugedacht haben. Der Staat, den sie für ohnmächtig halten, den sie zu unterminieren trachten, dieser Staat ist keineswegs ohnmächtig. Er wird am Ende den Terrorismus besiegen, weil die breitesten Massen unseres Volkes den Terrorismus verabscheuen.

Wir können uns auch auf innere Zustimmung und tatsächliche Kooperation, auf öffentlich be­kundete Zustimmung und Hilfsbereitschaft anderer Staaten stützen. Unsere Partnerstaaten im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft haben hin­sichtlich der Meinungsfreiheit eine ähnliche Grund­struktur wie wir selbst. So, wie wir ertragen müssen, daß ekelhaft-zynische Schmähschriften bei uns ge­druckt und verbreitet werden können, ehe es zur Strafverfolgung kommt, so gibt es dergleichen auch im Ausland.

Einige ausländische Zeitungen haben sich anläßlich der terroristischen Verbrechen besonders der geistigen, der geistig-politischen Lage in Deutsch­land zugewandt. Es mag hier und da, wie gestern eine unserer Zeitungen schrieb, die Neigung geben, die als ungeheuerlich empfundenen terroristischen Taten nicht nur einem extremistischen Wahnsinn zur Last zu legen, sondern, wie es dort hieß, einem deutschen Wahnsinn überhaupt, der periodisch aus­bräche. In solche Feuer werden wir kein Öl schütten. Wir haben das auch im Falle der Flucht Kapplers nicht getan. Wir verurteilen Verbrechen, die 1944 in Italien oder 1977 in Deutschland begangen wor­den sind, mit der gleichen Abscheu. Wir verurteilen den Bruch der Rechtsordnungen unserer Partner ebenso wie einen Bruch unserer eigenen Rechtsord­nung.

Die Tat von Köln ist Mord. Die Täter sind Mör­der. Ein Mord, bei dem behauptet wird, er diene einem politischen Zweck, bleibt nichtsdestoweniger Mord. Die Vorstellung der Terroristen, sie führten einen „Krieg“, wie sie sagen, ist eine absurde Vor­stellung. Die Bundesregierung will ihrer Überzeu­gung getreu das Recht bewahren. Sie will keine — wie sie es nennen — „militärische“ Lösung; sie will, dem Auftrag des Grundgesetzes gemäß, das Recht bewahren und weiteres Blutvergießen vermeiden. Deswegen haben wir auf indirekten Wegen Kon­takte mit den Entführern hergestellt; wir werden diese Kontakte mit Geduld und mit Beharrlichkeit fortsetzen.

In diesen Tagen haben herausragende Personen aus unserem Geistesleben und aus den Kirchen an die Entführer appelliert, unter ihnen Bischof Moser von Rottenburg und Landesbischof Class. In ähnlicher Weise ist eindringlich appelliert worden an diejenigen, welche die Entführung unterstützt haben oder sie noch unterstützen. Ebenso ist appelliert worden an solche, die Sympathie geäußert haben. Ich kann Appelle nicht qualifizieren, die von der Ab­sicht getragen sind, die Entführer abzubringen von der Fortsetzung ihrer Untaten, die von der Absicht getragen sind, das Leben des Entführten zu retten. In vielen Fällen stammt der Appell von wahrlich kritischen Mitgliedern unserer Gesellschaft. Gleich­wohl. Wir wiederholen diesen Appell, wir wieder­holen diesen Aufruf: Beenden Sie Ihr irrsinniges Unternehmen!

Sie irren sich: Wir werden uns von Ihrem Wahn­sinn nicht anstecken lassen.

Sie halten sich für eine ausgewählte kleine Elite, welche ausersehen sei — so schreiben Sie —, „die Massen zu befreien“. Sie irren sich: Die Massen stehen gegen Sie.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie wollen die Funktionstüchtigkeit unseres de­mokratischen Gemeinwesens unmöglich machen, Sie wollen demokratische Politik schlechthin unmög­lich machen. Sie irren sich: Niemand im Bundestag, der die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht verteidigen wird!

Die Arbeit in unserem Lande geht weiter. Die Ar­beit des Parlaments und der Regierung geht weiter. Die Bundesregierung hat gestern wichtige haushalts-, finanz- und beschäftigungspolitische Beschlüs­se gefaßt. Wir haben lange daran gearbeitet. Wir werden uns von den Terroristen keine Vernachläs­sigung unserer Aufgaben, keine Untätigkeit auf­zwingen lassen.

Ich begrüße es deshalb, daß der Bundestag heute mit der Beratung der ihm vorgelegten wichtigen Steuervorlagen beginnen wird. Es ist selbstverständ­lich, daß es dabei nicht ohne parlamentarischen Streit abgehen kann. Es ist eine normale und zu­gleich eine zentrale Führungsaufgabe des Parla­ments in jeder Demokratie, streitig die verschiede­nen politischen Grundströmungen eines Volkes öf­fentlich vorzutragen und sodann den Streit durch Mehrheit zu entscheiden.

Dies wird auch zukünftig so bleiben. Aber ebenso — so vertraue ich — werden wir auch in Zukunft dann und dort zusammenstehen, wenn und wo es um die Abwehr einer uns alle gemeinsam bedrohenden akuten Gefahr geht.

Wir werden entschlossen den inneren Frieden und die politische Stabilität der Bundesrepublik be­wahren. Wir brauchen dazu in diesen Tagen viel an innerer, selbstauferlegter Disziplin, sogar Gelas­senheit. Ich weiß, daß dies für viele schwer ist. Für mich selbst ist es auch schwer. Aber diese Selbstbe­herrschung ist ein notwendiger Ausdruck unserer Gesinnung und unserer Verantwortung.

Am Schluß ein Gedanke an die Jüngeren. Wir Älteren, die Diktatur und Gewalt, Zuchthäuser und Vertreibung, Elend und Not erlebt haben, wir wis­sen, was Krieg ist. Deshalb haben wir gearbeitet für den Frieden. Deshalb arbeiten wir heute für den Frieden für den Frieden nach außen und für den Frieden nach innen.

Gewiß mögen wir Fehler machen. Gewiß mögen wir Versäumnisse begehen. Gewiß mögen die Er­gebnisse unserer Arbeit die Erwartungen von Jün­geren enttäuschen. Aber eines wissen wir — wir wissen es genau: Nie hat es in Deutschland für jun­ge Menschen so viele Rechte, so viel Freiheit, so viel soziale Sicherung, so viele Bildungs- und Le­benschancen gegeben, wie sie ihnen im Laufe der drei Jahrzehnte des Aufstiegs der zweiten deut­schen Demokratie eröffnet worden sind.

Lassen Sie uns den Jungen gemeinsam zurufen: Erwerben Sie auch innerlich Ihre demokratische Bürgerschaft in unserem Gemeinwesen, nehmen Sie sie an, um sie einzusetzen zur demokratischen Ge­staltung des zukünftigen Lebens Ihrer eigenen Generation! Gestaltung durch überzeugen — nicht durch Gewalt!

(Beifall)

Abgegeben in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestags vom 15. September 1977.

Quelle: BT-Plenarprotokoll 08/42, S. 3164B-3166D.

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